Ghandi und die Palästinafrage
Wir dokumentieren die Position Ghandis zum Verhältnis von Juden und Palästinensern sowie zur israelischen Staatsgründung.
Ghandis Artikel mit dem Titel: "Ein nicht aggressiver Blick über das Böse und die Aggression" erschien am 20.11.1938 in der von ihm in drei Sprachen (Englisch, Hindi und Gujarati) herausgegebene Wochenzeitschrift "Garigan".
1 - Ich habe mehrere Briefe erhalten, in denen ich gebeten wurde, mich über meine Ansichten zum jüdisch-arabischen Problem in Palästina und zu der Verfolgung der Juden in Deutschland zu äußern. Es war nicht einfach für mich über diese sehr schwierigen Themen meine Meinung kund zu tun.
2 - Ich habe volle Sympathie für die Juden, ich habe sie sehr nah in Südafrika erlebt. Manche von ihnen wurden Freunde von mir, durch sie las ich vieles über ihre lange Verfolgung. Sie wurden ausgestoßen von den Christen, ihre Behandlung durch die Christen war der Behandlung der Ausgestoßenen durch die Hindus sehr ähnlich. Diese stützten sich auf religiöse Argumente, mit denen sie ihre unmenschliche Behandlung zu legitimieren suchten.
3 - Deswegen, und unabhängig von meinen Freundschaften, war diese Behandlung der wichtigste und allumfassendste Grund für meine Sympathie für die Juden.
4 - Diese meine Sympathie aber verschließt meine Augen nicht vor Erfordernissen der Gerechtigkeit. Ihr Ruf nach einer nationalen Heimat der Juden gefällt mir nicht sehr. Denn das Recht auf diese Heimat wird auf das heilige Buch zurückgeführt und wird durch den beharrlichen Wunsch zur Rückkehr nach Palästina begründet: Warum nehmen die Juden nicht wie andere Erdenvölker dort ihre Heimat, wo sie geboren wurden und wo sie ihr Lebensunterhalt verdienen.
5 - Palästina gehört den Arabern, wie sinngemäß England den Engländern oder Frankreich den Franzosen. Es ist ein Fehler und ist unmenschlich, dass die Juden über die Araber bestimmen. Das was heute in Palästina geschieht, kann nicht durch irgendein moralisches Gesetz legitimiert werden. Das Mandat ist illegal, es ist ein Ergebnis des letzten Krieges. Eine teilweise oder ganze Überführung des Landes der Araber, die Palästina bevölkern, an die Juden als ihre nationale Heimat, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
6 - Die geeignetste Maßnahme, die ergriffen werden müsste, ist, beharrlich darauf zu wirken, die Juden dort , wo sie geboren und aufgewachsen sind, gerecht zu behandeln: Die Juden, die in Frankreich geboren wurden sind Franzosen genau wie die Christen, die in Frankreich geboren sind, Christen sind. Wenn es für die Juden keine andere Heimat gibt als Palästina: Werden sie der Idee verfolgen, die anderen Erdenteile, wo sie ansässig sind, sehnsüchtig zu verlassen? Oder wollen sie sich eine zweite Heimat sichern, um sich dort auf Wunsch niederzulassen? Der Schrei nach einer nationalen Heimat bietet eine indirekte Rechtfertigung für die Deutschen, die Juden zu vertreiben und das ist ein Akt gegen die Menschlichkeit.
7 - Die Verfolgung der Juden durch die Deutschen scheint jedoch einzigartig in der Geschichte zu sein. Despoten früherer Zeitalter waren niemals so dem Wahn verfallen wie Hitler, der so weit ging, mit fanatischem Glauben ein neues mörderisches Herrenvolk zu schaffen.
8 - Wenn es keinen Krieg gegen Deutschland gibt - auch nicht wegen des Verbrechens an den Juden - dann wird es sicherlich auch keine Allianz mit ihm geben: Wie kann es eine Allianz zwischen einer Nation, die sich auf Gerechtigkeit und Demokratie beruft, geben und einer Nation, die ein erklärter Feind beider ist? Oder wird sich England auf eine Militärdiktatur hinbewegen?
9 - Können die Juden sich gegen diese schändliche Unterdrückung wehren? Gibt es einen Weg, die Selbstachtung zu wahren und nicht in das Gefühl der Ohnmacht, der Pflichtversäumnis oder der Niedergeschlagenheit zu verfallen?
10 - Es ist für mich wichtig zu erwähnen, dass es für die Juden leichter ist als für die misstrauischen Inder mein Rezept der "Satyagraha"- Kampagne zu folgen. Sie haben in den Indern Südafrikas ein konkretes Beispiel. Die Inder haben dort eine ähnliche Stellung verkörpert wie die Juden in Deutschland. Ihre Unterdrückung hatte auch einen religiösen Hintergrund gehabt, und somit können sie den Weg des friedlichen gewaltlosen Widerstands gehen.
11 - Die Juden Deutschlands können sich mit einer besseren Voraussetzung als die Inder Südafrikas mittels einer "Satyagraha" wehren. Sie haben doch die Weltöffentlichkeit hinter sich.
12 - Und noch ein Wort an die Juden Palästinas: Ich habe keinen Zweifel, dass sie dort den falschen Weg beschreiten und dass Palästina, nach Vorstellung des heiligen Buches, nicht ein geografisches Stück Land ist, sondern eine Herzensauffassung. Wenn sie nach dem geografischen Palästina als ihre nationale Heimat blicken, dann ist es falsch, es im Schutz der britischen Mörser zu betreten. Für die Juden gibt es hunderte von Wegen sich mit den Arabern zu verständigen, aber nur wenn sie auf die Gewehrlanze der Briten verzichteten. Tun sie das nicht, dann werden sie Partner der Briten bei der Beraubung eines Volkes sein, das ihnen kein Unrecht angetan hat.
13 - Ich verteidige hier nicht die Übergriffe der Araber und ich wünsche, sie würden den gewaltfreien Widerstand gegen das, was sie als illegitimen Angriff gegen ihr Land erfahren, suchen. Aber " gemäß der allgemein anerkannten Regeln des erlaubten und des unerlaubten " kann man bezüglich ihres Kampfes gegen die britisch-jüdische Aggression und gegen das Unrecht nichts gegen die Araber sagen.
14 - Lassen wir die Juden, die ein auserwähltes Volk zu sein glauben, ihre Fähigkeiten festigen, den gewaltfreien Weg für die Verteidigung ihres Platzes auf dieser Erde suchen. Jedes Land gilt als Heimat für sie, Palästina auch. Nicht durch Aggression, sondern durch Liebe. Ein jüdischer Freund schickte mir ein Buch mit dem Titel "Jewish Contribution to Civilization" von Cecil Roth. In dem Buch wird der Beitrag der Juden zur Bereicherung der Weltliteratur, der Kunst, der Musik, des Theaters, der Wissenschaft der Medizin und der Landwirtschaft, etc. aufgeführt. Mein Rat an die Juden: Sie dürfen nicht zulassen, im Westen als Verstoßene, von oben herab oder mit Verachtung behandelt zu werden. Sie können als menschliches Wesen mit dem Respekt und der Gunst der Weltöffentlichkeit rechnen. Dieses ist die von Gott gewollte Schöpfung. Im Gegensatz zu einem menschlichen Wesen, das den Hang hat, rasch in Barbarei zu verfallen " das wird von Gott missachtet.
Aus der ägyptischen Tageszeitung "ALmasry Alyoum" vom 11.04.09 ins Deutsche übersetzt: Riyad Helow, München
Gandhi: Die Juden und Palästina
Bis jetzt habe ich mich zurückgehalten, irgend etwas öffentlich zur Kontroverse zwischen Juden und Arabern öffentlich zu sagen. Dafür hatte ich gute Gründe. Das heißt nicht, daß ich mich nicht für diese Frage interessiert hätte., aber es heißt, daß ich mich nicht mit genügend Wissen zu diesem Zweck gewappnet fühle. Das ist auch der Grund, weshalb ich zu vielen anderen internationalen Ereignissen geschwiegen habe. Auch ohne zu diesen Stellung zu nehmen, habe ich bereits genügend Eisen im Feuer. Aber vier Zeilen in einer Zeitungskolumne haben es fertig gebracht, mich aus der Reserve zu locken. Sie lagen als Zeitungsausschnitt einem Brief bei, den mir ein Freund gesandt hat. Ich hätte diese Zeilen nicht gelesen, wenn ich nicht darauf aufmerksam genmacht worden wäre. Es stimmt, daß ich so etwas im Verlauf einer langen Unterhaltung über dieses Thema zu Mr. Louis Fischer gesagt habe. Ich glaube, daß den Juden von der Welt schreckliches Unrecht angetan wurde. Die jüdischen Wohnviertel werden, so weit ich weiß, in vielen Teilen Europas „Ghetto“ genannt. Aber ihre herzlose Verfolgung hätte wohl niemals die Frage nach einer Rückkehr nach Palästina aufwerfen können. Die Welt sollte ihre Heimat sein. Sei es auch nur um ihrer herausragenden Beiträge für sie.
Aber in meinen Augen haben sie sich schmerzlich geirrt, als sie begannen, sich Palästina mit Hilfe der Amerikas und Britanniens und jetzt mit nacktem Terrorismus .aufdrängten. Ihr Weltbürgertum sollte und hätte sie in jedem Land zu verehrten Gästen gemacht. Ihr wirtschaftliches Talent, ihre verschiedenen Fähigkeiten, ihre Fleiß sollten sie überall willkommen machen. Es ist ein schwarzer Fleck auf der christlichen Welt, daß sie aufgrund einer Mißinterpretation des Neuen Testaments ausgeguckt wurden und ihnen mit Vorurteilen begegnet wird. „Wenn ein individueller Jude etwas Schlimmes anstellt, wird das der ganzen jüdischen Welt zum Vorwurf gemacht.“ Wenn ein individueller Jude wie Einstein eine große Entdeckung macht oder rein anderer vortrefflich Musik komponiert, ist das das Verdienst der Urheber und nicht das der Gemeinschaft, der sie angehören.
Kein Wunder, daß meine Sympathie den Juden mit ihrem wenig beneidenswerten, traurigen Schicksal gehört. Aber man sollte denken, daß die Anfeindungen sie die Lektionen des Friedens gelehrt hätten. Warum sollten sie sich von amerikanischem Geld und britischen Waffen abhängig machen, um sich einem Land gewaltsam aufzuzwingen, das sie nicht willkommen heißt? Weshalb sollten sie zu terroristischen Mitteln greifen, um sich in Palästina den Zutritt zu erzwingen? Würden sie zur unvergleichlichen Waffe der Gewaltlosigkeit greifen, deren Gebrauch ihre besten Propheten gelehrt haben und die Jesus, der Jude, der froh die Dornenkrone trug, einer leidenden Welt als Vermächtnis ließ, wäre ihre Sache die der ganzen Welt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß von den vielen Dingen, die die Juden der Welt gegeben haben, dies das beste und schönste wäre. Sie wäre doppelt gesegnet. Sie würde sie glücklich machen und reich im wahrsten Sinne des Wortes - und es wäre wohltuender Balsam für eine leidende Welt.
Panchagani, 14. Juli 1946
Harijan, 21. Juli 1946, ins Deutsche übersetzt von Dieter Elken, Strausberg