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Meno Hochschild / Dieter Elken:

Antizionismus = Antisemitismus?

Auf diese Frage antwortet die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) aus Freiburg, die dem Thema eine komplette Doppelnummer ihrer Zeitschrift "Kritik & Krise" gewidmet hat, mit einem eindeutigen Ja. Dabei wirft sie der antizionistischen Linken "völkisches" und nationales Denken vor. Bedenken, ob die verschiedenen politischen Strömungen der Linken so über einen Kamm zu scheren sind, zerstreut sie mit dem Satz: "Aber schon ein "oberflächlicher Blick auf die Haltung 'der Linken' zu Israel genügt, um zu wissen, daß, je mehr verschiedene Linke man kennt, um so weniger differenziert werden muß. "( S.37)

Für das stalinistisch beeinflußte Spektrum macht der Vorwurf nationalen Denkens Sinn, wie die ISF mit Zitaten zu belegen weiß. Darüberhinaus gab und gibt es antizionistisch verbrämte antisemitische Tendenzen beim Stalinismus (auf die ich 1991 in meinem Artikel "UdSSR/Palästina: Antisemitismus bedroht die Intifada" hinwies). Das ISF argumentiert schließlich mit der Übernahme des Begriffs "Antizionismus" durch die heutige Nazi-Szene. Aber auch die Radikale Linke (RL) meinte, der Antizionismus habe seit Auschwitz seine Unschuld verloren.

Aber Differenzierung tut not. Der Mißbrauch von Namen und politischen Theorien durch vermeintliche Freunde, aber auch Feinde, der bislang noch jeden Theoretiker und jede Theorie ereilte, ist nicht notwendig den jeweiligen Theorien anzulasten. Wäre dem so, hätte auch der Marxismus nach Stalin seine Unschuld verloren und es müßten ständig neue Begriffe entwickelt werden. Werden wir uns lieber der fruchtbareren inhaltlichen Debatte dessen zu, was den marxistischen, authentischen Antizionismus ausmacht, den ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt habe.

Ist Propaganda für nationale Selbstbestimmung antisemitisch?

Doch just hier "findet" die Initiative Sozialistisches Forum weitere Haare in der Suppe: "Und weil die Propaganda für das 'Selbstbestimmungsrecht der Völker fundamental antisemitisch und strukturell rassistisch ist, darum hat sie in der Linken nichts verloren. "(S.-41)

Für die ISF ist das schon völkisches Denken. Dementsprechend wird die Leninsche Unterscheidung zwischen Unterdrücker- und unterdrückten Nationen für unerheblich gehalten, ja, sogar mit dem Hitlerschen Antagonismus von "plutokratischen" und "proletarischen Nationen" verglichen.

Da die Unterdrückung der palästinensisch-arabischen Nation durch Israel eine nicht einmal durch die ISF zu leugnende Tatsache ist, können Marxisten sich schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit nur mit deren Kampf für das Selbstbestimmungsrecht solidarisieren. Sie können allerdings nicht bei der Anerkennung dieses Selbstbestimmungsrechts stehen bleiben. Es ist für sie Mittel der Emanzipation der palästinensischen Arbeiterklasse, mit der strategischen Zielsetzung eines vereinigten sozialistischen Nahen Ostens, worin alle Nationen, die jüdisch-israelische eingeschlossen, gleichberechtigt zusammenleben. Das hat mit "nationalem Denken" nichts zu tun.

Doch die ISF meint, die Propaganda für das Recht auf Selbstbestimmung (auch der unterdrückten Nationen) sei "konterrevolutionär, weil (...) sie 'Blut und Boden' als Denkformen der Politik bestätigt. "(S.49)

Das ist platter Idealismus. Die ISF setzt sich als Norm die Verfechtung des "revolutionären Antinationalismus", "die staaten- und klassenlose WeltgeseIlschaft". Doch der Antinationalismus wird nicht praktisch, aus den Notwendigkeiten des Klassenkampfs heraus begründet, sondern idealistisch als negativer Nationalismus formuliert. Unabhängig davon, wie sich in der Praxis die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts auswirkt, wird es nur deshalb abgelehnt, weil es in die Schublade "nationaler" Forderungen gelegt wird. Denken in abstrakten Kategorien anstatt in realen Prozessen! Wie bei Idealisten zu erwarten, gilt der ISF die Praxis nicht viel:

"Was ein Faktum ist und was eine empirische Tatsache, das vermag erst Theorie zu identifizieren. Außerdem 'beweisen' Fakten nichts, sondern sie illustrieren und plausibilisieren Argumente, die an sich wahr sein können oder falsch."(S.42)

Für Marxisten sind Argumente und Theorien nie "an sich" wahr oder falsch. Der Wahrheitsgehalt von Theorien und Argumenten erweist sich erst in der Praxis und durch die Praxis. Also bewerten Marxisten das Selbstbestimmungsrecht nicht abstrakt danach, ob es der Norm des Antinationalismus zuwiderläuft, sondern danach, welche Auswirkungen diese Forderung auf die konkrete Situation des realen Klassenkampfs hat.

Kolonialismus als Notwehrrecht bedrängter Völker?

Interessant, weil für sich selbst sprechend, sind die praktischen Konsequenzen der Haltung der ISF zum Selbstbestimmungsrecht, das sie den Palästinensern abspricht. Diese Haltung treibt die ISF in die Arme des Zionismus und Kolonialismus. Die ISF schreckt auch nicht davor zurück, Immanuel Kant für die Begründung eines "Rechts" auf Kolonialismus einzuspannen:

"Der revolutionäre Antinationalismus wird den Gedanken sich zueignen , den 1795 (.,,) Kant (...) faßte, die Idee des 'Weltbürgerrechts',' '(Dieses Recht) bedeutet (...) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dero Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz friedlich sich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist (..) Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde".(S.49f)

Obwohl die ISF zugibt, daß die fremden Eroberer in Palästina durchaus nicht friedlich sind und waren und obwohl demnach nach Kant die Palästinenser das Recht zur Abweisung hatten, stellt sie fest:

"(...), daß es der nationalen Verfassung der Weltgesellschaft wegen legitim ist, aus Notwehr oder Nothilfe dies 'Besuchsrecht' zu erzwingen. "(S.50)

Wir sehen, der normative Antinationalismus landet dort, wo er scheinbar nicht "hinwollte". Die ISF wird im Falle Israels plötzlich sehr staatsliebend und national, eben prozionistisch. Konsequent stellt die ISF fest: "Das Recht eines jeden Juden auf die israelische Staatsbürgerschaft ist zwar alles andere als die Lösung der Antisemitenfrage aber eine historische Errungenschaft ersten Ranges. "(S. 46)

Überflüssig zu erwähnen, daß die ISF ein Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser nicht anerkennt.

Abschließend sei bemerkt, daß derlei Widersprüche in "Kritik & Krise" Nrn. 4/5 Legion sind, woran auch der extrem abstrakte und pseudointellektuelle Stil nichts zu ändern vermag. Arroganz muß in "Kritik und Krise" die Schwäche der Argumentation überdecken. Angesichts dieser Schwäche ist es um so verwunderlicher, daß die Initiative Sozialistisches Forum in der Endzeit der Alt-BRD mit ihrer selbstgestellten Hauptaufgabe, der Verleumdung des marxistischen Antizionismus als antisemitisch, bei einem erheblichen Teil der westdeutschen Restlinken einen so durchschlagenden Erfolg hatte. Auf der Stärke ihrer Argumente beruht dieser Erfolg nicht.

Erstveröffentlichung 1992