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Die Wahl in Palästina "schockiert" den Westen

Die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten haben gewählt. Bush, die Europäer und ihre israelischen Bündnispartner sind über den Wahlsieg schockiert. Die westlichen Medien rätseln, wieso die "Terroristen" von der Hamas (diese arabische Abkürzung steht für "Bewegung des islamischen Widerstands") siegen konnten. In Palästina überrascht das Ergebnis niemanden.

Dort steht die Hamas für Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht, für Widerstand gegen die unverschämte Korruption der Fatah, der Gier vieler ihrer von NATZo-Staaten besoldeten Beamten und deren Bereitschaft, zur Erhaltung ihrer Pfründe ohne alle Hemmungen jedes Diktat der israelischen Besatzer und des US-Imperialismus kampflos hinzunehmen.

Wer jetzt Gefahren für den Friedensprozeß beschwört, weiß nicht oder will nicht wissen, daß es für die Masse der Palästinenser keinen Friedensprozeß gibt: Tausende, von der israelischen Armee und rechtsradikalen Kolonialsiedlern Ermordete, zehntausende Verwundete, über 750.000 seit Juni 1967 Eingekerkerte sind Opfer der Terrorherrschaft des israelischen Besatzungsregimes. Die Wirtschaft der besetzten Gebiete wurde durch die Besatzung stranguliert. Transporte sind kaum noch möglich. Arbeitskräfte werden an den ungezählten Checkpoints der israelischen Armee daran gehindert, ihren Arbeitsplatz zu erreichen, Plantagen und Olivenhaine werden ohne Vorwarnung zerstört. Was dennoch für den Außenmarkt produziert wird, ist vom israelischen Handel und seinen Preisdiktaten abhängig. Schüler und Studenten werden daran gehindert, zur Schule zu gehen oder ihre Universität zu besuchen. Kranke und schwangere Frauen werden auf dem Weg in Kliniken stundenlang aufgehalten. Willkürliche Verhaftungen ohne richterliche Anordnung und Kontrolle (Administrativhaft) sind an der Tagesordnung. Besuche von Dorf zu Dorf oder in der nahegelegenen nächsten Stadt erfordern stundenlange Fahrten, wiederholte demütigende Kontrollen und willkürliche Wartezeiten. Nahezu jede Familie kennt Arbeitslosigkeit, Angst, Hunger und Verzweiflung.

Der (völkerrechtwidrige) israelische Staatsterrorismus ist der Nährboden, der aus der Sicht der Masse der Palästinenser jede Form des Widerstands legitimiert, auch solche Widerstandsformen, die die Sache der palästinensischen Befreiung nicht weiterbringen. Umgekehrt hat sich die Fatah-Führung mit ihrer Bereitschaft weitgehend diskrediert, sich, wie von der israelischen Führung als Vorbedingung für einen Frieden gefordert, zur Hilfspolizei der Besatzungsmacht zu machen. Als glaubwürdige Alternative zur Fatah hat sich den Palästinensern bei diesen Wahlen nur die Hamas angeboten. Sie allein gewährleistet durch ihre Selbsthilfeorganisationen im Besatzungselend ein Minimum an solidarischem Zusammenhalt und ihr anhaltender Widerstand gegen die Besatzungsmacht wird begriffen als Symbol der Selbstbehauptung und der Wahrung der eigenen Würde. Der Islamismus der Hamas dürfte bei dieser Wahl für die meisten Wähler der Hamas nur eine völlig untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Ächtung der Hamas als terroristische Organisation durch Israel, die USA und die EU hat ihre Attraktivität eher erhöht. Auch die von diesen Mächten als Alternative mit erheblichen Geldern offen unterstützten bürgerlichen Kräfte hatten keine Chance.

Wie wird es weitergehen?

Der Westen steht vor einem politischen Scherbenhaufen. Seine strategische Spekulation, die aggressive israelische Siedlungs- und Vertreibungspolitik nahezu ungebremst weitergehen zu lassen und die Palästinenser dabei so unter Druck setzen zu können, daß ihre traditionelle Führung selbst den Israelis die repressive Drecksarbeit abnimmt, ist auf absehbare Zeit gescheitert.

Arafat war nicht bereit, diesen Weg bis zu Ende mitzugehen. Er wurde daher schon einige Zeit vor seinem Tod als Partner des vom Westen diktierten Friedensprozesses abgeschrieben. Sein Nachfolger Mahmud Abbas war willig, hatte aber nicht genügend Statur und Rückhalt, die ihm zugedachte Rolle eines imperialistischen Hilfspolizisten zu spielen. Stattdessen geriet die Fatah in eine Zerfallskrise, die jetzt, nach der Niederlage und dem Verlust der Kontrolle über die sogenannte Autonomiebehörde, in ein neues Stadium eintritt. Die Diffamierung der Hamas als "terroristische Bewegung" wird sich als kontraproduktiv erweisen - so wie zuvor schon viele vorgeblich terroristische Bewegungen der Dritten Welt irgendwann nachträglich als Befreiungsbewegungen anerkannt werden mußten. Die imperialistischen Mächte Nordamerikas und Europas können es sich nicht leisten, die demokratisch gewählte Vertretung der Palästinenser zu ignorieren oder zu boykottieren, weil sie nicht zulassen wollen, daß die Lage in Palästina völlig außer Kontrolle gerät.

Aus demselben Grund werden die imperialistischen Mächte der israelischen Regierung kein grünes Licht für das Projekt geben, das sie bevorzugen dürfte, nämlich den Wahlsieg der "terroristischen" Hamas als Vorwand zu nutzen, um den letzten Anschein eines Friedensprozesses wegzuwischen, der von Anfang an nur als unerträgliche Bürde für das zionistische Kolonialsiedlerprojekt enpfunden worden war. Die israelische Führung könnte sich ermutigt sehen, das strategische Ziel des Zionismus energischer vorzubereiten, die vollständige Eroberung Palästinas durch die schönfärberisch so genannte Transferlösung, d.h. die Vertreibung der Palästinenser aus Palästina. Auch diese "Lösung" ist mit dem vitalen westlichen Interesse an politischer Stabilität im Nahen und Mittleren Osten auf absehbare Zeit nicht vereinbar. Der Westen muß und wird deshalb versuchen, Zeit zu gewinnen. Er muß darauf hoffen, daß sich die Hamas ausdiffenziert, in gemäßigte und radikale Kräfte. Und er muß darauf hoffen, daß es dann zu neuen politischen Koalitionen kommt, die williger mit ihm kooperieren.

Möglicherweise wird es aber auch zu anderen Entwicklungen kommen. Teile des militärischen Flügels der Hamas könnten den Wahlsieg mit der Zustimmung zu einer weitgehenden Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft verwechseln und auf dieser Ebene in die Offensive gehen. Das wiederum könnte die säkularen Kräfte in der Fatah und anderen Strömungen zwingen, hiergegen Widerstand zu organisieren. Selbst ein schleichender Bürgerkrieg wäre dann nicht auszuschließen.

Umgekehrt wird die palästinensische Mangelökonomie auch bei einer Neuverteilung der Pfründe der Autonomiebehörde über kurz oder lang das neuerliche Aufblühen der Korruption begünstigen. Die politische Führung der Hamas wird durch die Übernahme der Regierungsmacht entzaubert werden. Sie hat auf militärischer, politischer, ökonomischer wie nationaler Ebene keine halbwegs tragfähige Befreiungsperspektive - und zwar weder im Konflikt mit dem Imperialismus noch mit ihm. Hier unterscheidet sie sich nicht von der jetzt abgewirtschafteten bürgerlichen Führung der Fatah. Eine sozialistische Neuformierung des Widerstands und eine völlige strategische Neuorientierung der palästinensischen Befreiungsbewegung stehen auf der Tagesordnung.

Dieter Elken, 26.01.2006