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Kein Automatismus in der Geschichte

Vor 150 Jahren schrieb Karl Marx
das Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie«

Teil 1: Die allgemeine Existenzform der Gesellschaft

Von Friedrich Kumpf[1]

Genau eineinhalb Jahrhunderte sind vergangen, seit Karl Marx das Vorwort zu einer Vorarbeit für sein Hauptwerk »Das Kapital« verfaßte, das dessen späteren Untertitel als Titel trug: »Zur Kritik der politischen Ökonomie«. Während die spätere Rezeption des Hauptwerkes die Vorarbeit in den Schatten stellte, gilt das für das Vorwort in keiner Weise. Das liegt an einer ebenso knappen wie inhaltsreichen und konzentrierten Darstellung seiner Gesellschafts- und Geschichtsauffassung, die dieses Vorwort nebst einigen biographischen Angaben enthält. Natürlich finden wir auf diesen eineinhalb Buchseiten nicht den ganzen Gedankenreichtum dieses großen Denkers, aber, wie er es selbst nennt: »das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente« (MEW 13, S. 8).

Der betreffende Text beginnt mit den berühmten und immer wieder zitierten Worten: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen« (ebenda). Mit diesem Konzept hatte Marx den Grundstein für eine nicht bloß beschreibende, sondern vor allem begreifende Betrachtung der menschlichen Geschichte gelegt. Sie stellte sich ihm nicht einfach als Aufeinanderfolge von historischen Persönlichkeiten, politischen Ereignissen, Staatsaktionen, Eroberungen, Kriegen, ethnischen Konflikten, religiösen und sonstigen geistigen Auseinandersetzungen sowie vielen anderen zu beschreibenden einzelnen historischen Gegebenheiten dar, obgleich deren präzise Erfassung selbstverständlich auch Gegenstand geschichtlicher Forschung sein muß.

Marx' Blick auf die Geschichte ging tiefer, weil er sich bemühte, auf den Grund der historischen Prozesse vorzudringen und von daher das vielfältige Geschehen in der menschlichen Gesellschaft nicht nur zu konstatieren, sondern von seiner Grundlage her im Zusammenhang zu erfassen und zu verstehen. Das verlangte einen neuen Blick auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte, der es ermöglichte, das Bestimmende in ihr, das letztlich ihren jeweiligen historischen Charakter ausmacht, zuverlässig zu erkennen.

Objektive Geschichtsauffassung

Eben diesen neuen Blick charakterisiert Marx überaus präzise mit den soeben zitierten Worten. Er sieht in der Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe ihrer historischen Entwicklung eine Ganzheit objektiver Verhältnisse, welche die Gesellschaft auf eine bestimmte Weise strukturieren und in ihrem Funktionieren auf allgemeine Weise determinieren. Diese grundlegenden objektiven Verhältnisse sind demnach die Produktionsverhältnisse. Sie sind objektiver Natur in mehrfacher Hinsicht. Zum einen existieren sie unabhängig vom Willen und Tun des einzelnen Menschen. Dieser findet sie vor, wird in sie hineingeboren, wodurch oft auch schon sein Platz im gesellschaftlichen Gefüge bestimmt ist. Aber auch, wenn er in der Lage ist, eine andere gesellschaftliche Position einzunehmen, die objektiven Verhältnisse vermag er als einzelner keineswegs zu verändern. Zum zweiten sind die Produktionsverhältnisse objektiv, weil sie sich letztlich in einem Korrelationsverhältnis mit der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft befinden. Diese werden zwar durch die Menschen entwickelt, aber dieser Entwicklungsprozeß hängt in seiner Gesamtheit nicht von der Willkür der involvierten Menschen ab. Jede Weiterentwicklung erfolgt auf einer bestimmten, durch die vorhergehende Entwicklung vorgegebenen Grundlage in Gestalt bestimmter natürlicher, technischer und wissenschaftlicher Voraussetzungen, die maßgeblich wiederum auch die weitere Entwicklung bedingen. Es handelt sich bei ihr um eine eigenartige Verquickung objektiver und subjektiver Momente, die ihr aufgrund der objektiven Voraussetzungen, an die jeder Schritt anknüpfen muß, aber einen insgesamt objektiven Charakter verleihen. Zum dritten handelt es sich um objektive und in einem bestimmten Sinne materielle Verhältnisse, weil es diejenigen Verhältnisse sind, welche die Produzenten bei der Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens der Menschen eingehen. Damit war eine Sichtweise auf die menschliche Geschichte gewonnen, die in ihr eine Entwicklung sieht, die in ihrer Grundlage und damit in ihrer allgemeinen Ausrichtung objektiver Art ist. In diesem Sinne eröffnet eben sie die Möglichkeit einer wirklich objektiven Geschichtsbetrachtung.

Marx ist nicht der erste, der sich der Aufgabe unterzog, Geschichte nicht einfach als Sammlung historischer Begebenheiten zu interpretieren, sondern in ihr eine notwendige Aufeinanderfolge bestimmter Stufen gesellschaftlicher Entwicklung zu sehen, die sich auf bestimmte und notwendige Weise ablösen. Verwiesen sei nur auf Hegels Interpretation der Geschichte. Er hatte sie als Aufeinanderfolge von »Volksgeistern« aufgefaßt, die jeweils von bestimmten geistigen Prinzipien durchdrungen, im Geschichtsverlauf einander ablösende gesellschaftliche Ganzheiten darstellen. Entscheidendes Kriterium ist für Hegel dabei der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. Der bestimmende Unterschied wird damit in einander ablösenden Bewußtseinsstufen gesehen, wodurch sich die Geschichte einer objektiven Betrachtung letztlich wieder entzieht, da wir mit dem für sich genommenen Bewußtsein doch wieder auf die Subjektivität zurückgeworfen sind.

Marx hingegen führt die Bewußtseinsformen ebenso wie die juristischen und politischen Verhältnisse auf die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse, auf die Produktionsweise des materiellen Lebens der Menschen zurück: »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein des Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (MEW 13, S. 8 f.). Damit war eine Geschichtsbetrachtung konzipiert, die sich weder auf Beschreibung von Gewesenem beschränkt noch sich in dessen spekulativer Interpretation ergeht. Die Produktionsweise des materiellen Lebens — die bestimmt wird durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse, d.h. vor allem durch die Eigentumsverhältnisse an den Mitteln zur Produktion des materiellen Lebens der Menschen, die ihrerseits einem bestimmten Stand der Produktivkraftentwicklung entsprechen — ist objektiv rekonstruierbar. Darauf gründende allgemeine Aussagen zur Geschichte der menschlichen Gesellschaft sind damit der Spekulation über allgemeine geschichtliche Zusammenhänge entrückt.

Diese von Marx entwickelte Geschichtskonzeption eröffnet die Möglichkeit einer theoretischen Erschließung der Gesellschaft und ihrer Geschichte als Geschichte einander ablösender ökonomischer Gesellschaftsformationen. Die These von Marx, wonach nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewußtsein bestimmt, verlangt im Rahmen einer objektiven Gesellschaftsanalyse die jeweiligen politischen wie auch die unterschiedlichen geistigen Prozesse nicht allein aus sich selbst oder nur aus subjektiver Motivation heraus zu erklären, sondern auch die objektiv konstatierbaren und letzten Endes durch die jeweilige Produktionsweise bedingten gesellschaftlichen Verhältnisse als deren bedingende Grundlage zu erkennen. Es ist diese ihrem Wesen nach materialistische Geschichtsauffassung, deren Grundlagen Marx in diesem Vorwort skizziert hat, die den Weg zu einer wirklich objektiven und damit theoretischen Gesellschaftsanalyse und wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung weist. Allerdings würden wir in einen in der jüngeren Vergangenheit nicht selten aufgetretenen Fehler verfallen, wollten wir in dieser allgemeinen Grundlage einer wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung schon diese selbst sehen. Jede so verkürzende Auffassung kann zu einem Irrweg werden. Marx hatte schon im selben Kontext ausdrücklich formuliert, daß es sich bei dem in dem Vorwort Dargelegten um einen Leitfaden für seine Studien handle. Es ist einleuchtend, daß ein Leitfaden die Studien oder die konkrete Forschung nicht ersetzen kann. Die materialistische Geschichtsauffassung sollte jedenfalls nicht das materialistische Geschichtsbild ersetzen, das sich auf ihrer Grundlage und konkreter historischer Forschung herausbilden kann.

Abfolge von Produktionsweisen

In der von Marx entwickelten Geschichtsauffassung nahmen die sozialen Revolutionen beim Übergang zu einer jeweils neuen Gesellschaftsformation einen zentralen Platz ein. Damit sind wir bei einer weiteren grundlegenden Aussage dieses Vorworts: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen. (...) Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um« (MEW 13, S.9). Der gesellschaftliche Erfahrungshintergrund für diese These war für Marx vor allem die geschichtliche Umwälzung im Rahmen des Übergangs von der Feudalgesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaftsformation in Europa. Aber selbstverständlich hatte er dabei bereits auch den kommenden Übergang in eine höhere, die kommunistische Gesellschaftsordnung im Auge. Daher kann man den Marxschen Text heute nicht rezipieren, ohne die Erfahrung mit dem in Europa erst einmal in einer Niederlage ausgegangenen Versuch dieses Übergangs zu berücksichtigen.

Zunächst einmal stellt sich aber die Frage, ob Marx mit der in diesem Kontext gegebenen Aufzählung von ökonomischen Gesellschaftsformen eine Art allgemeiner Abfolge des geschichtlichen Verlaufs gemeint hat. Bei ihm heißt es: »In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden« (ebenda). Der gesamte Kontext dieser Aufzählung spricht dafür, daß Marx hier den geschichtlichen Gang charakterisieren und nicht nur eine Aufzählung solcher Gesellschaftsformen geben will. Allerdings würde man seinen Intentionen nicht gerecht werden, wollte man darin den Anspruch erblicken, damit eine universelle gesetzmäßige Abfolge geschichtlicher Entwicklungsstufen der Menschheit gegeben zu haben. Daß dem nicht so ist, zeigt schon ein Blick in andere Texte, in denen Marx sich mit dem Geschichtsverlauf beschäftigt. Besonders aussagekräftig sind hier die »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« und insbesondere der Abschnitt »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen« (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 375—415; MEW 42, S. 383—421). Hier kann darauf nicht im einzelnen eingegangen werden. Es sei nur darauf hingewiesen, daß er dort eine viel differenziertere Analyse vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen gibt, als sie nach Marx, aber in Berufung auf ihn, mit der Abfolge Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus häufig gegeben wurde. Sklaverei zum Beispiel fungiert weder im »Vorwort« noch in dem genannten Abschnitt als eine gesonderte ökonomische Gesellschaftsformation, sondern wird als ein Moment der vielgestaltigen antiken Gesellschaftsformation charakterisiert, das sich in unterschiedlicher Form und Intensität allerdings auch in anderen Gesellschaftsformationen findet.

Besonders hervorzuheben ist, daß Marx in den »Grundrissen« eine andere allgemeine Periodisierung vorgenommen hat, die in der Tat den Rang der Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, obwohl Marx selbst sich nicht direkt dazu geäußert hat: »Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe« (ebenda, S. 75 bzw. MEW 42, S. 91). Vom Übergang der auf persönlicher Abhängigkeit gründenden Gesellschaftsform in die gesellschaftliche Ordnung, die auf sachlicher Abhängigkeit beruht, nämlich die kapitalistische, kann man wohl als einem universellen historischen Schritt sprechen. In diesem Sinne handelt es sich um einen gesetzmäßigen Gang des geschichtlichen Prozesses.

Die Aufzählung in dem behandelten Vorwort charakterisiert die von Marx vertretene Auffassung der menschlichen Geschichte als Geschichte ökonomischer Gesellschaftsformationen, erhebt aber im Hinblick auf die vorkapitalistischen Formationen nicht den Anspruch einer allgemeingültigen Reihenfolge.

Das übergreifende Anliegen von Marx in dieser Analyse war es freilich, den anstehenden Übergang zu einer Gesellschaftsordnung jenseits der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die er als »die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« (MEW 13, S.9) bezeichnet, als notwendiges Glied in die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft einzuordnen. Das wissenschaftliche Vorhaben, zu dessen unmittelbaren Vorarbeiten auch dieses Vorwort zu rechnen ist, diente vor allem der wissenschaftlichen Begründung dieses historischen Schrittes, der nach Marx mit Notwendigkeit »die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (ebenda) abschließt.

Objektive Zwecke

Die von Marx skizzierte Auffassung von Geschichte als einem insgesamt gesetzmäßigen Prozeß der Herausbildung und Ablösung verschiedener ökonomischer Gesellschaftsformationen schließt die Frage ein, was unter Gesetzmäßigkeit im Bereich der Gesellschaft zu verstehen ist. Diese Frage stellt sich heute schärfer als je zuvor, nachdem in Europa die sozialistische Ordnung, deren Entstehen und Bestehen von vielen Marxisten als Ausdruck und Beweis dieser Gesetzmäßigkeit interpretiert worden war, weitgehend selbstverschuldet zusammengebrochen ist. Hatten doch nicht wenige von ihnen sich die nicht nur von diesem oder jenem Propagandisten, sondern von hohen und höchsten Verantwortungsträgern immer wieder verkündete These zu eigen gemacht, der Sieg des Sozialismus sei unausbleiblich, weil gesetzmäßig. Gerade auf diesem Hintergrund konnte die Niederlage des Sozialismus als Widerlegung der Marxschen Geschichtsauffassung erscheinen, was auch manchen überzeugten Anhänger von Marx in eine geistige Krise stürzen konnte.

Ein solcher Gedankengang ist aber nicht zuletzt einer fehlerhaften Interpretation des Begriffes historischer Gesetzmäßigkeit geschuldet. Nicht selten wurde diese identifiziert mit der Vorstellung von einem zwangsläufigen Verlauf der menschlichen Geschichte. Gerade diese Gleichsetzung führt in die Irre. Gesetze in der Gesellschaft sind letztlich Gesetze menschlichen Handelns, ob einzelner Menschen oder Menschengruppen. Menschliches Handeln aber zeichnet sich in seiner Grundlage durch eine wesentliche Besonderheit aus: es ist zweckgerichtetes Handeln. Marx hat im »Kapital« bei der Analyse des Arbeitsprozesses den Zweck als Gesetz des Handelns bestimmt: »Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das bei Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß« (MEW 23, S. 193).

Zweck ist eine eigenartige philosophische Kategorie, in der Subjektives und Objektives, Materielles und Ideelles auf das engste ineinander verwoben sind. Zwecke werden vom Menschen, also vom Subjekt gesetzt. Insofern sind sie subjektiv bestimmt und ideeller Art. Gegenüber dem auf ihre Realisierung gerichteten Handeln wirken sie als Objektives, welches das Handeln als Gesetz bestimmt. Auch die Zwecksetzung selbst ist sowohl objektiv als auch subjektiv bestimmt. Im Arbeitsprozeß ist die objektive Bestimmtheit des Zwecks zunächst durch die Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände gegeben. Allgemein gilt, nur solche Zwecke können real, das heißt als realisierbar, gesetzt werden, deren Verwirklichung durch die aktuell oder perspektivisch gegebenen Realisierungsbedingungen möglich gemacht werden. Das damit gegebene Möglichkeitsfeld zweckmäßigen Handelns bietet dem handelnden Subjekt also objektive Möglichkeiten und setzt ihm zugleich objektive Schranken. Gleichzeitig werden diese objektiven Voraussetzungen im Zweck dem Subjekt unterworfen. Die Zwecksetzung ist damit eine subjektive, durch die objektiven Realisationsbedingungen ermöglichte und zugleich eingeschränkte und kanalisierte, damit objektiv determinierte, aber dennoch durch das Subjekt vorgenommene, also subjektiv bestimmte Aktion.

Es gibt allerdings Zwecke, die sich als übergreifende Zwecke unmittelbar aus den objektiv existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation ergeben. Als solche bestimmen sie objektiv die subjektive Zwecksetzung des ökonomisch relevanten Handelns der Individuen je nach ihrem Platz in diesen Verhältnissen, aus der sich ihr konkretes Gesetz des Handelns ergibt.

Not und Notwendigkeit

Wenn zum Beispiel in der kapitalistischen Gesellschaftsformation der übergreifende Zweck dieser Produktionsweise die Selbstverwertung des Kapitals, also die Produktion und Realisation von Profit, ist, so bedeutet dies, daß dieser Zweck sogleich als das übergreifende Gesetz des Handelns in dieser Produktionsweise fungiert. Er wirkt als solches sowohl gegenüber den Eignern von Kapital als auch gegenüber denjenigen, die durch ihre Wert und Mehrwert erzeugende Lohnarbeit diesen Profit schaffen. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln als allgemeine objektive Grundlage dieser übergreifenden Zwecksetzung hat zugleich die Mittel hervorgebracht, diesen Zweck als Gesetz des menschlichen Handelns auch durchzusetzen. Es ist die ihm wesenseigene Konkurrenz, welche den Kapitalisten, ob individueller Unternehmer oder internationaler Konzern, zwingt, bei Strafe des Untergangs als Kapitalist diesem Gesetz seinen Willen unterzuordnen. Dem Lohnarbeiter tritt es gegenüber als Zwang, seine Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen, ebenfalls bei Strafe seines Untergangs, da er sonst über keine Mittel zum Lebensunterhalt verfügt. Im »Kapital« hat Marx gezeigt, wie auch die der kapitalistischen Produktionsweise immanenten ökonomischen Gesetze sich auf diese Weise durchsetzen. So wirkt zum Beispiel das dem Kapitalismus eigene Gesetz der Akkumulation des Kapitals und die daraus sich ergebende Konzentration und Zentralisation des Kapitals eben als Zwangsgesetz der Konkurrenz bei Strafe des Untergangs. Nach einem Ausdruck von Marx »exequiert«, »vollstreckt«, die Konkurrenz dieses Gesetz.

Aus alledem ergibt sich die entscheidende Besonderheit des Wirkens gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Aus historisch bestimmten objektiven Bedingungen, sowohl natürlicher Art als auch als Ergebnis vorhergehender gesellschaftlicher Tätigkeit der Menschen, erwachsen objektiv begründete Zwecke, die erfüllt werden müssen bei Strafe negativer Konsequenzen, die von Mißerfolgen über Krisen unterschiedlicher Art und Intensität bis zu existentiellen Krisen und Untergang der betreffenden Ordnung reichen können, wobei man heute hinzufügen muß: bis zum Untergang der Menschheit. Diese objektiv bedingten Zwecke wirken als gesellschaftliche Gesetze des Handelnden, da sie Handlungsnotwendigkeiten darstellen, die aus der gesellschaftlichen Entwicklung entspringen. So kann man auch von gesellschaftlichen bzw. historischen Notwendigkeiten sprechen. Namentlich im deutschsprachigen Raum bietet sich das aufgrund der etymologischen Wurzeln dieses Terminus an. Letztlich bedeutet Notwendigkeit eine Not, die es zu wenden gilt. In unserem Kontext meint Not eine aktuelle Notsituation und die negativen Konsequenzen, die sich aus der Nichterfüllung daraus resultierender objektiv bedingter Handlungsnotwendigkeiten ergeben.

Teil 2 (und Schluß):

Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Wandel der Geschichte

Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist es, das Karl Marx zur kategorialen Grundlage seiner Geschichts- und Sozialphilosophie macht. Da beide Momente des Verhältnisses widersprüchlich zueinanderstehen, kommt es zu Epochen, in denen sich die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften anpassen müssen. Dieser revolutionäre Vorgang vollzieht sich nicht automatisch, denn Menschen handeln aus selbstgesetzten Zwecken heraus, die aber von bestimmten objektiven Möglichkeiten bedingt sind. Indem der handelnde Mensch seine Zwecke erfüllt, verwirklicht er also notwendigerweise zugleich jene objektiven Möglichkeiten.

Notwendigkeit ist — etymoligisch gesehen — eine Not, die es zu wenden gilt. In unserem Kontext meint Not eine aktuelle Notsituation und die negativen Konsequenzen, die sich aus der Nichterfüllung daraus resultierender objektiv bedingter Handlungsnotwendigkeiten ergeben. So verhält es sich auch mit der Gesetzmäßigkeit des Übergangs einer Gesellschaftsformation in eine neue. Auch bei ihr handelt es sich um eine geschichtliche Notwendigkeit im genannten Sinne. Bleiben wir bei dem uns aktuell interessierenden Übergang vom Kapitalismus zu einer nichtkapitalistischen Gesellschaftsformation. Marx hatte die Notwendigkeit eines solchen Übergangs darin gesehen, daß die materiellen Produktivkräfte auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen geraten, weil diese aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte in Fesseln derselben umschlagen. Schon zu den Zeiten, als Marx diese Gedanken formulierte, trat dieser Widerspruch klar zutage, obgleich die kapitalistische Produktionsweise noch gar nicht universell auf unserem Globus herrschte. Die in ihr sich entwickelnden Produktivkräfte erwiesen sich immer deutlicher als Produktivkräfte nicht der Gesellschaft und der sie ausmachenden Individuen, sondern als Produktivkräfte allein des Kapitals, dem sie zu dessen Selbstverwertung dienten. Marx konnte darum in den »Grundrissen« wohl auch unter dem Eindruck der ersten universellen Wirtschaftskrise schreiben: »Die Individuen sind unter die gesellschaftliche Produktion subsumiert, die als ein Verhängnis außer ihnen existiert; aber die gesellschaftliche Produktion ist nicht unter die Individuen subsumiert, die sie als ihr gemeinsames Vermögen handhaben« (Grundrisse, Berlin 1953, S. 76; MEW 42, S. 92). Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Eben in dieser totalen Verkehrung besteht bis heute die zu wendende Not, die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden und eine alternative Gesellschaft zu errichten.

Lenin interpretiert Marx

Heute stellt sich natürlich die Frage, wie es geschehen konnte, daß der erste große Anlauf zur Errichtung einer solchen Gesellschaft in Europa gescheitert ist. Als er am Ende des Ersten Weltkrieges begann, hatte sich diese Not auf unverhüllte und brutale Weise in dem massenhaften, oft lebensbedrohlichen Elend von vielen Millionen Menschen gezeigt. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung in ihrer imperialistischen Ausprägung hatte nicht nur Produktivkräfte in gigantischem Ausmaß in Destruktivkräfte verwandelt und damit nicht vorstellbare Not in Gestalt von vielen Millionen Kriegstoten, von Hunger und Leid weiterer Millionen Menschen mit sich gebracht. Daraus ergab sich die verbreitete Einsicht in die Notwendigkeit und damit in die objektiv notwendige Zielstellung, die Gesellschaftsordnung, die so etwas hervorgebracht hatte, zu überwinden.

Die objektiven Bedingungen hierfür waren in einer Reihe europäischer Länder durchaus gegeben. Ein solcher Schritt hätte der historischen Notwendigkeit und damit dem gesetzmäßigen Gang der Geschichte entsprochen. Aber hier zeigt sich das eben angeführte Spezifikum dieser Gesetzmäßigkeit, die als Notwendigkeit an die gesellschaftlichen Akteure herantritt, als objektiv begründete Zielstellung, die entsprechendes zielgerichtetes Handeln bei Strafe negativer Folgen unterschiedlicher Art erheischt. So verlangte die damalige Situation ein zweckgerichtetes subjektives Handeln, das dieser Notwendigkeit gerecht wurde und auf die Überwindung der bestehenden Gesellschaftsformation gerichtet war. Aber die Akteure in den meisten Ländern wurden ihr nicht gerecht. Das betrifft vor allem die damaligen sozialdemokratischen Parteien, deren Führungen größtenteils vor dieser Aufgabe zurückschreckten. Die sich links von ihnen formierenden Kräfte waren noch zu schwach und teilweise auch zu zerstritten, um sich ihrerseits dieser Aufgabe erfolgreich zu stellen.

So kam es, daß dieser Schritt nur in einem Land getan wurde, in dem sich die wichtigste Bedingung, die Marx in unserem Vorwort für seinen Erfolg formuliert hatte, noch unzureichend gegeben war: »Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind« (MEW 13, S. 9). In Rußland hatten die bürgerlichen Produktionsverhältnisse trotz punktueller hoher Konzentration des Kapitals und des Proletariats noch nicht jenen Reifegrad erreicht, bei dem man uneingeschränkt mit Marx hätte sagen können, daß die Existenzbedingungen neuer, höherer Produktionsverhältnisse schon ausgebrütet gewesen wären. Aber die Ungleichmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung hatte es mit sich gebracht, daß ausgerechnet in Rußland mit seinen für eine soziale Revolution noch nicht voll ausgereiften materiellen Bedingungen sich gegen Ende des Krieges eine Krisensituation herausbildete, die nicht nur dazu führte, daß die längst überlebte Zarenherrschaft gestürzt wurde, sondern die auch die reale Möglichkeit eröffnete, die Revolution bis zum Sturz auch der im Schoß des Zarismus entstandenen kapitalistischen Ordnung fortzuführen.

Stand dieses historische Ereignis im Widerspruch zur Konzeption von Marx? Eine einfache Antwort dürfte es darauf wohl nicht geben. Viele sich damals noch auf Marx berufende Interpreten der Ereignisse haben das behauptet. Lenin hat in einem seiner letzten Artikel darauf mit den Worten geantwortet: »Unendlich schablonenhaft ist zum Beispiel ihr Argument (…), daß wir für den Sozialismus noch nicht reif seien, daß uns (…) die objektiven ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus fehlen« (LW 33, S. 463 f.). Lenin bestreitet das nicht, zieht aber eine ganz andere Schlußfolgerung: Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Entwicklungsniveau notwendig ist, »warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen und dann schon, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Sowjetordnung, vorwärtsschreiten und die anderen Völker einholen« (ebenda, S. 465).

Bei einer schematischen Auffassung historischer Gesetzmäßigkeit und bei isolierter Betrachtung des betreffenden Landes liegt der Schluß nahe, daß diese Entwicklung der Marxschen Konzeption widersprach. Aber eine solche undialektische Betrachtungsweise hat allerdings sehr wenig mit der Marxschen Geschichtsauffassung zu tun. Rußland war 1917 längst ein Bestandteil des kapitalistischen Weltsystems. Und dieses hatte gerade durch seine tiefste und verheerendste Krise, die der Erste Weltkrieg darstellte, offenbar gemacht, daß es reif für den Übergang in eine nichtkapitalistische Gesellschaftsordnung ist. Eine solche Umwälzung war in den entwickelten kapitalistischen Ländern zu einer Notwendigkeit in dem hier gebrauchten Sinne geworden. Sie wurde nicht realisiert, und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren nicht zuletzt eine Folge dieser nicht bewältigten Not und damit negativer Ausdruck der Gesetzmäßigkeit dieses Übergangs.

Verkehrung des Verhältnisses

Damit war es allein Rußland vorbehalten, aufgrund der besonderen Bedingungen, die sich zu diesem Zeitpunkt ergeben hatten, sich auf revolutionärem Wege dieser allgemeinen historischen Notwendigkeit zu stellen. Das hatte natürlich Folgen für den nunmehr eingeschlagenen Weg zu einer neuen Gesellschaft. Wegen der noch nicht ausgereiften ökonomischen und zivilisatorischen Bedingungen mußte ein erheblicher Teil der für die Formierung einer neuen Produktionsweise aufzuwendenden Energie darauf verwandt werden, vieles von dem nachzuholen, was in anderen Ländern schon der Kapitalismus getan hatte. Vordergründig betraf das die Industrialisierung des Landes, die zwar schon vorher eingesetzt hatte, aber noch weit davon entfernt war, im Sinne von Marx die objektiven Existenzbedingungen der neuen Gesellschaft zu bilden. Eine der wichtigsten Aufgaben der in der Revolution entstandenen Sowjetmacht bestand daher darin, Aufgaben der alten Gesellschaftsformation mit neuen Mitteln zu lösen. Das mußte aber auch eine Verschiebung im inneren Gefüge dieser Formation bedeuten. Ihre erst im Entstehen begriffene »reale Basis«, namentlich die Produktivkräfte, mußten erst im nötigen Maße entwickelt werden, ehe auch die neuen Produktionsverhältnisse voll zum Tragen kommen konnten. So ergab sich zunächst eine eigenartige Situation. Der durch die Revolution entstandene politische Überbau wurde in gewisser Weise zur Grundlage dessen, was Marx als Basis bezeichnet hatte, zu einer Art Basis der Basis. Das Verhältnis dieser gesellschaftlichen Sphären zueinander hatte daher Züge einer Verkehrung an sich. Was Marx als reale Basis einer ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet hatte, konnte aufgrund des ungenügenden Entwicklungsstandes der Produktivkräfte noch nicht als wirklich selbsttragende Grundlage der Gesellschaft fungieren. Daher mußte sie zunächst in einem hohen Maße von der Sphäre des politischen Überbaus getragen werden.

Damit kam diesem im Vergleich zu früheren Gesellschaftsordnungen eine viel tiefergehende und umfassendere Aufgabe und — wenn man es so ausdrücken kann — eine ungleich schwererwiegende historische Verantwortung zu. Es lag in der Natur der Dinge, daß diese Verantwortung die handelnden Akteure tragen mußten. Aus heutiger Sicht muß gesagt werden, daß sie ihr trotz enormer Anstrengungen und zeitweiligen riesigen Erfolgen nicht immer gerecht zu werden vermochten, ja in manchen Phasen ihr auch direkt entgegenhandelten. Ein Grund dafür mag auch darin bestanden haben, daß die im Sinne der neuen Ordnung nicht formationsspezifischen Aufgaben, wie die beschleunigte Industrialisierung und die unter damaligen Bedingungen sicher notwendige vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie zu lange absolute Priorität genossen. Die Gestaltung der Produktionsverhältnisse und der darauf aufbauenden politischen, geistigen und kulturellen Verhältnisse im Sinne einer zielgerichteten Herausbildung von Voraussetzungen neuartiger Beziehungen der Menschen in einer selbstverwalteten Gesellschaft trat demgegenüber zu sehr in den Hintergrund. So muß insgesamt gesagt werden, daß die objektiven Notwendigkeiten, die sich auf dem von Lenin vorgezeichneten Weg vor den die neue Gesellschaft errichtenden Menschen auftürmten, trotz aller Anstrengungen und errungener Erfolge nicht in ausreichendem Maße bewältigt wurden. Das mußte sich in zunehmenden Schwierigkeiten, krisenhaften Situationen und Fehlentwicklungen äußern. Als dieses subjektive Versagen — aus welchen Gründen auch immer — kulminierte und die objektiven Notwendigkeiten im gesellschaftsrelevanten Handeln der hauptsächlichen Akteure in erheblichem Maße nicht mehr beachtet wurden, mußte es kommen, wie es gekommen ist. Die historische Not, die daraus erwuchs, konnte nicht mehr gewendet werden, und das geschah durchaus nach Marx: bei Strafe des Untergangs.

Dialektik der »Globalisierung«

Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende gegangen und sie hat die ihr innewohnende Gesetzmäßigkeit gerade dadurch auf negative Weise demonstriert, daß sie gezeigt hat, wie die Diskrepanz zwischen objektiver Notwendigkeit und dieser nicht gerecht werdendem subjektiven Handeln von ihr »geahndet« wird. Davon ist allerdings der allgemeine geschichtliche Prozeß nur in dem Sinne tangiert, daß ein Versuch, die gegenwärtige Ordnung trotz ungenügender objektiver Voraussetzungen zu überwinden, nach zeitweilig großen Erfolgen auf diesem Weg in Europa mißlungen ist. Die formationsspezifischen Probleme der Ordnung, die mit diesem Versuch überwunden werden sollten, stellen sich nunmehr mit neuer Dringlichkeit als globale historische Notwendigkeiten.

Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung hat erst nach Marx wahrhaft globalen Charakter angenommen. Die heutige in der Tat weitgehend globalisierte Wirtschaft bedeutet in erster Linie eine globale Vergesellschaftung der Produktion auf der Grundlage ihres Gegenteils, des privaten Eigentums an den Mitteln und objektiven Voraussetzungen dieser Produktion und folglich auch an ihren Ergebnissen. Die sogenannte Globalisierung der letzten Jahrzehnte bestand ja vor allem darin, die Kapitalverhältnisse zu universal herrschenden zu machen. Der damit gegebene universelle gesellschaftliche Charakter der modernen Produktion des materiellen Lebens der Menschheit besteht nicht im unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhang der beteiligten Menschen, nicht in ihrer universellen gesellschaftlichen Kooperation. Ihr Zusammenhang ist vielmehr in der Negation dieses gesellschaftlichen Zusammenhanges im Privateigentum gegeben. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, ganz gleich ob in Gestalt von Einzelunternehmen oder gigantischen internationalen Konzernen trennt die Produzenten nicht nur in einander gegenüberstehende Klassen und Schichten, sondern auch in Rivalen, die sich unausweichlich miteinander im Konkurrenzkampf befinden, in dem sie bestehen müssen bei Strafe des Untergangs. Der wesentliche Zusammenhang der Produzenten im Rahmen dieser Produktionsweise ist daher nicht Kooperation und solidarisches Miteinander, sondern ein grundsätzliches, mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln gegebenes Gegeneinander. Das hatte Marx in seinem »Vorwort« im Sinn, als er formulierte: »Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus« (MEW 13, S.9). Als fundamentales, dieser Produktionsweise eigenes gesellschaftliches Verhältnis durchdringt dieser Antagonismus oder dieses Gegeneinander nicht nur die Produktionssphäre, sondern alle Bereiche der Gesellschaft, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität.

Diese Situation wird heute angesichts einer neuen Stufe der Konzentration des Kapitals auf eine gefährliche Weise verschärft. Statt die globalen ökonomischen Verhältnisse im Sinne globaler Vernunft als Verhältnisse einer globalen Kooperation zu gestalten, wird der ganze Globus dem einzigen substantiellen Ziel, der Produktion und Realisation von Profit, unterworfen. Alles andere ist letzten Endes nur Mittel zum Zweck. Dieser wird damit, um noch einmal auf diesen Gedanken von Marx zurückzukommen, zum universellen Gesetz des Handelns der Kapitaleigner als bestimmenden Subjekten dieser Produktionsweise. Damit stellen die wieder global herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse den gesellschaftlichen Zusammenhang auf den Kopf: Die Produkivkräfte werden aus Produktivkräften der Gesellschaft und damit aus Mitteln zur Gestaltung des globalen Lebensprozesses der diesen Globus bevölkernden Menschen zu Produktivkräften global operierenden Kapitals zwecks Erlangung von Profit. Diese totale Verkehrung ist ein wesentliches Moment des Umschlags der Produktionsverhältnisse aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte in Fesseln derselben. Deutlich offenbart sich das auch im zunehmenden parasitären Charakter des heutigen Kapitalismus, wie er sich vor allem in der Sphäre des Finanzkapitals präsentiert. Nämlich in der massenhaften Erzielung von Profit, ohne daß die Profiteure auch nur das mindeste mit der Produktivkraftentwicklung zu tun hätten, ja ohne daß sie auch nur die mindeste produktive Beziehung zur Produktion von Gebrauchswerten, Wert und Mehrwert haben. Ein parasitärer Zug haftete der kapitalistischen Produktionsweise von ihren Anfängen her an, denn der von den Arbeitenden erzeugte Mehrwert kommt nicht diesen, sondern ausschließlich denen zugute, die im Besitz der objektiven Produktionsbedingungen sind.

Aber so lange diesen in der Regel noch eine produktive Rolle als, wie Marx sich ausdrückte, »Dirigenten des Produktionsprozesses« zukam, handelte es sich um einen eher latenten Parasitismus. Das hat sich seit der Zeit, da Marx dieses Vorwort schrieb, erheblich geändert. Die heute dominierende Rolle von Kapitalgesellschaften, die über einen Großteil der materiellen Produktionsbedingungen verfügen, haben diesen Parasitismus offenbar und diese Besitzverhältnisse überflüssig gemacht. Nicht nur ihr parasitärer Charakter liegt offen zutage, sondern ebenso offensichtlich ist, daß die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, also die Produktionsverhältnisse, sich in der Tat überlebt haben. Krisen, wie die jüngste Finanzkrise, können für sich allein diese Verhältnisse nicht ändern. Aber sie erinnern nachhaltig daran, daß es an der Zeit ist, sie zu überwinden. Dieser historische Schritt ist längst zu einer Notwendigkeit geworden. Die in weiten Teilen unseres Erdballs herrschende elementare Not vieler Millionen Menschen ist ein ins Auge springendes, überaus hartes Indiz dafür.

Wir haben die Wahl

Aber diese Not ist noch umfassender und geht noch tiefer. Das herrschende Privateigentum an den Produktionsmitteln mit der auf ihm beruhenden kapitalistischen Warenproduktion führt dazu, daß der ihm wesenseigene Antagonismus, also das allgegenwärtige Gegeneinander zwischen Menschen und Menschengruppen verschiedenster Art, welches in dieser Gesellschaftsform stets produziert und reproduziert wird, schon durch sein Dasein eine existentielle Gefahr für die ganze Menschheit darstellt. So lange seine es produzierende Grundlage existiert, besteht auch die Gefahr, daß dieses Gegeneinander durch Gewalt und Kriege ausgetragen wird. Die jüngste Vergangenheit zeigt das zur Genüge. Angesichts des überreich vorhandenen Vernichtungspotentials ist die Selbstvernichtung der Menschheit zur realen Möglichkeit geworden. Damit aber ist der Übergang zu einer gesellschaftlichen Ordnung, die nicht auf diesem universellen Antagonismus, sondern auf weltweiter Kooperation und durch eine neue Produktionsweise bedingtem solidarischen Miteinander beruht, zu einer aktuellen Notwendigkeit bei Strafe des global drohenden Untergangs geworden.

In diesem Sinne ist die Überwindung der gegenwärtigen ökonomischen Gesellschaftsformation und die Errichtung einer alternativen Gesellschaft eine historische Gesetzmäßigkeit. Ganz im Sinne des vor eineinhalb Jahrhunderten verfaßten Vorworts von Karl Marx. Aber der spezifische Charakter historischer Gesetzmäßigkeiten beinhaltet eben die genannte Alternative: der geschichtlichen Notwendigkeit kann entsprochen werden oder nicht. Letzteres mit allen negativen Konsequenzen: von einer immer krisenhafteren und durch wachsende Not geprägten Entwicklung bis zum physischen Untergang der Menschheit. Was die Menschheit tatsächlich erwartet, hängt daher vom Einsichts- und Handlungsvermögen der historischen Subjekte ab, diese Notwendigkeit zu begreifen und entsprechend zu handeln. Die Frage nach dem »ob, wann und wie« führt über den Rahmen des behandelten Vorworts hinaus. Aber sicher dürfte sein, daß die wachsende Einsicht in diese Notwendigkeit ein erster Schritt ist, ihr gerecht zu werden.

Erstveröffentlichung: Junge Welt vom 02. und 03.02.2009


[1]Friedrich Kumpf war Professor für Geschichte der Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin