Schwierigkeiten mit dem Trotzkismus

Eine Buchrezension

Der Wirtschaftshistoriker Herbert Meißner hat im Berliner Verlag wiljo heinen 2011 das Buch “Trotzki und Trotzkismus gestern und heute. Eine marxistische Analyse” veröffentlicht.

Seinem Anspruch wird das Buch nicht gerecht.

Im ersten, der Person Trotzki gewidmeten Teil, bemüht sich der Autor um eine Würdigung des Lebenswerks Trotzkis, diskutiert dessen Verdienste sowie dessen vermeintliche und tatsächlich begangenen politischen Irrtümer.

Die Parteifrage

Meißner beansprucht, nur wesentliche Punkte aufzugreifen. Weshalb er die Partei-und Organisationsfrage vor 1917 für wesentlich hält, um das Wesen des Trotzkismus zu erhellen, erschließt sich dem Leser nicht. Interessant ist das allenfalls unter dem Aspekt der späteren Rezeption durch Nichttrotzkisten, darunter nicht zuletzt Theoretikern des Stalinismus. Bei der Erörterung der Organisations- bzw. Parteifrage in der Zeit vor 1917 versäumt es der Autor aber zu erläutern, weshalb Trotzkis seinerzeitige Kritik an Lenin —die von Rosa Luxrmburg damals geteilt wurde- trotz des späteren selbstkritischen Bekenntnisses zum Parteiaufbaukonzept Lenins immer wieder positiv von Kritikern der Sowjetunion aufgegriffen wurde. Und zwar nicht zuletzt auch gegen Trotzki. Meißner, dem es genügt, die Übereinstimmung von Lenin und Trotzki spätestens ab 1917 festzustellen, verpaßt so die Chance, darzustellen, daß die Bürokratisierung des nachrevolutionären Rußland präzise zu benennende materielle Ursachen hatte (strukturelle sozioökomische Rückständigkeit des Landes, Bürger- und Interventionskrieg, massive Kriegszerstörungen, Isolation der Revolution). Sie war nicht die Folge einer falschen Parteikonzeption.

Meißners Sicht der Entstehung des Trotzkismus als politische Strömung ist fragwürdig. Für ihn entsteht der Trotzkismus bereits mitten in der Bürgerkriegsperiode Rußlands, ab 1918. Hier läßt er sich von Trotzki-Biographen und möglicherweise auch von der antitrotzkistischen Kampagne der von Stalin, Kamenew und Sinowjew gebildeten “Troika” späterer Jahre auf den Holzweg führen. Diese beschreiben Konflikte zwischen Trotzki als Oberbefehlshaber der Roten Armee und Stalin während des Bürgerkrieges. Das ist für Biographen interessant. Die herausragende Rolle Trotzkis als Kriegskommissar und Organisators der Roten Armee zu würdigen, ehrt Meißner, aber sie steht mit der Entstehung des Trotzkismus nicht in direktem ursächlichen Zusammenhang, ebensowenig, wie die zweifelhaften militärischen Aktionen Stalins und seiner engsten Vertrauten im Bürgerkrieg.

Wann entstand der Trotzkismus?

Tatsächlich beginnt der Trotzkismus als organisierte politische Strömung mit dem Kampf gegen bürokratische Verkrustungen in der Kommunistischen Partei, einer kritischen Würdigung der von Trotzki ursprünglich als erstem initierten Neuen Ökonomischen Politik und mit dem Kampf für einen planmäßigen sozialistischen Aufbau. Der Kampf gegen den überbordenden Bürokratismus wurde im übrigen vom todkranken Lenin aufgenommen, nicht von Trotzki. Dieser blieb zunächst sehr zögerlich. Als Gründungszeitpunkt kann der 15. Oktober 1923 festgehalten werden, als 46 führende Parteimitglieder —darunter Trotzki- dem Politbüro eine Erklärung zu den v.g. Themen übergaben. Die Unterzeichner hatten bei früheren Kontroversen häufig verschiedenen “Lagern” angehört. Erst danach begann die Kampagne gegen den “Trotzkismus”. Bis heute wird dieser Kampf von stalinistischen Betonköpfen und ihren Schülern mit dem angeblichen Antileninismus Trotzkis geführt. Meißner diskutiert dann nicht zuletzt die Frage der persönlichen Angriffe auf Trotzki. Den eigentlichen Kampf erst der Linken Opposition der KPdSU 1923-1925 und den der Vereinigten Linken Opposition ab 1926 klammert er aus. Stattdessen konzentriert er sich auf die Frage nach dem Aufbau des “Sozialismus in einem Lande” und, im Gegensatz dazu, die Theorie der “permanenten Revolution”. Letztere erklärt er zum Hauptinhalt des Trotzkismus.

“Sozialismus in einem Lande” — Was war kontrovers?

Meißners Darstellung krankt daran, daß er den Kern des Fraktionskampfes der zwanziger Jahre nicht erfaßt hat. Er verwechselt die Frage, ob es möglich ist den Aufbau des Sozialismus in einem Land zu vollenden mit der Frage, ob es möglich ist, mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen. Letzteres war niemals strittig. Bei seiner Darstellung bleibt Meißners marxistischer Selbstanspruch auf der Strecke. Er übersieht, daß es seit Marxens Feststellung im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 zum ABC des Marxismus gehört, daß der Sozialismus nur das gemeinsame Werk der Proletarier der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder sein kann. Marx schrieb: “Vereinte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.”

Meißners “marxistische Analyse” begibt sich dann auf das Niveau der scholastischen Zitatenklauberei, wobei er aus dem Zusammenhang gerissene Zitate Lenins —den beginnenden Aufbau des Sozialismus betreffend- als “Beweis” seiner abstrusen These anführt, daß die Theorie vom möglichen “Sozialismus in einem Lande” von Lenin selbst entwickelt wurde.

Kampf um den Weg zum sozialistischen Aufbau

Meißners Festhalten an dieser altstalinischen Legende erklärt den für einen Wirtschaftshistoriker erstaunlichen Vorgang, daß ihm der zentrale Inhalt des Fraktionskampfes in der KPdSU der zwanziger Jahre, nämlich die Frage nach dem schnellstmöglichen genauer: optimalen Weg des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion, nahezu vollständig aus dem Blickfeld gerät. Der Beitrag der sowjetischen Linken Opposition hierzu muß jedoch tatsächlich als das Fundament der trotzkistischen Bewegung angesehen werden. Hier ging zunächst es um den Kampf gegen die Gefährdung des sozialistischen Aufbaus durch eine ungezügelte Fortsetzung der Neuen Ökonomischen Politik und später gegen die abenteuerliche Politik der überhasteten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sowie der damit einhergehenden beschleunigten Industrialisierung bei damit einhergehender Entfaltung des bürokratischen Terrors gegen Arbeiter, Bauern und sogar die Mitgliedschaft der KPdSU auf allen Ebenen. Die Festigung und Konsolidierung des bürokratischen Herrschaftsapparats in Partei und Staat und die Ausdehnung des Terrors auch auf den Apparat selbst gehen dabei Hand in Hand.

Der Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Innenpolitik

Meißner versteht offenkundig nicht, daß sich an der Entwicklung der sowjetischen Außenpolitik die sich wandelnde politische Bedürfnislage des Parteiapparats verfolgen.läßt: Im Zuge des Bürger- und Interventionskrieges gegen das revolutionäre Rußland war sie zu schmerzhaften Kompromissen gezwungen worden. Nachdem dieser Krieg militärisch siegreich beendet worden war, hofften die Führer der Revolution auf schnellstmöglichen Entsatz durch das westeuropäische Proletariat und dessen ökonomische Hilfe. Aber die revolutionäre Nachkriegswelle in Mitteleuropa stockte, weil der Aufbau revolutionärer Parteien dort langsamer voranging als erhofft. Sinowjew an der Spitze der Kommunistischen Internationale (KI), deren Ziel selbstverständlich die Weltrevolution war, wollte die Weltrevolution künstlich beschleunigen. Er und seine Emissäre trieben die KPD 1921 in die abenteuerliche, putschistische Märzaktion. Danach beschloß die KI auf Drängen Lenins und Trotzkis eine strategische Wende. Als zentrale Aufgabe aller Sektionen der Internationale wurde benannt, die Mehrheit der Arbeiterklasse und der sonstigen werktätigen Massen für die Revolution zu gewinnen. Wichtigstes taktisches Instrument hierfür war die Einheitsfrontpolitik. Der 4. Weltkongreß gab allen Sektionen den Auftrag, in ihre Programme Übergangsforderungen aufzunehmen, um die Gewinnung der Massen für eine revolutionäre Politik zu erleichtern. Nur die trotzkistische Bewegung hat dieses politische Erbe Lenins und Trotzkis bewahrt.

Nachdem der deutsche Oktober 1923 trotz zuvor beachtlicher Erfolge mit dieser Linie am Dilettantismus und der Unentschlossenheit der deutschen Parteiführung wie auch der KI-Emissäre scheiterte, richtete sich die Führung der KPdSU mehrheitlich auf eine längere Periode kapitalistischer Stabilität ein. Die These von der Möglichkeit der Vollendung des Sozialismus in einem Land kam danach dem sozialpsychologischen Bedürfnis des Apparats nach Stabilität entgegen. Ideologisch entbrannte zugleich der Streit um die Lehren aus der russischen Oktoberrevolution.

In dieser Phase, parallel zu ihrer Politik der Begünstigung reicher Bauern in der Sowjetunion, betrieb die UdSSR in Bezug auf England (anglo-russisches Gewerkschaftskomitee 1926), China (Eintritt in die Kuomintang und Unterordnung unter deren bürgerliche Führung 1925-27), eine opportunistische Politik. Meißner verzichtet darauf, die Diskussion um die Theorie der permanenten Revolution in den Zusammenhang zu stellen, in dem sie historisch geführt wurde, nämlich den der chinesischen Revolution 1925-27. Er diskutiert stattdessen Trotzkis Erwartungen hinsichtlich der Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg. Den realen historischen Hintergrund der Kontroverse um die These von der Möglichkeit der Vollendung des sozialistischen Aufbaus in einem Lande blendet er aus. Als die bürokratische Politik im Innern (Kulakenrevolte 1928) und auf internationaler Ebene (Auseinanderfliegen des anglorussischen Komitees 1926, Massaker in Shanghai 1927) scheiterte, vollzog die Bürokratie eine umfassende Wende: Parallel zum radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel in der Sowjetunion —überhastete Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und beschleunigte Industrialisierung- wurde auf internationaler Ebene die Sozialdemokratie zum Zwilling des Faschismus und Hauptfeind erklärt und die sofortige Machteroberung als Ziel deklariert. Beide Varianten der bürokratischen äußeren Politik unter Stalin —von der Linken Opposition als bürokratisch-zentristischer Zick-Zack-Kurs beschrieben, brachen umfassend mit dem politischen Erbe der russischen Oktoberrevolution, das durch die ersten vier Weltkongresse der Kommunistischen Internationale festgehalten worden war.

Zwei Linien im Kampf gegen den Faschismus

Meißner bringt es nicht nur fertig, von diesen realen politischen Kontroversen zu abstrahieren, sondern auch von der Debatte um den Kampf gegen den Faschismus. Trotzki und die Linke Opposition hatten seit 1929 einen intensiven Kampf für die Bildung einer Einheitsfront zwischen KPD und SPD gegen den aufkommenden Faschismus geführt. Die KPD und die Komintern propagierten die Sozialfaschismustheorie und erklärten die SPD zum Hauptfeind. Die gespaltene deutsche Arbeiterbewegung kapitulierte 1933 kampflos vor den Nazis. Als die Komintern vor dem von ihr angerichteten Scherbenhaufen stand, erklärte sie, es sei nichts Relevantes passiert. Sie leugnete, daß die deutsche und internationale Arbeiterbewegung eine Niederlage historischen Ausmaßes erlitten hatte und setzte ihre unheilvolle Politik zunächst fort. Diese Unfähigkeit der KI, eine welthistorische Niederlage zur Kenntnis zu nehmen, veranlaßte die Internationale Linke Opposition der KI dazu, ihr Ziel einer Reformierung der Kommunistischen Internationale aufzugeben und den Aufbau einer neuen Weltpartei der Sozialistischen Revolution anzustreben, die Vierte Internationale, die 1938 gegründet wurde.

Spanien: Der Übergang zu offen konterrevolutionärer Politik im Namen der Volksfront

Die sich entwickelnde spanische Revolution bewies, daß die Komintern nicht mehr in der Lage war, auf revolutionäre Positionen zurückzukehren. Sie hatte 1935 eine politische Wende vollzogen und strebte jetzt ein strategisches, langandauerndes Bündnis mit den demokratischen imperialistischen Mächten gegen die faschistisch regierten Staaten an. Die Erhaltung des internationalen Status quo wurde ihre politische Leitschnur.

Um dieses angestrebte Bündnis mit der internationalen Bourgeoisie zu ermöglichen, gab sie jeden Ansatz zu einer unabhängigen proletarischen Interessenpolitik mit dem Ziel der Eroberung der Macht und dem Beginn des Aufbaus des Sozialismus auf. Die Kommunistischen Parteien hatten sich im Interesse eines antifaschistischen Bündnisses mit bürgerlichen Kräften im Rahmen einer Volksfront deren bürgerlichen Interessen unterzuordnen. In Spanien 1936-39 zeigte die Komintern, daß sie bereit war, mit Waffengewalt die proletarische Revolution im Namen des Antifaschismus zu zerschlagen.

Das war letztlich die Nagelprobe auf den reaktionären politischen Gehalt der Theorie des möglichen Aufbaus des Sozialismus in einem Lande.

Stalinismusanalyse

Wie alle Autoren, die durch die politische Schule des Stalinismus gegangen sind, hält auch Meißner nichts vom Begriff Stalinismus. Die Ungeeignetheit des Begriffs wird stets damit begründet, daß dieser auch von Antikommunisten benutzt wird. Das ist natürlich genausowenig ein Argument, wie die zionistische Denunziation des Begriffs Antizionismus mit der Begründung, daß auch Nazis diesen Begriff benutzen, um dem in letzterem Falle berechtigten Vorwurf des Antisemitismus auszuweichen. Die trotzkistische Bewegung bezeichnet als Stalinismus das unter Stalin und seiner Herrschaft politisch verselbständigte (nicht entstandene) System bürokratischer Herrschaft im Arbeiterstaat, dessen pseudo-marxistischen theoretischen Ausdruck und die mit ihm strukturell verbundene Politik. Der Begriff ist denjenigen, die dieses System und seine Politik ohne Massenterror und Schauprozesse fortführen wollten, verständlicherweise unangenehm. Aber trotzdem ist der Begriff unverzichtbar, weil es historisch auch andere bürokratische Systeme gab.

Trotzki gebührt das Verdienst, in seiner Schrift “Verratene Revolution” als erster eine umfassende materialistische Analyse des Stalinismus vorgelegt zu haben, wobei er sich auch auf die Diskussionen mit anderen sowjetischen Linksoppositionellen wie z.B. Christian Rakowsky stützen konnte. Meißner erkennt dies an, mäkelt aber an der Art und Weise herum, wie Trotzki den Aufstieg Stalins an die Spitze der Bürokratie beschreibt. Dabei versteigt er sich zu so absurden Interpretationen und Behauptungen wie die, daß die Bürokratie in Stalin zu Anfang der zwanziger Jahre noch gar nicht ihren Führer sehen und ihn zu ihrer Galionsfigur machen konnte, weil diese neue soziale Kaste zu diesem Zeitpunkt noch gar keine selbständige politische Kraft gewesen sei.

Er verkennt dabei, daß sich die Bürokratie nicht in einer Art Urknall verselbständigte, sondern daß der im Sowjetstaat wuchernde Bürokratismus sich zunächst mit der Kommunistischen Partei verschmelzen mußte und sodann nicht ein formeller Auswahlprozeß stattfand, sondern daß sich derjenige Parteiführer in den parteiinternen Fraktionskämpfen durchsetzte, dessen Politik die Interessen der bürokratische Kaste am Besten zum Ausdruck brachte und damit den größten Rückhalt fand. Alle Fraktionskämpfe fanden immer zugleich ihren Widerhall in den verschiedenen Teilen des Apparats. Der Aufstieg Stalins ist das Ergebnis dieses Prozesses. Meissners Hinweis, daß auch Kamenew, Sinowjew, Bucharin oder Trotzki über den Parteiapparat hätten verfügen können, zeugt von einem unzureichenden Verständnis für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Parteiführung und Partei- sowie Staatsapparat.

Schließlich bemängelt Meißner, daß Trotzki das Ausmaß der desaströsen Auswirkungen des Stalinismus auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens zu schwarz zeichnete. Er setzt dem seine Erfahrungen aus mehrjährigen Aufenthalten in der Sowjetunion entgegen. Das geht am Gegenstand seiner Kritik vorbei. Trotzki analysierte die Rückschritte der gesellschaftlichen Entwicklung der UdSSR in den zwanziger und dreißiger Jahren. Meißners Kritik setzt sich damit nicht auseinander und ignoriert eine Unmenge gesicherter Erkenntnisse über die katastrophalen Resultate der Gängelung des Wissenschafts- und Kunstbetriebes, der regressiven und spießigen Familienpolitik etc. etc. Dem positive Erlebnisse vor allem aus der Zeit nach dem Ende des offenen Massenterrors nach Stalins Tod entgegensetzen zu wollen, ist schlicht unseriös und hat mit materialistischer Kritik nichts zu tun.

Von ähnlicher Qualität ist das Lamento Meißners über die Artikel Trotzkis, in denen dieser auf ähnliche Charakterzüge der Apparate in faschistischen Staaten und der Sowjetunion hinwies.

Er ist der Ansicht, daß Trotzki damit einen Grundstein für antikommunistische Totalitarismustheorien legte. Meißners Empörung demonstriert, daß er die außerhalb der Sowjetunion von unabhängigen Marxisten geführten Debatten der dreißiger Jahre um den sozialen Charakter der Sowjetunion allenfalls oberflächlich kennt. Hätte er es bei seiner Kritik belassen, könnte man über die Feststellung, daß Meißner kein Argument gegen diese den historisch vielfach belegten Tatsachen entsprechenden Feststellungen vorbringt, sondern sich stattdessen auf den Boten der ungeliebten Nachricht stürzt, zur Tagesordnung übergehen. Für Marxisten leistete die Politik Stalins dem Antikommunismus vorschub, die den Kommunismus in der internationalen Arbeiterklasse diskreditierte und damit den Nährboden für Erfolge der bürgerlichen Propaganda schuf.

Aber Meißner leistet sich in seiner emotionalen Verve den Lapsus, sich auf ein durch Auslassung gefälschtes Zitat zu stützen. Er schreibt Trotzki die Aussage zu, ”daß kein Unterschied zwischen dem Sowjetstaat und den faschistischen Ländern besteht.” Er hat sogar die Stirn, diese These seit 1940 zum “Allgemeingut trotzkistischen Denkens” zu erklären. Tatsächlich schrieb Trotzki: ”Viele kleinbürgerliche Radikale, die eben noch bereit waren, die Sowjetunion als eine Achse für die Sammlung der ‚demokratischen’ Kräfte gegen den Faschismus zu betrachten, haben plötzlich, als ihre eigenen Vaterländer von Hitler bedroht wurden entdeckt, daß Moskau, das ihnen nicht zu Hilfe kam, eine imperialistische Politik verfolgt und daß es keinen Unterschied zwischen der UdSSR und den faschistischen Ländern gibt. Lüge! Wird jeder klassenbewußte Arbeiter entgegnen — es besteht ein Unterschied. Die Bourgeoisie bewertet diesen gesellschaftlichen Unterschied besser und gründlicher, als es die radikalen Windbeutel tun.”

Diese Fälschung diskreditiert Meißners Anspruch vollends, eine marxistische Analyse zu präsentieren.

Was fehlt: Stalinismus und Konterrevolution

Trotzki und mit ihm die trotzkistische Bewegung hatten die Verselbständigung der sowjetischen Bürokratie und ihre absolute politische Herrschaft für die erste Etappe einer möglichen sozialen Konterrevolution gehalten, aber dabei betont, daß die bürokratischen Tendenzen in diese Richtung nur zur Geltung kommen würden, wenn das Weltproletariat passiv bliebe. Die Bürokratie würde die ökonomischen Grundlagen des Arbeiterstaates nur insoweit bewahren als sie die Reaktion der Arbeiterklasse fürchten würde. Er und die trotzkistische Bewegung strebten deshalb eine politische Revolution an, um die UdSSR aus der historischen Sackgasse hinauszuführen, in die sie durch die Stalinisierung hineinmanövriert worden war.

Heute wissen wir, daß die Niederschlagung jedes Versuchs der Arbeiterklasse, wieder aktiv zu werden und die Kette der Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts Trotzkis Prognose bestätigt hat. Die bürokratischen Herrschaftssysteme implodierten zwischen 1989 und 1991 zwischen der Elbe und Wladiwostok. Nirgendwo verteidigten nennenswerte Teile der offiziellen Kommunistischen Parteien die Arbeiterstaaten. Im Gegenteil. Überall setzten sich maßgebliche Teile der Führungen der nationalen Bürokratien an die Spitze der kapitalistischen Restauration.

Das hat Trotzkis Stalinismusanalyse in einer Weise bestätigt, die auch Trotzkisten bedauern. Aber so unangenehm diese historische Bilanz den Befürwortern des Stalinismus ohne Stalin sein mag, sie haben sich ihr zu stellen. Meißners kritische Auseinandersetzung mit Trotzkis Analyse schweigt sich zu deren politischen Schlußfolgerungen aus.

Das Problem der Weltrevolution

Es gibt Widersprüche, die nicht dialektisch sind, sondern nur Konfusion ausdrücken.

Meißner gibt zum Besten, daß natürlich alle Marxisten eine sozialistische Weltgesellschaft anstreben und daß diese Zielstellung ihren Ausgangspunkt in der Einschätzung der kapitalistischen Weltwirtschaft mitsamt ihren Entwicklungstendenzen hat. Er lobt diesbezüglich Lenins Schrift “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus”.

Soweit so gut.

Andererseits wirft er Trotzki vor, die Reife des Kapitalismus für die Revolution weit überschätzt zu haben, weil er dessen nach wie vor vorhandene “Fähigkeit zur Entwicklung der Potenzen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus weit unterschätzte”. Trotzki schrieb 1938: “ Die Produktivkräfte der Menschheit haben aufgehört zu wachsen. Neue Erfindungen und technische Neuerungen vermögen es nicht mehr zu einer Hebung des materiellen Wohlstands beizutragen.”

Meißers Kritik, daß dies ein absolutes Fehlurteil war, bezieht sich auf die Entwicklung des imperialistischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg. Meißners auf den ersten Blick plausible Kritik beruht auf fragwürdigen Prämissen.

Erstens übersieht er, daß Trotzki nicht die Fähigkeit des Kapitalismus leugnet, technische Neuerungen zu entwickeln und anzuwenden. Er diagnostizierte allerdings, daß dies in der Zwischenkriegszeit nicht zu einer Steigerung des Lebensstandards der breiten lohnabhängigen Massen der kapitalistischen Länder geführt hatte. Diese Diagnose war seinerzeit richtig. Trotzkis Schlußfolgerung, daß die Produktivkräfte der Menschheit deshalb aufgehört hatten zu wachsen, war jedoch fragwürdig. Aus kapitalistischer Sicht ist auch in der und durch die Krise ein Wachstum der (kapitalistischen) Produktivkräfte möglich. Daran ändert nichts, daß diese kapitalistischen Produktivkräfte für die Arbeiterklasse und die Menschheit in immer größerem Ausmaß Destruktivkräfte geworden sind.

Zweitens ist falsch, daß Trotzki seine Haltung zur Weltrevolution auf diese von Meißner kritisierte Feststellung stützte. Trotzki ging wie alle revolutionären Marxisten davon aus, der Kapitalismus mit dem Übergang zum Imperialismus in die Epoche seines welthistorischen Niedergangs eingetreten war, d.h. in eine Epoche von Revolutionen bzw. die der Weltrevolution. Das ist auch der politische Kern der Leninschen Imperialismusanalyse. Mit der konjunktrurellen Entwicklung des Kapitalismus hat das nichts zu tun. Die Epoche ist unabhängig davon eine revolutionäre Epoche: “Wir müßten heute unsere Auffassung über den revolutionären Charakter unserer Epoche ändern, revidieren, einer neuen theoretischen Prüfung unterwerfen, wären wir damals jenen Genossen gefolgt, die von uns forderten, daß wir das Prinzip anerkennen, wonach die Krise immer und unter allen Umständen ein revolutionärerer Faktor sei als die Prosperität und anerkennen, daß wir keinen Grund hätten, die Möglichkeit einer Verbesserung der ökonomischen Situation unseren Thesen einzuverleiben”, erklärte Trotzki auf dem 4. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. Und weiter: “Wir haben daher nicht nur das Recht, uns auf den revolutionären Charakter der Epoche zu berufen, sondern die Pflicht, den Ablauf dieser Epoche zu beschleunigen.”

Schließlich sei angemerkt, daß Trotzki die Möglichkeit einer verallgemeinerten, lang andauernden Prosperität des Imperialismus niemals ausgeschlossen hat. Er hielt sie allerdings nur für möglich, wenn das internationale Proletariat zuvor eine Kette wichtiger Niederlagen erleiden würden. Trotzki schrieb 1928:

"Theoretisch ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, daß in den mächtigsten, führenden und dominierenden Ländern ein neues Kapitel eines allgemeinen kapitalistischen Aufschwungs beginnt. Um es dahin zu bringen, müßte der Kapitalismus aber erst noch gigantische klassenmäßige und zwischenstaatliche Barrieren niederreißen, er müßte die proletarische Revolution auf Dauer unterdrücken, China endgültig versklaven, die Sowjetrepublik stürzen u.s.w. u.s.f. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Diese theoretische Möglichkeit ist die unwahrscheinlichste. Letztlich wird diese Frage durch den weltweiten Kampf der Klassenkräfte entschieden. Aber in der gegenwärtigen Epoche, für die das Programm formuliert wird, stößt die allgemeine kapitalistische Entwicklung auf unüberwindliche Barrieren von Widersprüchen und kämpft rasend dagegen an."(L.Trotzki, Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale, 1928, Trotzki Schriften, Bd. 3.2Hamburg 1997, S. 1158 (1259 f).

Die Vierte Internationale

Meißner sieht in dem Umstand, daß Trotzkis Erwartungen —und Hoffnungen- in Bezug auf die Entwicklung der Weltrevolution und die Rolle der 1938 gegründeten IV. Internationale enttäuscht wurden, einen Beweis für die Unhaltbarkeit der Trotzkischen Auffassungen zur Weltrevolution. Er sieht bei Trotzki eine Abkehr vom Marxismus und eine Rückkehr zum Utopismus.

Mit derselben Berechtigung könnten die Konferenzen in Kienthal und Zimmerwald sowie die Gründung der Kommunistischen Internationale als utopische Projekte abgelehnt werden. Und tatsächlich ist das ja die Auffassung einer Reihe von poststalinistischen Theoretikern und Politikern, die inzwischen die russische Revolution als historisch verfrüht ansehen und sich von ihr distanzieren, um im Schoß der herrschenden Klasse einen warmen Platz zu finden. Dieselben Kräfte blenden daher regelmäig die revolutionären Bewegungen in Mitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg, die ungarische und die deutsche Revolution aus ihren Geschichtsbetrachtungen aus.

Trotzkis Prognose, daß der Verlauf des Zweiten Weltkrieges teils zur extremen Schwächung von nationalen Bourgeoisien und weltweit zu revolutionären Erhebungen führen würde, war keineswegs utopisch sondern offenkundig realistisch: Der Widerstand im faschistisch besetzten Europa und in Asien gegen japanische Besatzer, der Sturz Mussolinis, der Zusammenbruch des Tschiang Kai Chek-Regimes in China 1946-49 und der Sieg Mao Tse Tungs, die Rätebewegung in Japan 1945-1947, die vietnamesische Revolution, die koreanische Revolution und der nachfolgende Koreakrieg, die Unabhängigkeitsbewegungen auf dem indischen Subkontinent sowie im im arabischen Raum, die Volksfrontregierungen in Italien und Frankreich, der Sieg der jugoslawischen Partisanenbewegung unter Tito gegen die deutsche Besatzungstruppen, der Bürgerkrieg in Frankreich, die selbständige kurdische Republik in Mahabad (iranisch Kurdistan), die Arbeiter- und Bauernregierung in Aserbaidschan und schließlich auch die Etablierung der Volksdemokratien in Mittel- und Osteuropa bewiesen, daß sich das Urteil Meißners auf geschichtliche Ignoranz stützt.

Der trotzkistischen Bewegung gelang es allerdings nicht, in diesen revolutionären Bewegungen zu wachsen und sie zur Machteroberung des Proletariats zu führen. Hier zeigte sich Trotzki in agitatorischen Stellungnahmen übermäßig optimistisch. Aber er betonte 1940: “Es ist notwendig, sich auf lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte des Krieges, der Aufstände, kurzer Atempausen, neuer Kriege und neuer Aufstände vorzubereiten. Eine junge revolutionäre Partei muß sich auf dieser Persprektive gründen.” Meißners Kritik ist insofern oberflächlich und wenig ernsthaft.

Trotzki wußte, welche Hindernisse Erfolgen der Vierten Internationale entgegenstanden: Nicht zuletzt direkte Kriegsauswirkungen, die faschistische und stalinistische Repression, die jede für sich bedeutende Opfer an Menschenleben unter den Kadern der zu Beginn des Krieges ohnehin kleinen trotzkistischen Bewegung kosten sollten.

Die revolutionären Bewegungen der Massen konnten aber nicht zuletzt deshalb auf in den verschiedenen Ländern unterschiedlichen Niveaus gestoppt und eingedämmt werden, weil die sowjetische Bürokratie die Kommunistischen Parteien ihrer Außenpolitik der friedlichen Koexistenz und damit dem Ziel der Aufrechterhaltung des internationalen Status quo unterordnete. Jede unabhängige proletarische Klassenbewegung begegnete der Repression und wurde gestoppt. Es war diese im Kern konterrevolutionäre Politik des Stalinismus, die große Teile des Weltproletariats demoralisierte und für die antikommunistische Propaganda des Kalten Krieges empfänglich werden ließ. Diese Verrätereien an der internationalen Revolution wurden zur außerökonomischen Grundlage des Nachkriegsbooms der kapitalistischen Weltwirtschaft.

Kapitalistischer Boom und Krise des Trotzkismus

1940 hatte Trotzki festgestellt: “Es ist eine Tatsache, daß das Schicksal einer Partei vom Verlauf des Klassenkampfs abhängt. Auf jeden Fall war die bolschewistische Partei die einzige Partei, die durch Taten ihre Fähigkeit bewies, die proletarische Revolution durchzuführen. Genauso eine Partei braucht jetzt das internationale Proletariat.Wenn das bürgerliche Regime straffrei aus dem Krieg hervorgeht, wird jede revolutionäre Partei eine Degeneration erfahren. Wenn die proletarische Revolution siegt, werden die Bedingungen, die eine Degeneration hervorrufen, verschwinden.” Letztendlich hatte er damit auch die wesentliche Ursache für die organisatorische und politische Dauerkrise der trotzkistischen Weltbewegung benannt. Meißners Darstellung fügt dem inhaltlich nichts hinzu. Aber er benennt ohne Häme die objektiven Probleme als Ursache von Spaltungstendenzen. Daß er dabei den Überblick über die entstandene organisatorische Vielfalt verliert, ist ihm nicht anzukreiden.

Tatsache ist, daß die trotzkistische Bewegung neben vielen sektiererischen und scholastischen Diskussionen immer wieder Gruppierungen hervorgebracht hat, die sich den wesentlichen theoretischen und praktischen Problemen des internationalen Klassenkampfs gestellt haben. Viele sind daran gescheitert, aber diese Bewegung hat immer neue Anläufe gemacht, wesentliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu geben. Das ist weit mehr, als von anderen Strömungen behauptet werden kann.

Um die wichtigsten Debatten zu benennen:

Analyse der gesellschaftlichen Umwälzungen in den Volksdemokratien und in China im Lichte der bis dahin überlieferten marxistischen Revolutionstheorie; Parteifrage — sowohl im Hinblick auf den Aufbau revolutionärer Parteien in den verschiedenen Ländern wie auch im Hinblick auf den Aufbau einer Internationale, sozioökonomischer Charakter der UdSSR, Stalinismus und marxistische Staatstheorie; Weiterentwicklung der Imperialismustheorie bzw. Analyse des Booms der imperialistischen Nachkriegsökonomie und seines Endes; Analyse der kubanischen Revolution; Analyse des Zusammenbruchs der osteuropäischen Arbeiterstaaten bzw. der Implosion des Stalinismus. Fast jede dieser Fragen warf Probleme der Neubewertung des theoretischen und politischen Erbes der Oktoberrevolution und des Trotzkismus auf.

Man mag über den Zustand der trotzkistischen Bewegung im Besonderen und über den Zustand der internationalen Arbeiterbewegung lamentieren wie man will, aber kein ernsthafter Marxist kann leugnen, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen für die künftige Politik der revolutionären Arbeiterbewegung von Bedeutung ist, wenn die Weiterentwicklung des Marxismus mehr als Eklektizismus sein soll.

Meißner geht bei keiner dieser Fragen in die Tiefe und konzentriert sich auf Marx 21 und die SAV. Da dies zur Zeit in der BRD die größten Gruppierungen sind, die aus der trotzkistischen Tradition kommen, ist das legitim. Meißners Kritik an der SAV ist allerdings niveaulos. Teils bemängelt er gerade die starken, trotzkistischen Seiten der SAV. Teils bemängelt er deren fehlenden Realitätssinn. Dies will er damit belegen, daß er in der Wahl Sarah Wagenknechts in den Parteivorstand der Partei Die Linke den Ausdruck einer Linksentwicklung dieser Partei sieht und sie konsequenterweise nach links für reformierbar hält. Kommentar überflüssig.

Dieter Elken, 12.02.2012