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Zur Psychologie des Himmels und des Sozialismus

  1. Vom Himmel oben komm ich her

    Der christliche Himmel ist das ewige Elternhaus. Dort thront der ewige Vater, die ewige Mutter, ihr Sohn sitzt zur Rechten. Lämmer ergänzen das Bild. Dieses Elternhaus ist für den Christen deshalb ewig, weil es beständig im religiösen Kult reproduziert wird. Die “Wiederkehr des Herren” ist tatsächlich. Sie findet im täglichen Gebet, in den Kirchgängen, zu den Feiertagen des Jahreskreislaufs statt. Gestützt von diesen Argumenten stellt sich bald eine innere Gewissheit ein. Die Erklärung der Welt scheint gegeben, die Ordnung in ihr ausreichend verdeutlicht.

    Der ewige Vater ist vor allem ewig gütig, ewig treu und ewig beschützend. Er ist die Heimstatt, das leibhaftige Wunschschloss, die Fürsorge und der dauernde Trost. Der Himmel ist die heilige Familie mit all ihren Attributen.

    Der Christ findet in den religiösen Vorstellung zuerst eine geronnene Kindheit, ob tatsächlich oder idealisiert: Er glaubt an die ewige Kindheit an der Seite von Vater und Mutter. Die Kirche stellt sich als Familie dar, wo Liebe, Vertrauen und Schutz, wie für das einstige Kind, die Grundfesten seiner Existenz bestimmen. Das religiöse Gefühl ist demnach zuerst eine gestillte Sehnsucht. Das Individuum hat hier die Möglichkeit sein erlebtes Abgetrenntsein, seine Atomisierung aufzuheben. Glauben wird zuerst sozialisiert, quasi eingeimpft. Das zwingende Vertrauen der Kinder gegenüber den gegebenen Eltern wird zur zwanghaften Übernahme deren Weltbilder. Erst ab der Pupertät sind wir psychisch ernsthaft in der Lage eine Emanzipation vom Elternzwang auch weltanschaulich zu versuchen.

    Emanzipiert sich das Kind zum Erwachsenen, wird es gleichsam aus dem Paradies verstoßen, ins “wahre” Leben entlassen, auf sich selbst gestellt. Der Ernst des Lebens hat begonnen, die Nabelschnur ist abgerissen. Mit diesem Abgetrenntsein kommen in der kapitalistischen Gesellschaft allerdings noch besondere Erschwernisse hinzu.

  2. Die kapitalistische Überfamilie

    Im täglichen Leben muss sich zeigen, ob die ideelle Überfamilie, die sich zuerst und nur abstrakt als Gesellschaft definiert vom Individuum auch als Gemeinschaft erkannt wird. Ein Miteinander von Gegenseitigkeit wird in den Kernfamilien angeboten. Emotionale Erfüllung geschieht dann, wenn es den Eltern gelingt, Vertrauen, Solidarität und Liebe in eine Atmosphäre zu betten, die Sicherheit und Geborgenheit für das Kind erlebbar machen. Sicherheit und Geborgenheit sind menschliche Grundbedürfnisse. Ihr Stellenwert ist mit den Bedürfnissen nach Nahrung und Sexualität zu vergleichen. Ein defizitäres Erleben in den Bereichen Sicherheit und Geborgenheit hat nachhaltige und schwere Verhaltensstörungen zur Folge.

    Begibt sich der Mensch als Akteur in die Gesellschaft, ob als Lernender, Arbeiter oder Künstler prüft er die Gegenseitigkeit und Glaubwürdigkeit von Schutz und Wärme. Er verlässt den Schutzraum der Familie, um die Möglichkeiten seiner individuellen Existenz zu entfalten, sich selbst zu erschaffen. Dies kann er nur außerhalb dieser Schutzhülle. Es ist sinnbildlich die Vertreibung aus dem Paradis. Die Gesellschaft hält je nach ihrer historischen Seinsweise, also der sozioökonomischen Struktur ein Mehr oder Weniger an Freiraum für die Menschen bereit.

    In der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Profitorientierung und ihrer ungeheuren Produktivkraftentwicklung geschieht aber eine gnadenlose Versachlichung der Menschen und ihren Beziehungen. Die Menschen werden im Produktionsprozess Anhängsel der Maschine. Der Reiter wird vom Pferd geritten.

    Die Menschen stehen sich nicht nur als Eigentümer und Besitzer von Produktionsmitteln gegenüber, nicht nur als Produzenten und Konsumenten und so weiter, sondern sie verhandeln als direkte Konkurrenten ihr Geschick, ihre Wertigkeit, ihre Fähigkeit und persönliche Eigenschaften gegen andere. Hier wird nicht integriert sondern selektiert. Die Persönlichkeit im Kapitalismus verhält sich zu einer anderen wie das Bedürfnis des Gladiators gegenüber einem anderen, wenn es darum geht, heil aus der Arena zu kommen. Es bleibt dabei: Einer muss rausgetragen werden!

    Die Konkurrenz der Menschen untereinander, die sich als Waren erleben, sich “verraten und verkauft” fühlen, die sich als abhängig vom Anderen sehen und sich ausgeliefert fühlen, führt zu einem nicht geringen Bedürfnis nach Nähe und Verständnis, nach Vereinigung und Solidarität, nach einer Brücke zum anderen, nach einem Selbsterleben jenseits der Schlachtbank. Religion und die Gemeinschaft der Kirche sind neben anderen Fluchtpunkten (Vereine, Hobbys, Parteien) gern genutzte Agenturen des “Menschlichen”.

    Geborgenheit als Grundbedürfnis und soziale Sicherheit, das Befreitsein von den Nöten des Überlebenskampfes sind Hauptziele der menschlichen Emanzipation, Gegenstand tausender Kämpfe der jüngsten Geschichte, besonders der Arbeiterbewegung.

    Die kapitalistische Gesellschaft verhandelt alle ihre Verhältnisse als kapitalistische: Die Grundbedürfnisse des Menschen, wie Essen, Wohnen und Kleidung werden über den Tausch am kapitalistischen Markt realisiert. Die Lohnarbeit als Zwangsverhältnis ist eine wichtige Grundlage dafür. Sie widerspricht aber fundamental dem menschlichen Grundbedürfnis nach Gemeinschaft, nach Aufhebung der Einzelwesenheit.

    Das menschliche Gemeinschaftsbedürfnis steht also im Kapitalismus nicht wie in der idealen Familie unbedingt und sofort zur Verfügung, sondern widerspricht den ökonomischen Gesetzen des Marktes (allenfalls als Reproduktionsfunktion schlägt sie zu Buche), der die Verdinglichung des Menschen vorantreibt und jede Gemeinschaft entweder zu einer Notgemeinschaft der im “Geiste armen” macht oder zu einer Bande zügelloser Ausbeuter, die sicherstellen, dass es wenigstens ihnen an nichts fehlt, dass sie auf beiden Beinen die Arena verlassen. Dass die Reichen dann trotzdem unglücklich sein sollen, will zwar niemand glauben und Mitleid will sich nirgends einstellen, aber sollten wir bedenken, dass der Beginn der modernen Psychologie gerade durch diese Klientel ihren Anfang nahm, als Freud sich anschickte die Neurosen der Mittel- und Oberschicht zu erkunden. Denn auch hier dominiert, wie in fast allen gesellschaftlichen Räumen außerhalb der Familie eine gnadenlose Selektion.

  3. Mann gegen Mann oder einer wird verlieren

    Nur die persönlichen Fähigkeiten, die sich auf dem Markt verwerten lassen, sich in Wert ausdrücken lassen, sichern das Überleben, d.h. ihren Grad an mehr oder weniger sozialer Sicherheit im gesellschaftlichen Gefüge. Hier wird das Wenig für viele zur Voraussetzung für das Mehr der Wenigen. Charakterkrüppel sind bei diesen Konstellationen unausweichlich.

    Defizitäres Erleben, beispielsweise der Mangel an Luxus, Kultur, Wohnraum, Bildung und Kleidung, der Mangel an Identitätserleben in der Arbeit, die Verhinderung des persönlichen Vorankommens (Umsetzung persönlicher Lebensziele), schließlich die bald offene, bald versteckte Repression gegen alle Tendenzen, die der kapitalistischen Seinsweise widersprechen, gehört zum ständigen psychosozialen Repertoire der kapitalistischen Massenpsychologie, ebenso wie Angst, Einsamkeit und scheinbar grundlose Niedergeschlagenheit und Unzufriedenheit.

    Auf Seiten der Privilegierten sind Gefühle wie Leere, Hoffnungslosigkeit und Trauer ebenso ständige psychopathologische Begleiter wie in anderen Bevölkerungsschichten. Der immer sich entwickelnde Psycho- und Heilslehrenmarkt legt Zeugnis davon ab.

    Das Prinzip der ökonomischen Konkurrenz, jeder gegen jeden, die Grundkonstante des Lebens im Kapitalismus, das Wegnehmen beim anderen, das unentwegt staatlich sanktionierte Aussaugen, Auslaugen, ausgepresst werden, schafft im Menschen die Sehnsucht nach dem Ort des unbedingten Reichtums, der ewig fließenden Mutterbrust, des Daheimseins. Daheim will heißen: Schutz, zur Ruhe kommen, angenommen sein - und das ohne Bedingung. Sattheit “im Hause des Vaters immerdar”.

  4. Religion im Freudenhaus

    Die religiöse Sehnsucht muss solange genügen und ausreichen bis sich gesellschaftliche Verhältnisse finden, die soziale Sicherheit, Schutz und Frieden nicht nur versprechen sondern auch tatsächlich bieten. Die religiöse Sehnsucht ist ein scheinbarer Weg aus der Misere, ähnlich wie der Besuch in einem Freudenhaus nur scheinbar Liebe bereit hält. Vom Schein zum Wesen der Sache vorzudringen, bedeutet auch festzustellen, dass die unmittelbare und reine Befriedigung nach Geborgenheit, Schutz und Sicherheit nur dort zu erreichen ist, wo das Menschsein in seiner materiellen Gebundenheit so konzipiert akzeptiert und machbar ist, das eben gerade das Miteinader Vorraussetzung und Folge der materiellen Lebensproduktion ist. Mit dem Wegfall der Waren- und Mehrwertproduktion, dem Aufheben der Tausch- und Gebrauchswertdichotomie wäre das möglich. Für dieses Programm hat sich seit mehr als 150 Jahren der Sozialismus einen Namen gemacht. Man muss zugestehen, nicht immer den besten. Dennoch:

    Gerade die Verwirklichung der sozialen Menschenrechte in der DDR machte den christlichen Talisman überflüssig. Das rein geistige (religiöse) zu Hause, wurde abgelöst durch die brutale Herunternahme der sozialen Ängste von den Schultern der Werktätigen. Der ewige Vater im Himmel mutierte zum Sozialstaat, der sich daran machte das “Himmelreich auf Erden” einzurichten, nachdem die Totalkatastrophe des Nazismus in der realen Hölle endete.

    Dabei tat die DDR allerdings einiges, um die religiösen Charaktermuster weiter zu führen bzw. zu transformieren, denn der “Muff aus tausend Jahren” hing noch in den Ruinen, aus denen “auferstanden” werden sollte. Die DDR war ein patriarchaler und autoritärer Staat. Die diktatorische Gewalt der Bürokratie riss alle himmlischen Sehnsüchte an sich, stopfte sie in Paraden, Parteitage und Pioniernachmittage und eben auch in eine weitgehende soziale Absicherung der Massen.

    Das Arbeitskollektiv, ja jeder Werktätige für sich, korrespondierte mit dem gesamtgesellschaftlichen Plan und beides integrierte. Selektion war ausdrücklich schädlich und allgemein war anerkannt: auch zu nichts nütze.

    Ihre religiösen Bedürfnisse (immerhin waren die Menschen im Osten ursprünglich nicht weniger religiös sozialisiert als die im Westen) wurden derart vom Sozialstaat befriedigt, indem die meisten sozioökonomischen und kulturellen Bedürfnisse gestillt wurden. Glauben und Kirche konnten getrost zum Teufel gejagt werden, denn für diese Zutaten gab es keinen Hunger mehr. Die Menschen fielen massenhaft vom Glauben ab.

    Die Gemeinschaft der Gläubigen transformierte sich in die Gemeinschaft der Werktätigen, deren (Arbeits)Persönlichkeit nicht mehr dem Persönlichkeitsmarkt der “freien Konkurrenz” unterworfen war. Selbst ein augenscheinlich “schlechter” Sozialismus, ersetzte hier den besten Gott.

    Die zunehmende Entfremdung der Menschen vom Sozialismus (durch politischen Ausschluss und Bevormundung durch die Bürokratie) ähnelt der massenhaften Abkehr der Christenheit von der Papstkirche des späten Mittelalters. Die Ersetzung des Glaubens durch die pure Verwaltung der Amtskirche ist gleichzusetzen mit der Ersetzung der Revolutionären Partei durch ein verknöchertes und seniles Politbüro, das die Arbeiterklasse vertrat und an ihrer Stelle die Heilslehre und Verkündung des (jenseitigen) Kommunismus “organisierte”. Die Grundweisheit der Internationale lautete aber: “Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!” Papst und Generalsekretär werden damit ausdrücklich nicht beauftragt!

    Die Kirche als Bürokratie (Lenker und Verwalter) der religiösen Bedürfnisse ist die Vollstreckerin der Psychologie des Himmels. Sie macht ein Angebot an die Menschen.

    Wer und was bietet die Linke an?

    Sozialismus und Religion sind massenpsychologisch verwandt. Die Frage lautet verkürzt Jenseits oder Jetztzeit.

    Schaut man sich die sozialpsychologischen Untersuchungen zur Bedürfnishierarchie der Menschen an, fällt auf, dass die Moslowsche Bedürfnispyramide a) immer noch gültig ist und b) keineswegs nur für Christen gilt. Freidenkende Menschen (die also keinen Gott (ge)brauchen) haben also die gleichen sozialen und psychischen Bedürfnisse (von unten nach oben): Körperliche (Essen, Schlafen, Wohnen, Sexualität), Sicherheit (Geborgenheit, Schutz), Soziale Beziehungen (Gemeinschaft), Soziale Anerkennung, Selbstverwirklichung, wie Gläubige. Es wird daran liegen, dass beide in der gleichen Arena stehen.

  5. Die Ohnmacht der Vernunft

    Die autoritäre und patriarchale Familie erzeugt in den Menschen widersprüchliche Ideen. Die Idee von Gott und vom Sozialismus ist massenpsychologisch bedürfnisidentisch, sozial drückt sie sich dynamisch aus.

    Die kapitalistische Sozialisation (u.a. Zwangsehe, Familie, Schule, Medien und Kultur)

    reproduzieren natürliche die “göttliche Vorsehung” des Menschen. Unnachgiebig wirkt sie aber auch in die andere Richtung. Der Druck auf die Menschen erhöht sich ständig, wenn die Jenseitsidee keine Linderung schafft. Ausgleichslinderungen wie Konsum, Weltflucht (Reisen, TV, Videospiel, Psychomarkt, Fußball und Formel 1) oder pathologische Sucht steigen proportional zur Abkehr von den Kirchen. Aus allen Nähten platzende Gefängnisse und die drastisch steigende Zahl von Gemüts- und Geisteskrankheiten runden das Bild der Destruktivkraftentwicklung im modernen Kapitalismus ab.

    Neben den Notstandsgebieten an den kapitalistischen Peripherien wird das Krisenempfinden auch in den Metropolen des Kapitals immer stärker. Außerdem sei hier noch als Fußnote der ostdeutschen Atheisten gedacht:

    Die “Atheisten” im Osten haben hier gleich ein doppeltes Problem. Ihre Weltbetrachtung, ihr System der Orientierung und Welterklärung (dessen Vorhandensein eines der wichtigsten psychosozialen Bedürfnisse des Menschen ist) und ihrer Rolle darin, wurde mit dem Realsozialismus als untauglich beschieden und abgeschafft.

    Das christliche Modell lehnen sie aus Instinkt (soziale Erfahrung) ab. Ihr eigenes Süppchen führt sie aber leicht in die Resignation und macht sie anfällig für die säkularen ideologischen Angebote der neoliberalen Machthaber von heute.

    Nur ihre relative Aufgeklärtheit, ein weiteres Abprodukt der untergegangenen DDR, ist dem ein Gegengewicht und verhinderte bisher die kritiklose Reproduktion der herrschenden Ideologie und die Rückflut in die Kirchen.

    Nicht unwesentlich dabei ist, dass im Osten die ideologische Reproduktion zusätzlich strukturell gestört wird, denn dort findet kaum eine materielle Produktion statt, die die Lügengebäude der “herrschenden” Meinung bestätigen oder erlebbar machen.

    Große Teile der Bevölkerung im Osten haben mit der kapitalistischen Wertschöpfung überhaupt nicht zu tun, im Gegenteil, sie sind von Sozialtransfers abhängig und jeglicher Perspektive, sogar der “normalen” Ausbeutung durch Lohnarbeit, beraubt. Die Menschwerdung durch Arbeit und sei es die entfremdete und auf Ausbeutung beruhende ist ihnen weitgehend versagt. Damit fehlen ihnen so wichtige psycho- hygienische Gratifikationen wie Kommunikation, Gemeinschaftserlebnisse, Erfolg beim Tun sowie gesellschaftliche Anerkennung.

    Das Sondergebiet Ost hat damit eine Qualität, die auf Dauer das gesellschaftliche Leben dort weiter zersetzt und ruiniert. Andererseits sind spontane und radikale politische Entladungen jederzeit möglich.

    Es kommt für die kommunistische Bewegung nun immer mehr darauf an, die Menschen selbst erkennen zu lassen, was ihre eigentlichen, wesentlichen Bedürfnisse sind, abseits von Mallorca-Urlaub, Mittelklassewagen und Eigenheimidyll. Aber wie?

    Das kann nicht allein durch Aufklärung geschehen, die Menschen zeigen sich gegen solche Tendenzen (“Macht der Vernunft”) erstaunlich resistent bzw. handeln wieder besseres Wissen, oft irrational. Damit spiegeln sie aber nur die Irrationalität der jetzigen Verhältnisse wieder. Schließlich müssen die Widersprüche ja auch im Menschen konkret stattfinden und praktisch ausgekämpft werden.

  6. Der Glaube an den Sozialismus und eine neue Aufgabe

    Es liegt nicht an der Dummheit der Menschen, dass sie die Notwendigkeit des Sozialismus nicht erkennen.

    Sie glauben nicht an ihn, um es religiös zu formulieren. Sie glauben nicht an sein Konzept der “Gesamtlösung für alle Probleme der Welt”. Gerade die Gottesidee beansprucht aber die selbe “Allmacht der göttlichen Fügung”. Sie glauben nicht an den Sozialismus, weil sie ihn nicht spüren, ihn nicht für möglich halten. Das bedeutet nicht, dass jeder Christ Gott für möglich hält, oder an Wunder und Engel glaubt. Doch die Menschen sehen Kirchen, hören Orgeln und Predigten und sehen die Gemeinschaft der Gläubigen. Es gibt eine tatsächliche Glaubenserfahrung. Die Gemeinschaft verbindet.

    Die Linke hat keinen Dom zu bieten, auch sind unsere “Pfaffen” nicht so präsent. Was uns über die Jahrzehnte verloren ging, ist die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft und Kultur, die über das rein Politische hinausgeht. Das war nicht immer so. Die proletarische Kultur ist entweder verschwunden oder aber im neoliberalen Sumpf untergegangen.

    Dass die Arbeiterklasse von heute einen vormarxistischen Bewusstseinstand, also kein Bewusstsein von sich selbst als Subjekt und Objekt der Geschichte hat, lässt sie für den heutigen Klassenkampf als ungeeignet erscheinen. Mit Zunahme oder Fortführung des Klassenkampfes von oben, also der weiteren Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, werden die spontanen sozialen Kämpfe aber immer mehr zunehmen.

    In diesen Kämpfen wird sich auch ein neues Klassengefühl entwickeln. Aber auch ein völkisches ist denkbar. Und um dieses Gefühl geht es. Diese psychologische Komponente gehört zum wichtigsten (heiligsten) Kern des menschlichen Wesens überhaupt.

    Das religiöse Gefühl ist gleichsam eine rohe Vorstufe dessen, was die Menschen hier und heute auf Erden wirklich suchen: Gemeinschaft. Dort wo Gott gefühlt werden kann, ist Sozialismus psychologisch möglich.

  7. Neue Aufgaben - Seelsorge

    Unsere Aufgabe sollte es immer mehr sein, die menschliche Gefühlswelt als vorhanden anzuerkennen. Es kann natürlich alles (auch Gefühle) in das Kapitalverhältnis gepresst werden, nur am konkreten Menschen helfen diese (sicherlich notwendigen) Herleitungen nicht weiter. Soziale Not ist auch immer seelische Not. Und dass wir die Seele so vernachlässigen, nimmt man uns gern übel. Leider zu Recht.

    Wir sollten die seelische Not wo nötig wie ein Dolmetscher ins politische Diesseits übersetzen, mehr aber die Menschen auch als seelisch Bedürftige anerkennen und Interesse zeigen für ihr Innenleben, die Befindlichkeit des Kapital-Geschundenen uns gegenüber. Das klingt leichter als getan. Es sind nicht alle menschlich-existenziellen Probleme ohne Weiteres politisierbar. Und als Sozialist mit Feingefühl, Anteilnahme (Solidarität) und Verständnis den Menschen gegenübertreten scheint selbstverständlich, doch geht es hier nicht um eine Haltung sondern um konkrete Sorge am Menschen.

    So sind Tod und Krankheit, Einsamkeit und Angst nicht unbedingt Steckenpferde des Sozialismus. Hier gibt es massenhaften Gesprächsbedarf, hier stehen wir seltsam unbeholfen herum. Den Pfaffen und Diakonen gelingt es leicht, sich selbst einen Heiligenschein zu zimmern, uns würde man nicht ohne weiteres mit Seel-Sorge in Verbindung bringen. Doch der Proletarier von heute und hier leidet weniger Hunger und Kälte, er leidet eher innerlich. Er ist allein, abgeschnitten von der Gemeinschaft. Er hat vielfach Ängste und fühlt sich verloren. Was bieten wir hier? Wo ist die Verknüpfung von sozialer und karitativer und vor allem kultureller Arbeit mit dem Politischen des Sozialismus. “Das Himmelreich auf Erden” schon heute zu beginnen, war vor hundert Jahren viel stärker in der Arbeiterbewegung verwurzelt. Man meinte dann, mit der Lösung der sozialen Frage in den Industrieländern der “ersten Welt” wären diese Aufgaben erledigt. Das sind sie nicht, sie stellen sich nur anders dar.

    Politisch zu arbeiten, sollte immer mehr heißen, mit Gefühlen arbeiten.

    Das Kapital und ihre Kirchen sind uns da weit voraus. Alle wichtigen Diskussionen der letzten Jahre hat das Kapital auch deshalb gewonnen, weil es mit den Sehnsüchten und besonders Ängsten der Menschen “gespielt” hat. Ich rede hier nicht von der täglichen Produktenwerbung (die gehört natürlich auch dazu), sondern von politischer Psychologie. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier zuerst dadurch, dass er ein Bewusstsein von sich selbst hat. Er ist sich seiner Vergangenheit bewusst, er kann sich Rechenschaft ablegen über seine gegenwärtige Situation und er kann in die Zukunft blicken. Das größt Dilemma dieser Zukunftsschau aber ist die Gewissheit der eigenen Endlichkeit. Uns erwartet der Tod. Keine gute Aussicht!

  8. Unsere Kulturlosigkeit bedarf einer gründlichen Negation

    Wie sieht unsere politische Psychologie aus? Was machen wir mit unserer Sterblichkeit? Wo ist die Verheißung, die Heilung? Wie vermitteln wir, dass Sozialismus nicht nur eine Sache von Büchern und Gedanken ist? Hier könnten wir schamlos bei den Kirchen abgucken. Kaffeerunden, Fahrradtouren, Theaterbesuche, Stammtische - bei denen nicht nur Politik stattfindet, sollten ebenso zu uns gehören wie die Klassensolidarität auf der Straße. Selbst das Kapital räumt (gezwungenermaßen) den Proletariern Zeit zur Reproduktion seiner Arbeitskraft ein. Darauf zu achten, dass es den Genossen gut geht, sollte wieder eine grundlegende Aufgabe in der Linken sein. Aus dieser Linken heraus muss es dann auch möglich sein, erlebbare Klassensolidarität anzubieten. Wenn es denn stimmt, dass das Proletariat von heute von seelischer Verkrüppelung bedroht ist, dann ist es unsere Pflicht, sich darauf einzustellen und mit “karitativer Seelsorge” in die Klasse zu wirken.

    Können wir das Himmelreich auf Erden schon heute in Ansätzen anbieten? Glaubensbruder und oder Genosse. Wie sieht das Leben in der Sozialistischen Partei der Zukunft aus? Haben wir schon eine Gemeinschaft? Was tun wir, dass sich Menschen bei uns wohlfühlen? Was sagt das Wort “Genosse” inhaltlich aus?

    Diese Fragen werden nicht unwesentlich über den Erfolg der revolutionären Linken entscheiden. Die Sozialistische Partei der Zukunft muss darüber reden, was sie Menschen bietet und was sie tut, dass sich Interessierte bei ihr wohl fühlen. Nur wenn andere bei uns eine Gemeinschaft erleben, werden sie bereit sein, mehr zu tun, als nur einen Vortrag zu hören, einen Klassiker zu lesen oder sich in eine Demo einzureihen. Natürlich kann das eine nicht andere ersetzen, aber ergänzen; denn um es biblisch zu sagen: Der Mensch lebt nicht von Brot allein.

Andy Zyon