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Je suis Charlie

von Dieter Elken

Für einen großen Teil der angelsächsischen Linken ist Charlie Hebdo (CH) ein islamophobisches Hetzblatt. Zumindest aber leistet es danach der Islamophobie mit seinen Karikaturen Vorschub. So schreibt David North: ”Die zynisch provokanten anti-muslimischen Karikaturen, die auf so vielen Titelblättern von Charlie Hebdo erschienen sind, haben das Wachstum der rechtsgerichteten chauvinistischen Bewegungen in Frankreich erleichtert und begünstigt.” http://www.wsws.org/en/articles/2015/01/09/pers-j09.html

Und wo der Vorwurf der Islamophobie im Raum steht, läßt die Gleichsetzung mit Rassismus nicht auf sich warten.

Richard Seymour, ein britischer Linker und blogger, sieht CH als Teil einer Art sich selbst ad absurdum führenden “nationalen Einheit”, die Moslems rassistisch ausgrenzt und sich dabei letztendlich zu Unrecht auf die Idee der Meinungsfreiheit und des Säkularismus beruft, weil diese Konzepte in einer rassistischen Gesellschaft notwendig rassischen Charakter hätten:

”Das Recht auf Meinungsfreiheit ist wie jedes andere von einer liberalen Demokratie hochgehaltene Rechtsgut immer relativ und bedingt. Rechte sind nur in Situationen sinnvoll, in denen sie durch eine politische Autorität zur Geltung gebracht und geschützt werden können, dem Staat: Als solche sind sie relativ, bedingt und mit Pflichten verbunden. Es ist eine naive libertäre Phantasie zu glauben, daß der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft einfach außer Acht gelassen werden könnte oder daß das Recht auf freie Meinungsäußerung in einem absoluten Sinne verwirklicht werden könnte: nur absolute Monarchen haben absolute Rechte.

Zieht man dies in Betracht, ergibt sich daraus folgerichtig, daß Verbote und Erlaubnisse in modernen rassisch geprägten Staaten rassischen Charakters sind — und zwar gerade dann, wenn sie in formell in “farbenblinder” Weise gefaßt werden. Und die Geltendmachung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in den herrschenden Medien muß derselben Logik folgen.” http://www.leninology.co.uk/2015/01/how-france-makes-jihadis.html

Das klingt gelehrt und ist doch höherer Blödsinn. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist ein Recht, das kritische Menschen für sich in Anspruch nehmen müssen — unabhängig von Staaten. Ein Recht, das von rebellischen Minderheiten im Namen der Aufklärung gegen staatliche und religiöse Denkverbote, Dogmen sowie Verbote behauptet und immer wieder neu durchgesetzt werden mußte und muß. Als Zwilling der Kunstfreiheit ist es prinzipiell immer ein Abwehrrecht gegen Versuche geblieben, das kritische Denken und kreative Phantasie durch Verbote und gewaltsame Repression einzuschränken. Es ist und bleibt absolut und seinem Charakter nach unabhängig von allen Reglementierungen, legalistischen Einschränkungen und spießigen Bedenkenträgern eine Voraussetzung für den Kampf um die Erweiterung menschlicher Freiheitsspielräume. Die Berufung auf die Meinungsfreiheit wie die Kunstfreiheit bleibt hohle Phrase, wenn sie nicht zugleich geltend gemacht wird.

Richard Seymour verliert sich in leeren Abstraktionen, um seiner These Plausibilität zu verleihen, daß islamkritische Satire in einer islamophobischen Gesellschaft notwendig Bestandteil des vordergründig nationalen islamophobischen Konsenses sein muß . Einen Beweis liefert er nicht. Wieso Atheisten, die sich wie CH ständig gegen die Diskriminierung von Immigranten wenden, mit ihrer Religionskritik schweigen sollen, wenn Chauvinisten ihren Chauvinismus mit Religionskritik verbrämen, bleibt unerklärt. Philosophisches Lagerdenken nützt niemandem.

Inwieweit Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit in gegebenen Staaten durchgesetzt werden können, hängt von den politischen und sozialen Kräfteverhältnissen der jeweiligen Klassengesellschaft ab. Die Frage nach der Durchsetzbarkeit des Rechts auf Meinungsfreiheit muß konkret gestellt werden. Welche Meinung wird geltend gemacht, welche gesellschaftlichen Kräfte halten diese Meinung gerade für nützlich oder schädlich etc. etc.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich die politische Reaktion in den imperialistischen Staaten das Attentat auf CH zu Nutze gemacht hat, um den nationalen Konsens in den imperialistischen Staaten zu beschwören. Für gewöhnlich wird dabei zwischen den guten friedlichen Moslems und den schrecklichen, gewaltbereiten Islamisten unterschieden. Gleichzeitig erstarkten auch islamopohobische Strömungen, die darauf abzielen, alle Moslems auszugrenzen.

Aber es ist infam, CH und selbst die getöteten Redaktionsmitglieder von CH zu einem Bestandteil, wenn nicht Motor der islamophobischen Stimmungen zu deklarieren. Einer der getöteten Karikaturisten hat übrigens immer wieder Karikaturen in der trotzkistischen Zeitung Lutte Ouvrière veröffentlicht. LO ist die trotzkistische Organisation in Frankreich, die bemerkenswert viele Anhänger unter Arbeitern migrantischer Herkunft hat. Bei seiner Beisetzung wurde die Internationale gesungen. Der Umstand, daß CH alle religiösen Fanatiker zum Gegenstand seiner Karikaturen machte, christlich, jüdisch oder islamisch, spielt für die angelsächsischen Kritiker keine Rolle. Für sie ist CH dennoch Bestandteil des rassistischen nationalen Konsenses der offiziellen französischen Gesellschaft.

Die Begründung hierfür ist letztendlich simpel: Es wird unterstellt, daß jede satirische und kritische Auseinandersetzung mit dem Islam nicht nur den Islam, sondern auch alle Muslime beleidigt.

Beispielhaft wurde dies im US-amerikanischen Counterpunch formuliert:

“Es liegt auf der Hand, daß Charlie Hebdo unter der Maske des Repräsentanten der stolzen Tradition der aufklärerischen Satire, diese hochgeschätzte Tradition zu dem bösartigen Zweck mißbraucht hat, die Religion, die Kultur und den Propheten von 1,6 Milliarden Muslimen weltweit herabzuwürdigen.” http://www.counterpunch.org/2015/01/16/making-sense-of-the-paris-terrorist-attacks

In Frankreich war die katholische Kirche schon häufig der Ansicht, sie sei von Charlie Hebdo zu harsch kritisiert worden. Fünfzehn verlorene Prozesse der Kirche gegen Charlie Hebdo sprechen eine deutliche Sprache. Zu einem Meinungswandel in Sachen Meinungsfreiheit hat das dennoch nicht geführt, wie Papst Franziskus auf den Philippinen deutlich gemacht hat:

«Viele Menschen ziehen über Religion her, das kann passieren, hat aber Grenzen. Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen» (zitiert nach der NZZ)

Und genau damit wird der Kern der ganzen Auseinandersetzung offen gelegt: Es geht darum, wer bei der Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der kritischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Religionen und ihren Anhängern bestimmt, wo die Grenzen der Zulässigkeit dieser Auseinandersetzung liegen. Die Kritiker oder die, die sich mit der betroffenen Institution identifizieren. Wenn sich Anhänger einer Religion, Glaubensgemeinschaft, einer Partei oder einer sonstigen Vereinigung beleidigt fühlen, wenn die Religion, der Glaube, die Organisation kritisiert wird, ist das deren Problem. Das müssen sie hinnehmen und zwar unabhängig von der Frage, ob die Form der Kritik pädagogisch sinnvoll, psychologisch geschickt, aus marxistischer Sicht angebracht ist oder nicht.

Deshalb bleibe ich dabei: Satire darf alles!

Nachbemerkung:

Einige Autoren distanzieren sich von CH u.a. mit der Begründung, man könne mit Karikaturen und Darstellungen, die die Angehörigen von Religionsgemeinschaften beleidigen oder ihre religiösen Gefühle verletzen, die Gläubigen nicht zu Atheisten bzw. Materialisten machen. Das ist an sich schon Realsatire. Was sind denn religiöse Gefühle? Diese so viel beschworene Sorte Gefühle ist genauso wenig bestimmbar, wie die vor einiger Zeit in einem deutschen pop song besungenen elektrischen Gefühle.

Aber immerhin, die Feststellung, daß Gläubige durch Satire nicht zu Atheisten werden, ist richtig. Wenn es um Glaubensfragen geht, vergeht den Gläubigen aller Couleur für gewöhnlich jeder Sinn für Ironie, Spott und Humor. Aber warum wollen uns diese Autoren weismachen, daß Satiriker mit ihrem Spott, mit ihrer Ironie und ihren Darstellungen glauben, die Religionen im marxistischen Sinne überwinden zu können? Wo haben z.B. Karikaturisten, die den Kindesmißbrauch von Priestern der katholischen Kirche satirisch aufs Korn genommen haben, jemals erwartet, pädophile Priester mit Satire auf den Weg der Tugend zu führen? Diese Art der Auseinandersetzung mit CH läßt sich nur mit den Schlagworten THEMA VERFEHLT kommentieren.