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Über Flugverbotszonen und den Missbrauch des Völkerrechts

“Auf dieses Signal hatten viele gewartet. Die Arabische Liga (AL) hat sich bei ihrem Sondertreffen zum Libyen-Konflikt … für eine Flugverbotszone über dem nordafrikanischen Land ausgesprochen.” So meldete “Spiegel online” am 12.03.2011 — und lag, was die angesprochenen Erwartungen betrifft, sicher richtig. Gewartet hatte die US- Regierung, die die Entscheidung ihrer regionalen Statthalter — lediglich die Vertreter Syriens und Algeriens schlossen sich dem Aufruf nicht an — begrüßte. “Die USA würden ihren Druck auf Gaddafi verstärken, die libysche Opposition unterstützen und sich auf alle Eventualitäten vorbereiten.” Gewartet hatten die Staats- und Regierungschefs der EU, die sich bereits auf ihrem Libyen- Sondergipfel am Freitag für ein militärisches Eingreifen aussprachen, “falls diese Optionen notwendig sind, eine klare Rechtsgrundlage haben und aus der Region heraus unterstützt werden". Gewartet hatte schließlich die Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments, das bereits am Donnerstag in einer Resolution u.a. die Einrichtung einer Flugverbotszone unterstützte. Das Papier war von Lothar Bisky mit eingebracht worden, dem dabei das makabere Kunststück gelungen war, sich gleichzeitig “gegen jegliche Militäreinsätze” zu wenden (jW 12./13. März 2011, S. 8).

Völkerrecht zur Legitimation imperialistischer Machtpolitik

All diesen Akteuren ist klar: Die Einrichtung einer Flugverbotszone ist ohne Einsatz militärischer Mittel nicht zu haben, bedeutet also Krieg gegen Libyen. Wegen der noch immer breiten Ablehnung militärischer Gewalt bedarf ein solcher Schritt einer tragfähigen Legitimation. Diese Legitimation soll der Verweis auf angebliche völkerrechtliche Legalität schaffen. Norman Paech: “Politische und moralische Begründungsversuche leiden unter dem Mangel einer universellen Anerkennung und dem … Verdacht, hinter ihrer Fassade andere politische und ökonomische Interessen zu verfolgen. Deshalb bedarf es einer Referenz, die außerhalb der nationalen Interessen und mit dem Ausweis der Universalität die Ansprüche an eine allgemein anerkannte Legitimation erfüllt. Dieses vermag allein das internationale Recht, welches in der UN-Charta die Forderung nach universeller Anerkennung einlösen kann. Deshalb fehlt in keiner Militärstrategie und keiner politischen wie wissenschaftlichen Abhandlung der Bezug auf das Völkerrecht und die UN-Charta. Selbst in den Fällen geplanter und offener Verletzung des Völkerrechts, wie in den beiden Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak, spielte der “Kampf um das Völkerrecht” sowohl in der Vorbereitung des Angriffs wie in der Folgediskussion um die Rechtfertigung eine zentrale Rolle.” Um diesen Schein der Legitimität zu zerstören, muss die radikale Linke den Kampf um das Völkerrecht vor allem dort aufnehmen, wo die Herrschenden außerhalb der Legalität operieren. Bei dem geplanten Krieg gegen Libyen ist dies der Fall.

Das Grundprinzip des Gewaltverbots

Ausgangspunkt für die Beurteilung bildet die UN-Charta, insbesondere die dort fixierten Grundprinzipien des Völkerrechts. An erster Stelle steht hier das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 der Charta:

“Alle Mitglieder enthalten sich in ihren internationalen Beziehungen der Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung, die gegen die territoriale Unverletzlichkeit oder politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder in irgend einer anderen Weise mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar ist.”

Das Gewaltverbot untersagt umfassend die Anwendung von Gewalt im Sinne physischer Machtmittel. Es greift nicht erst beim koordinierten Vorgehen von Streitkräften ein, sondern erfasst jeden Einsatz militärischer Gewalt (z.B. gewaltsame Grenzverletzungen, Einsatz bewaffneter Gruppierungen, die in einen anderen Staat eindringen, Förderung terroristischer Aktivitäten in einem anderen Staat) und geht damit weiter als das Verbot des Angriffskrieges. Flankiert wird das Gewaltverbot von den Prinzipien der friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Nr. 3), der Nichteinmischung (Art. 2 Nr. 7), der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker (Art. 1 Nr. 2), der souveränen Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Nr. 1), der friedlichen Zusammenarbeit (Art. 1 Nr. 3) und der Vertragstreue (Art. 2 Nr. 2). Diese Prinzipien bringen ersichtlich die elementaren Grundinteressen aller Staaten und Völker zum Ausdruck und schützen diese. Außerdem wurden sie ausnahmslos von sämtlichen Mitgliedern der UNO anerkannt. Sie nehmen deshalb innerhalb der Normen des allgemeinen Völkerrechts vereinbarungsgemäß eine besondere Stellung ein und besitzen gegenüber anderen Völkerrechtsnormen eine höhere Bedeutung und Wertigkeit. Zum einen haben sie zwingenden Charakter, d.h., Vereinbarungen, die den Grundprinzipien widersprechen, sind nichtig (Art. 53 S. 1, 64 Wiener Vertragsrechtskonvention [WVK]). Zwingend ist eine Norm des allgemeinen Völkerrechts, wenn sie von der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes als eine Norm angenommen und anerkannt wird, von der keine Abweichung erlaubt ist und die nur durch eine nachfolgende Norm des allgemeinen Völkerrechts, die denselben Charakter trägt, abgeändert werden kann (Art. 53 S. 2 WVK). Damit bilden die Grundprinzipien den rechtlichen Maßstab für die Schaffung, rechtliche Gültigkeit und Auslegung aller anderen Normen des Völkerrechts. Außerdem genießen die Grundprinzipien auch hinsichtlich der Erfüllungspflicht Vorrang gegenüber allen anderen Normen, ohne diese zu liquidieren (Art. 103 UN-Charta).

Humanitäre Intervention ohne UN- Mandat?

Hieraus folgt zunächst einmal die völkerrechtliche Illegalität von Bemühungen einzelner Staaten oder Staatengruppen — wie Frankreich und Großbritannien noch am Tag des EU- Sondergipfels zu Libyen — im libyschen Luftraum Flugverbotszonen zu installieren oder sonst militärisch zu intervenieren. Derartige Aktivitäten erlangen auch dadurch keine Rechtfertigung, dass sie als “humanitäre Interventionen” bemäntelt werden. Diese Figur, mit der schon versucht wurde, den Überfall auf Jugoslawien zu legitimieren, “… beruht auf der Etablierung einer neuen Hierarchie im Völkerrecht, die die Menschenrechte an deren Spitze stellt und darunter die staatliche Souveränität und das Gewaltverbot einreiht. Dieses Konzept spekuliert auf die Wiederbelebung des Naturrechts in Gestalt überpositiver Normen, denen sich das Völkervertragsrecht unterzuordnen hat. Allerdings ist dieser offensichtliche Rückfall in vergangene Zeiten in der Wissenschaft (zunächst, T.W.) zurückgewiesen und die allein relevante positivrechtliche Kodifizierung der Menschenrechte in völkerrechtlichen Verträgen betont worden. Für einen derart vertraglich begründeten Menschenrechtskodex gilt jedoch Artikel 103 UNO-Charta…. Daraus folgt eindeutig die Unterordnung der menschenrechtlichen Verträge unter zwingende Normen der UNO-Charta, wie das absolute Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 und die völkerrechtliche Unzulässigkeit einer “humanitären Intervention.” (Norman Paech) Zwar hat sich die Sicht insbesondere der beamteten deutschen Völkerrechtslehre auf die Zulässigkeit “humanitärer Interventionen” seit der Intervention der NATO im Kosovo maßgeblich verändert; so wird nunmehr propagiert, dass jedenfalls genozidartige oder sonstige systematische Tötungen und Vertreibungen von Bevölkerungsgruppen als Ausdruck staatlicher Politik ein einseitiges Einschreiten mit Waffengewalt rechtfertige. Aber selbst nach dieser — völkerrechtlich falschen — Auffassung liegen die Voraussetzungen für eine “humanitäre Intervention” in Libyen jedenfalls gegenwärtig nicht vor.

Eine aktuelle Begründungsvariante bei dem Versuch, das absolute Gewaltverbots der UN-Charta auszuhebeln ist die Berufung auf das Konzept der so genannten “Responsibility to protect” (Schutzverantwortung), aus der eine “Pflicht zur Intervention” in Fällen gemacht wird, in denen schwerste Verbrechen wie Völkermord und ähnlich schwere Verbrechen “identifiziert” werden. Norman Paech: “Mit dieser Figur wurde versucht, eine militärische Intervention mit UNO-Truppen in Darfur/Sudan durchzusetzen. Das Konzept stammt von der International Commission on Intervention and State Sovereignity (ICISS), die in den Jahren 2000/2001 von der Kanadische Regierung eingerichtet worden war. Sie sollte einen Ausweg aus der auch von UNO-Generalsekretär Kofi Annan anerkannten Unzulässigkeit der “humanitären Intervention” wie in Fällen von Ruanda und Srebrenica finden. Die Kommission sprach sich für eine Interventionsmöglichkeit in extremen und außergewöhnlichen Fällen aus. Dies macht aus der Responsibility allerdings noch kein Interventionsrecht für einzelne Staaten und Staatengruppen, selbst wenn das Konzept auch 2005 in einer Resolution der Generalversammlung anerkannt wurde. Denn die Durchbrechung des absoluten Gewalt- und Interventionsverbots in der UNO-Charta ist weder durch einen Kommissionsbericht noch durch eine Resolution der Generalversammlung möglich. Dazu bedarf es entweder der Änderung der Charta mit einer Zweidrittel-Mehrheit der Mitgliedstaaten oder einer gewohnheitsrechtlichen Änderung, die jedoch nur durch eine dauerhafte Praxis der Staaten eintreten kann.” Wegen des zwingenden Charakters des Gewaltverbots müsste diese geänderte Staatenpraxis allerdings “von der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzes” (Art. 53 S. 2 WVK), also von sämtlichen Staaten getragen werden. Nichts davon ist jedoch der Fall.

Humanitäre Intervention mit UN-Autorisierung?

Das Gegenstück zum absoluten Gewaltverbot der UN-Charta ist das Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrats. Ihm haben die Mitgliedsstaaten die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen (Art. 24 Nr. 1 UN-Charta). Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder ein Aggressionsakt vorliegt und erteilt Empfehlungen oder beschließt Maßnahmen, um den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen (Art. 39 UN-Charta). Dabei muss er zunächst nichtmilitärische Maßnahmen prüfen (Art. 41 UN-Charta). Sollte er der Auffassung sein, dass diese Maßnahmen unzureichend sein würden oder sich als unzureichend erwiesen haben, stehen ihm auch Maßnahmen militärischer Art zur Verfügung (Art. 42 UN-Charta). Sowohl bei der Beurteilung der Frage, ob eine der in Art. 39 genannten Voraussetzungen vorliegt als auch bei der Wahl der Maßnahmen verfügt der Sicherheitsrat über einen außerordentlich weiten Ermessensspielraum. Dieser Spielraum ist jedoch nicht unbegrenzt.

Militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats könnten hiernach dann völkerrechtlich gerechtfertigt sein, wenn Libyen einen Aggressionsakt begehen, also bewaffnete Gewalt gegen die Souveränität, territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates anwenden würde. Militärische Maßnahmen könnten außerdem gerechtfertigt sein, wenn eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens gegeben wäre. Bruch und Bedrohung des Friedens beziehen sich auf den Weltfrieden im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der UN-Charta. Ein Bruch des Friedens ist bei einer an den Zielen und Grundprinzipien der UNO-Charta orientierten Auslegung von Art. 39 der Charta ein mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen zwei oder mehreren Staaten. Eine Bedrohung des Friedens stellt eine Gefährdungslage im Vorfeld eines solchen Friedensbruchs dar. Erforderlich ist immer, dass die Situation eine staatenübergreifende Komponente in sich trägt. Seine in der ersten Hälfte der 1990er Jahre festzustellende — völkerrechtswidrige — Praxis, eine Bedrohung des Friedens auch bei nur innerstaatlichen Konflikten anzunehmen, sofern diese mit schweren Menschenrechtsverletzungen verbunden sind (z.B. Resolution 688 [1991] zum Schutz der irakischen Zivilbevölkerung, insbesondere der Kurden; 794 [1992] über das Eingreifen der UN in Somalia; 940 [1994] über militärische Maßnahmen zur Wiedereinsetzung des Präsidenten Aristide in Haiti oder 824 [1993], 836 [1993] und 844 [1993] über die Einrichtung von Schutzzonen in Bosnien- Herzegowina) hat der Sicherheitsrat nicht fortgesetzt; weder im Kosovo noch in Darfour noch in Myanmar hat er die Voraussetzungen für ein militärisches Eingreifen bejaht. Eine Auslegung von Art. 39 UN-Charta, nach der eine Bedrohung des Weltfriedens bei schweren Menschenrechtsverletzungen regelmäßig, also auch dann, wenn diese innerstaatlichen Charakter tragen gegeben ist kann sich also nicht auf eine entsprechende Praxis des Sicherheitsrats berufen.

Auch schwerste, systematische Menschenrechtsverletzungen können zu einer Bedrohung des Weltfriedens führen und dann ein militärisches Eingreifen des Sicherheitsrates begründen. So hat der Sicherheitsrat im Falle der Apartheidpolitik Südafrikas und Südrhodesiens eine Bedrohung des Weltfriedens bejaht. Auch Völkermord, also ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten kann mit einer Bedrohung des Weltfriedens einher gehen. Allein der Umstand, dass in Libyen Bürgerkrieg herrscht, reicht dagegen nicht aus, um militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats zu ermöglichen. Solche Maßnahmen wären allenfalls dann gerechtfertigt, wenn die libysche Regierung in diesem Bürgerkrieg schwerste, systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu verantworten hätte. Dies ist bisher jedoch nicht festgestellt worden. Hinzu kommt, dass derartige Menschenrechtsverletzungen allein für ein militärisches Eingreifen des Sicherheitsrats nicht ausreichen würden. Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 39 UN-Charta immer eine Bedrohung des Weltfriedens im oben dargestellten Sinne.

Keine der in Art. 39 UN-Charta genannten Voraussetzungen für militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats liegt gegenwärtig vor. Weder befindet sich Libyen in einem mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikt mit einem anderen Staat noch sind Umstände bekannt, die die Gefahr eines bewaffneten Konflikts Libyens mit einem anderen Staat begründen würden. Erst recht handelt Libyen nicht als Aggressor. Schwerste, systematische, eine Bedrohung des Weltfriedens darstellende Menschenrechtsverletzungen sind nicht festgestellt. Militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats gegen Libyen wären damit ebenfalls nicht vom Völkerrecht gedeckt, mithin illegal. Selbstverständlich ändert diese rechtliche Beurteilung nichts an der politischen Notwendigkeit, die Volksbewegung in Libyen und anderen arabischen Staaten mit allen Mitteln zu unterstützen. Kritisiert werden muss jedoch der Missbrauch des Völkerrechts zur Legitimation imperialistischer Machtpolitik. Und kritisiert werden müssen diejenigen, die glauben oder glauben machen wollen, dass eine revolutionäre Entwicklung durch die Intervention reaktionärer Kräfte befördert werden könnte.

Königs Wusterhausen, 16.03.2011

Thomas Winkler