Für die Herrschenden der westlichen Welt und ihr Propagandisten scheint alles ganz einfach. Rußland (kurz: Putin) hat die Ukraine 2022 aus heiterem Himmel ohne jeden Anlaß überfallen. Baerbock hat sich sogar dazu verstiegen, Putin zur wesentlichen Kriegsursache zu erklären. Die arme demokratische Ukraine heißt es, wehrt sich heldenhaft. Sie bedarf daher der Unterstützung durch die sich selbst so nennende westliche Wertegemeinschaft. Natürlich möchte die NATO dabei nicht in einen großen Krieg hineingezogen werden, für den sie zumindest im Augenblick noch nicht gewappnet ist und der schnell zum Atomkrieg werden könnte. Aber Waffen wurden und werden von den NATO-Mächten bis an deren Kapazitätsgrenzen geliefert, ukrainisches Militär wurde und wird ausgebildet und aktiv durch Berater und Ausbilder gepäppelt.
Hinzu kommt ein bisher nicht dagewesener Wirtschaftskrieg. Ausdrücklich erklärtes Ziel dieses Sanktionskrieges war es, die russische Wirtschaft zusammenbrechen zu lassen und damit eine Massenrevolte gegen Putins Regime zu verursachen. Auch, wenn sich NATO und EU mit ihrem Wirtschaftskrieg und ihrer militärischen Abnutzungsstrategie völlig verkalkuliert haben, wird verbissen daran festgehalten. Es soll in der Ukraine unter Inkaufnahme der Zerstörung des gesamten Landes, seiner Wirtschaft und der Aufopferung unzähliger Menschenleben weitergekämpft werden.
Unterdessen macht sich Deutschland mit dem Sozialdemokraten Pistorius ebenso wie die sich aufrüstende NATO kriegstüchtig.
Nicht unerhebliche Teile der deutschen wie der internationalen Linken folgen wesentlichen Bestandteilen der Kriegspropaganda der NATO. Eigenes Nachdenken scheint sich bei diesen Linken zu erübrigen. Schließlich hat Putin 2022 ja angefangen. Und die arme, unschuldige Ukraine hat daher selbstverständlich das moralische Recht, sich selbst zu verteidigen. Als Opfer darf sie - moralisch einwandfrei – NATO-Waffen in Anspruch nehmen.
Mit dieser infantilen Sicht der Ereignisse begaben sich viele Linke und ehemalige Pazifisten ins Boot der NATO-Politik. Sie gesellten sich zu denen, die während des NATO-Bombenkrieges gegen Serbien (unzutreffend) behaupteten, ein neues Auschwitz gegen die Kosovaren verhindern zu müssen. Erwachsene sollten bereits aus der Schlichtung von Sandkastenstreitigkeiten wissen, daß es mit der Frage "wer hat angefangen" nicht getan ist. Jeder Konflikt hat eine Vorgeschichte. Wer eine Notwehrsituation provoziert, ist nicht unschuldig. Wer die Vorgeschichte eines Konflikts nicht kennt und nicht dessen Platz in einer Kette von Ereignissen, kann kein fundiertes Urteil über einen offen ausbrechenden Konflikt fällen. Fazit: Wer die Entwicklung nicht kennt, die zu einem offenen politischen Konflikt führt, sollte erstmal seinen politischen Mund halten. Der Wahn, zu allem schnell seine Stellungnahme abgeben zu müssen, kann nur allzu leicht ins Abseits führen.
Natürlich ist es nötig, dies Sozialdemokraten ins Stammbuch zu schreiben. Die stehen schon seit über 100 Jahren fest zu ihren eigenen Herrschenden. Das ist auch bei den Grünen spätestens seit dem Krieg gegen Serbien nichts Neues. Aber zu sehen, daß diese Partei, die unter dem Banner der "Gewaltfreiheit" gegründet wurde, jetzt alle Kräfte aufbietet, den Krieg zu schüren und in Palästina eine Völkermord-Politik zumindest beschönigt, darf schon Ekel verursachen. Für die von Hofreiter, Baerbock und Habeck vorangetriebene Militarisierung gilt dasselbe.
Das, was die deutschen Grünen als Vorhut des intellektuellen und moralischen Niedergangs national wie international betreiben, hat auch viele Linke erfaßt, die sich dennoch weiter als Antikapitalisten verstehen. Die bemühen sich in aller Regel um eine Analyse der Weltlage und der Hintergründe des Ukrainekrieges. Leider nicht immer erfolgreich.
Die DKP, die immer noch in ihrem realsozialistischen Weltbild steckt, verzweifelt daran, daß sich der "Sozialismus nicht durchsetzen" (kann), "ohne das revolutionäre Handeln der Menschen" (O-Ton Köbele auf dem DKP-Parteitag 2023). Sie sucht derzeit nach einer Zwischenetappe, nämlich der sich im Ansatz herausbildenden neuen Weltordnung. Sie hofft auf größere Spielräume für linke Politik in einer multipolaren Weltordnung. Sie tendiert deshalb zur Unterstützung des russischen Imperialismus.
In Bezug auf die Ukraine folgt sie, bzw. ein Teil ihrer Führung der russischen Propaganda-These, daß der jetzige Krieg nur die Fortsetzung des seit 2014 stattfindenden innerukrainischen Bürgerkrieges ist. Ein anderer Teil sieht den jetzigen Krieg als präventiven Verteidigungskrieg Rußland. Beide Positionen betrachten die NATO-Expansion und weitere Provokationen als eigentliche Kriegsursache. Die NATO ist danach "Hauptaggressor". Praktisch fordert die DKP die sofortige Kriegseinstellung, wendet sich gegen die deutsche Hochrüstungspolitik und ihre sozialen Auswirkungen.
Eine konsequente Antikriegspolitik ist das nicht. Die wirkliche Kriegsursache ist die imperialistische Rivalität im Angesicht der Tatsache, daß Nationalstaaten zu einem unbrauchbaren Rahmen der kapitalistischen Existenz geworden sind. Daß weiteres Wachstum einer Macht wesentlich nur noch auf Kosten anderer Mächte möglich ist, daß dies fortwährend zu Kämpfen um neue Einflußsphären und daher zu Kriegen führen muß, macht eine längere kapitalistische Friedensära unmöglich. Der Imperialismus wächst, aber er vermehrt den Wohlstand nur einiger Teile der Weltbevölkerung dadurch, daß er auf allen Ebenen immer größere Destruktivkräfte schafft. Nur die soziale Revolution in allen Ländern weist einen Ausweg.
Die sich seit den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts abzeichnende Stagnationskrise des imperialistischen Weltsystems wurde durch den Zusammenbruch der sog. Sozialistischen Staaten nicht gelöst. Der geographisch erheblich erweiterte Weltmarkt konnte vom US-Hegemon nicht dazu ausgenutzt werden, die UdSSR und China so zu zerstückeln, daß er deren Rohstoffe und Arbeitermasse direkt seinen Verwertungsinteressen unterwerfen konnte. Die Stagnation wurde einerseits verlängert, andererseits erwuchs ihm in Südostasien und im pazifischen Raum ein neuer Konkurrent. Die Rekonsolidierung Rußlands als neuer imperialistische Macht und der Widerstand der Taliban in Afghanistan durchkreuzten die expansionistische US-Strategie für den zentralasiatischen Raum. Der US-Imperialismus erkor daher die Zerschlagung Rußlands zum wichtigsten Etappenziel auf dem Weg zur unangefochtenen Supermacht. Deshalb die Expansion der NATO an die russischen Grenzen und die systematisch betriebene Aufrüstung der Ukraine nach 2014 sowie ihre Instrumentalisierung. Es galt, Rußland unter Druck zu setzen, nach Ausbruch des Krieges 2022 zumindest zu schwächen und/oder zu besiegen.
Natürlich war die militärische Umklammerungspolitik der NATO das entscheidende Moment für den 2022 begonnenen Krieg Rußlands gegen die Ukraine. Das ukrainische Regime lieferte mit seinem Ende 2021 gefaßten Beschluß, die Krim zurückzuerobern, und den Donbass ohne Wenn und Aber seiner absoluten Herrschaft zu unterwerfen, einen willkommenen propagandistischen Vorwand. Aber niemand sollte übersehen, daß es mit der "nationalen Solidarität" des Putin-Regimes mit den Separatisten im Donbass nach 2014 nicht weit her war. Es versuchte bekanntlich wiederholt, mit dem Imperialismus eine neue Verständigung herzustellen. Dem sollten sowohl die beiden Minsker Abkommen dienen, wie die von der NATO brüsk zurückgewiesenen Versuche, mit einer last-minute-Initiative Ende 2021 und Anfang 2022 eine neue gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen.
Die politische Antwort von Sozialisten bzw. Kommunisten kann in dieser Lage nicht darin bestehen, den einen Imperialismus gegen den anderen zu unterstützen. Notwendig ist in jedem kapitalistischen Land der Kampf gegen die eigene herrschende Klasse und der internationale Zusammenschluß aller Lohnabhängigen. Es kommt nicht darauf an, welche imperialistische Macht zuerst die Waffen sprechen läßt und was das Völkerrecht dazu aussagt. Das Völkerrecht wird von allen imperialistischen Mächten mal als Propagandainstrument, mal – und das viel häufiger- mit den Füßen getreten.
Die MLPD-Einschätzung der Kriegsursachen zeichnet sich gegenüber derjenigen der DKP als bedeutend besser ab. Der Krieg in der Ukraine wird korrekt als Teil des Kampfes um die Neuaufteilung der imperialistischen Einflußsphären gesehen. Richtig wird auch das reaktionäre Wesen der durch die Konterrevolution in der UdSSR zu Anfang der 90-er Jahre entstandenen neuen Klassengesellschaften in Rußland und der Ukraine benannt. Allerdings ist die Behauptung überzogen, die Ukraine sei an der Grenze Rußlands zur starken imperialistischen Konkurrenz geworden. Richtig ist jedoch die Feststellung, daß sich die Realitäten der oligarchischen Herrschaft nicht qualitativ unterscheiden, was nicht heißt, daß es keine Unterschiede gibt.
Die MLPD schlußfolgert aus diesen Einschätzungen, daß dem Kampf gegen einen neuen Weltkrieg absolute Priorität zukommt und ebenso dem Kampf für die internationale sozialistische Revolution. Die von ihr benannten nächsten Schritte bleiben abstrakt. Mittel dazu soll der Kampf für eine neue Friedensbewegung sowie eine "Einheitsfront gegen Imperialismus, Faschismus, Krieg unter Führung des internationalen Industrieproletariats" sein. Das letztere müßte aber erst einmal zum handelnden Subjekt werden. Wesentlich sei dabei "der Kampf um die Denkweise gegen das Eindringen militaristischer Propaganda, völkischer Demagogie und faschistischer Ideologie." Auch dies nur ein sektiererischer Appell ins Leere.
Im Hinblick auf den Einfluß nationalistischer und faschistischer Kräfte in der Ukraine schweigt die MLPD jedoch. Die nationalen Gegensätze in der Ukraine werden ignoriert. Das gilt auch für die Ereignisse seit 2014. Es verwundert daher nicht, daß ohne jede Differenzierung nur von der "unverbrüchlichen Solidarität mit der Arbeiterklasse und den breiten Massen der Ukraine" die Rede ist und nur von der imperialistischen Aggression Rußlands. Die reaktionäre Rolle und die Arbeiterklasse spaltende Politik des nationalistischen Regimes der Ukraine wird nicht erwähnt.
Die notwendige Analyse beginnt beim Charakter der am Krieg beteiligten Staaten.
Es gibt tatsächlich immer noch Kräfte, die ihre mehr oder weniger offene Unterstützung Rußlands damit begründen, daß es in Rußland immer noch Überreste des Sozialismus geben soll. Rußland sei daher immer noch kein vollwertiger imperialistischer Staat. Diese Position wird anscheinen vom argentinischen Partido Obrero vertreten, einer trotzkistischen Organsation mit beachtlichem Einfluß. Mit einer ähnlichen Argumentation wird bei gar nicht so wenigen Linken behauptet, China sei immer noch zumindest ein hybrider Staat. In der DKP wird diese Position auch vertreten und daraus geschlossen, daß diese Staaten progressiver als der westliche Imperialismus seien.
Meines Erachtens fehlt diesen Kräften sowohl ein tiefer gehendes Verständnis der marxistischen Staatstheorie als auch Klasseninstinkt. Gut, Marx und Engels haben keine zusammenhängende Staatstheorie entwickelt. Ein proletarischer Staat war für sie Rätestaat im Übergang zur klassenlosen Gesellschaft, d.h. auf dem Weg zur Selbstabschaffung als besonderer Staat. Aus der isolierten Sowjetunion ging dann ein Staat hervor, dessen Apparat sich über die Gesellschaft erhob, sich verselbständigte, dann lange Zeit die kollektive Produktionsweise weiter entwickelte und sogar international ausdehnte (RGW-Staaten, China, Korea, Vietnam). Viele der Anhänger dieser Staaten verwechselten die so geschaffenen Übergangsgesellschaften zwischen Kapitalismus und Sozialismus mit einem vollendeten Sozialismus im Marxschen Sinne.
Tatsächlich haben die Apparate dieser Länder den Sozialismus in den Augen größter Teile der Arbeiterklasse erst diskreditiert und dann selbst die Konterrevolution organisiert. Diese war ein historischer Bruchpunkt, die Vollendung eines längeren Prozesses der Stagnation und des Niedergangs. Die Konterrevolution wurde in der Regel nicht "verkündet", nicht proklamiert. Sie wurde Schritt für Schritt, aber in sich steigerndem Tempo verwirklicht. Viele der Akteure wurden durch die Ereignisse mitgerissen, waren sich des Ziels nicht bewußt. Sie schlidderten in die Konterrevolution, weil sie immer den jeweiligen Mehrheiten in ihren Gremien folgten. Gerade die SED-Führung bewies, daß eine Konterrevolution sogar aus Dummheit möglich war. Die Akteure beugten sich dem Strom der Zeit.
Natürlich erfolgten dann irgendwann Personalwechsel im Staatsapparat. Neue Rechtsnormen wurden beschlossen und mußten durchgesetzt werden, um eine neue, mit dem Staatsapparat verbundene Bourgeoisie zu schaffen. Die dazu erforderliche ursprüngliche Akkumulation von Kapital wurde durch eine umfangreiche Korruption, die kriminelle Ausplünderung von Staatseigentum, den Mißbrauch von Insiderwissen etc. erreicht. Der Markt wurde das entscheidende Regulativ der Wirtschaft. Nicht zuletzt entstand ein neuer Kapitalmarkt. Wie in "alten" bürgerlichen Staaten kam es nicht darauf an, ob einzelne Wirtschaftssektoren in staatlicher Hand blieben. Weitgehend verstaatlichte Ökonomien gab es auch im sog. "arabischen Sozialismus", der niemals sozialistisch war, sondern dessen Wirtschaft ohne gründliche gesellschaftliche Umwälzung immer in der Hand des Bürgertums geblieben ist. Diese nutzt ihre Kontrolle über den Staatsapprat, um sich als Bourgoisie zu entwickeln.
Der Charakter des Staates war und ist nicht abhängig davon, wie sich der Lebensstandard der Massen entwickelte. In China stieg er an; in Rußland sank er zunächst, um dann deutlich anzusteigen. In der Ukraine hatte er bis 2022 immer noch nicht wieder das Niveau von 1989 erreicht – was nicht für die westlich orientierte Mittelschicht gilt. Es kam auch nicht darauf an, ob es dem alten zentralisierten Staatsapparat gelang, die Wende bei Wahrung seiner zentralen Machtstellung zu meistern und die Völkerschaften des eigenen Machtbereichs zusammenzuhalten (China) oder nicht (UdSSR und Jugoslawien). Die offiziellen kommunistischen Parteien und Apparate dieser Länder organisierten ausnahmslos selbst die Konterrevolution oder wenigstens mit ihren Zerfallsbestandteilen (bei sehr geringen personellen Veränderungen). Faktisch waren damit diese stalinistischen Parteien die Hauptorgane der Konterrevolution und alles andere als die Garanten des sozialistischen Aufbaus – ihrer Rhetorik zum Trotz. Nebenbei haben sie damit die historische Prognose Trotzkis bestätigt.
Die 1989 eingeleitete Wende in diesen Staaten hat eine neue Phase der imperialistischen Epoche eröffnet. Es entstanden neue imperialistische Mächte und neue bürgerliche Staaten, die sich angesichts ihrer inneren Schwäche (neue Bourgeoisien mit dem Geruch krimineller Plünderer des Volkseigentums) schnell nach Stützen ihrer instabilen Herrschaft im Ausland umsahen. Wer aber wegen der Schwäche dieser neuen Staaten diese mit pseudodogmatischen Kriterien in altbekannte Schubladen einordnen will ("Halbkolonien"), ist auf dem Holzweg. Natürlich gleicht kein kapitalistischer Staat dem anderen. Alle neuen Staaten waren mit unterschiedlichen Bedingungen und jeweils anderem internationalen Umfeld konfrontiert.
Diese sind zu analysieren. Schubladen helfen dabei nicht.
Eine nicht unerhebliche Anzahl von Gruppierungen verzichtet im Rahmen des von ihnen erreichten Kindergartenniveaus bei der Kriegsschuldfrage zugleich auf jegliche Analyse der Klassenverhältnisse auf den beteiligten Seiten des Konflikts. Allenfalls wird Rußland als imperialistische, weil aggressive Macht gesehen. Dabei fehlt auch der Sozialdemokrat und Kanzler Scholz nicht.
Sozio-ökonomische Aspekte bleiben meist außen vor. Klassen und ihr Verhältnis zueinander werden nicht erwähnt. Zumindest spielen sie im Rahmen der in der Ukraine befürworteten Burgfriedenspolitik keine Rolle. Schließlich verteidigen sich die heldenhaften Ukrainer gegen den "russischen Angriffskrieg". Da wird dann nur allzuoft auf jegliche Kritik an der gar nicht so dezenten hybriden NATO-Kriegsbeteiligung und den offen erklärten Kriegszielen der NATO verzichtet.
Das "Internationale Komitee" der Vierten Internationale, das heute nur noch einen kleinen Teil der trotzkistischen Bewegung repräsentiert, liefert für diese Haltung ein trauriges Beispiel. In ihrer "Erklärung der Vierten Internationale zur Ukraine – Zwei Jahre Krieg", verfasst am 25.02.2024 vom Internationalen Komitee, bekennt die sich zum "Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung" und erklärt ihre "Unterstützung für den bewaffneten und unbewaffneten Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion". Zwar wird die neoliberale Politik des Kiewer Regimes kritisiert, aber dennoch behauptet: Der Sieg des freien und demokratischen ukrainischen Volkes ist organisch günstig für das Entstehen einer pluralistischen, friedlichen und demokratischen Russischen Föderation und der Union der Völker in Europa."
Aber das jetzige ukrainische Regime ist ein Produkt des Maidan-Putsches gegen eine in der gesamten Ukraine gewählte Regierung. Das Selensky-Regime hat ein gutes Dutzend Parteien verboten. Es finden unter ihm politische Morde unbehindert statt. Es wird gefoltert, gewerkschaftliche Freiheiten sind unter die Räder der Repression geraten und jegliche Dissidenz wird terrorisiert. Diese Schanderklärung verschließt vor der Tatsache die Augen, daß der Ukrainekrieg von Anfang an im Kern ein Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und der NATO war und ist.
Eine freier Zusammenschluß der Völker Europas und der Welt kann nur durch die internationale Arbeiterklasse und deren soziale Revolution verwirklicht werden. In und um den Ukrainekrieg gibt es derzeit wenig Anhaltspunkte für die Existenz einer unabhängigen revolutionären Klassenpolitik. Der Ausgang dieses Krieges wird (leider) von imperialistischen Mächten bestimmt werden.
Die Erklärung versteigt sich diesbezüglich zur abstrusen These, daß eine (von ihr befürwortete) Niederlage Rußlands "den Kampf gegen die NATO erleichtern" würde und behauptet, die Militärhilfe der NATO für die Ukraine sei keine Entscheidung für einen Weltkrieg. Das ist von Realitäten unbeflecktes Wunschdenken. Analyse? Fehlanzeige. Ein Sieg der Ukraine gegen eine Atommacht ist ausgeschlossen. Die NATO sieht eine strategische Niederlage Rußlands betreibt einen (wohl nicht funktionierenden) Erschöpfungskrieg mit erhoffter letztlicher Implosion des jetzigen russischen Regimes. Sie sieht ihre Aktionen ganz offiziell als Vorbereitungsmaßnahmen für einen weiteren Kampf gegen ihren neuen Hauptfeind China. Die Aussichten der NATO dafür stehen aber derzeit schlecht.
Die Waffenlieferungen an die Ukraine sind natürlich noch keine unmittelbare "Entscheidung" für den Dritten Weltkrieg. Aber sie erhöhen die Möglichkeit, in einen solchen Krieg ohne vorherige bewußte "Entscheidung" der NATO insgesamt hineinzuschliddern. Und sie stellen in jedem Falle eine Vorbereitungsmaßnahme für einen umfassenden Krieg dar. Dieser wird in von einer Mehrzahl führender Politiker der NATO in absehbarer Zeit erwartet und von nicht wenigen mondsüchtigen NATO-Politikern baldmöglichst gewollt. Deshalb sind jetzt Waffenlieferungen und die allgegenwärtige Militarisierung in den NATO-Staaten prioritär zu bekämpfen. Wer die Militarisierung beschönigt, versündigt sich an den Grundlagen sozialistischer Politik. Die politische Aufgabe des Tages besteht darin, das sinnlose Gemetzel im Interesse imperialistischer Mächte und die Abschlachtung von Proletariern auf beiden Seiten der Front zu beenden.
Daß Rußland als imperialistische Macht bezeichnet wird, stellt außer denjenigen Sekten, die wie der argentinischen Partido Obrero wegen der Fortexistenz von einigen Wirtschaftssektoren in staatlicher Hand weiterhin von Arbeiterstaaten in Rußland und China ausgehen, kaum jemand in Frage. Zu offensichtlich ist die Neuentstehung und wirtschaftliche Dominanz eines Kapitalmarktes, die Rolle selbständig agierender Monopole, die Entstehung eines neuen Finanzkapitals, dem von Anfang an der Rahmen des Nationalstaates nicht genügte und das daher auf den Weltmarkt drängt. Aber das trifft – in unterschiedlichem quantitativem Maße auch auf andere postsowjetische Staaten und China zu.
Das in der früheren Sowjetunion und China entstandene neue Finanzkapital, verkörpert in einer neuen Monopolbourgeoisie, ist nicht wie der Imperialismus im sog. Westen langsam in den Poren vorkapitalistischer Gesellschaften emporgewachsen, nicht aus einer einfachen, sich entfaltenden Warengesellschaft und während einer kolonialistischen Ära entstanden. Zwangsläufig trägt daher der neue Imperialismus im Osten besondere Züge.
In China gelang es der die Gesellschaft in eisernem Griff haltenden Staatsbürokratie, den Prozeß der Wiedereinführung des Kapitalismus im Griff zu behalten. Die territoriale Integrität der Volksrepublik wurde gewahrt und deren Wirtschaftskreislauf blieb als materieller Rahmen erhalten. Dies ermöglichte es dem Staatsapparat, die während des Privatisierungsprozesses unzähligen gesellschaftlichen Konflikte in lokalen Grenzen zu halten und die Gesamtlage von oben zu kontrollieren. Anders in der Sowjetunion und den mit ihr z.T. wirtschaftlich eng verbundenen ehemaligen RGW-Staaten.
Die Einheit des bürokratischen Apparats der UdSSR zerbrach. Die Sowjetunion zerfiel in eine Reihe neuer Staaten, z.T. ohne eigene staatliche Geschichte. Mit dem staatlichen Zusammenbruch zerbrach auch die integrierte Wirtschaft. Liefer- und Absatzketten wurden zerstört, viele Betriebe gingen unter den neuen Marktbedingungen zugrunde. Andere versuchten zu retten, was zu retten war und strebten verzweifelt auf den Weltmarkt. Viele zunächst mit relativ wenig Erfolg.
Die neue Monopolbourgeoisie entstand in den Nachfolgestaaten der UdSSR in aller Regel über einen Prozeß der Umwandlung des verstaatlichten Eigentums in selbständige Kapitalgesellschaften. Deren Kapital eigneten sich entschlossene Bürokraten in Wirtschaft und Staatsapparat mit ihrer Entourage durch Insiderwissen, Korruption und die Veruntreuung von Staatseigentum an. Das Ganze garniert mit Cleverness und z.T. mafiösen Methoden. Daneben entstand in kleinerem Rahmen eine kleine Schicht eines neuen mittelständischen Bürger- und Kleinbürgertums. Nicht umsonst wird die neue Bourgeoisie auch als Kleptokratie bezeichnet. Die Kehrseite der neuen Reichtumskonzentration war und ist die Verarmung und Verelendung großer Teile der Arbeiterklasse, schwerpunktmäßig der unteren Schichten der Arbeiterklasse besonders im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts.
Hinsichtlich der Gesellschaftsstruktur gab und gibt es zwischen Rußland und der Ukraine keinen grundsätzlichen Unterschied. Meines Wissens nach ist die MLPD die einzige linke Kraft in Deutschland, die dies klar benennt.
Wichtige Unterschiede zwischen beiden Ländern gibt es jedoch hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte. Unter Putin gelang die Stabilisierung und Weiterentwicklung der russischen Wirtschaft. Der Lebensstandard der Bevölkerung stieg erheblich an. Rußland begann wieder, eine selbstbewußtere Rolle in der internationalen Politik zu spielen. Anders die Ukraine. Die Ukraine ist das einzige Land, das 2021 immer noch keinen höheren Lebensstandard erreicht hatte als 1989 zu Sowjetzeiten. Probleme hatten die Herrschenden in der Ukraine nicht zuletzt, weil die Wirtschaft die Einbettung in die sowjetische Arbeitsteilung nicht ohne weiteres überwinden konnte.
Die ukrainische Wirtschaft blieb von billigen Öl- und Gaslieferungen aus Rußland abhängig. Noch in viel größerem Maße als die deutsche Industrie, hing ihre ohnehin bescheidene Wettbewerbsfähigkeit von niedrigen Energiepreisen ab – tatsächlich weit unter Weltmarktniveau. Einige der neuen Monopolbourgeois blieben auf den russischen Absatzmarkt besonders für Kohle und Stahl angewiesen. Die meisten jedoch strebten die Integration in den westeuropäischen Markt an. Dabei wurden sie ganz überwiegend von der neuen, akademisch gebildeten Mittelschicht und dem neuen Kleinbürgertum unterstützt. Dieser Teil der neuen Bourgeoisie hatte aber ein Problem. Ihm fehlte eine parlamentarische Mehrheit. Die nach Osten orientierten Kräfte konnten sich auf die Mehrheit der Arbeiterklasse vor allem in der Ost- und Südukraine stützen und stellten die letzte gesamtukrainisch gewählte Regierung. Der Interessengegensatz zwischen den beiden Teilen der Monopolbourgeoisie bildet den Hintergrund für den Maidan-Putsch, die in den NATO-Staaten so bejubelte orangene Revolution. Deren Erben verteidigen jetzt angeblich "unsere demokratischen Werte".
Die "alten" Imperialisten, die westlichen Monopolbourgeois und ihr politisches Personal, die ihren neuen Kolleginnen (gibt’s die?) und Kollegen in Sachen Rücksichtslosigkeit und bei Bedarf ein wenig Barbarei in nichts nachstehen, sahen sich gezwungen, die neuen Monopolbourgeois im Osten anzuerkennen – allerdings mit Vorbehalt. Die Distanz drückt sich in der Sprache aus: "Oligarchen". Und deren Neureichen-Attitüden werden mit ein wenig Verachtung und viel Neid beobachtet. Daß die Ursprünge der meisten alten Kapitalien besser im Dunkeln bleiben, hat man kulturvoll verdrängt. Aber im Zuge der Sanktionspolitik dürfen sie jetzt mit klammheimlicher Genugtuung wenigstens gegen die russischen Oligarchen vorgehen. Und über die Enteignung rußlandfreundlicher Oligarchen in der Ukraine durch das Kiewer Regime geht man stillschweigend hinweg. Kapitalistisches Eigentum ist eben nicht immer sakrosankt. Das Bündnis mit der neuen Bourgeoisie der Ukraine ist viel wert. Die alte Bourgeoisie giert nach den zu hebenden Schätzen der Ukraine und erhofft sich ein militärisches Sprungbrett für ein weiteres Vordringen nach Osten.
Eine ganze Reihe von Gruppierungen ist der Auffassung, die Ukraine sei eine Halbkolonie.
Aus dieser Sicht ist die Ukraine entweder nur ein Schlachtfeld für die imperialistischen Interessen Rußlands und der NATO-Staaten und/oder die Ukraine wird als unterdrückte Nation gesehen, die um ihre Eigenständigkeit kämpft. Meistens wird das ohne den Hauch einer Analyse einfach behauptet. So stellen z.B. die Liga für die Fünfte Internationale (Gruppe Arbeiter,innenmacht) und die Internationale Trotzkistische Opposition in einer gemeinsamen Grundsatzerklärung vom 08.02.2024 die These auf, daß der notwendige politische Kampf gegen alle imperialistischen Mächte "den ukrainischen Kampf gegen die russische imperialistische Invasion nicht reaktionär" macht. Die Arbeiterklasse "muß die Ukraine gegen Putins Angriff verteidigen, ohne die reaktionäre Selenskyj-Regierung zu unterstützen…".
"Die" Arbeiterklasse der Ukraine tritt in der Ukraine aber zur Zeit nicht eigenständig als unabhängige politische Kraft in Erscheinung. Eigene militärische Formationen kann sie auch nicht aufbieten. Fragwürdig ist außerdem, ob es im Interesse der Arbeiterklasse liegt, einen Krieg zu führen, der a priori verloren ist, große Teile der Ukraine verwüstet und hunderttausende Proletarier das Leben und die Gesundheit kostet.
Die Gruppe Arbeitermacht ergeht sich in ebenso abstrakten wie sektiererischen Wunschvorstellungen. Markus Lehner sieht in der Ukraine einen "nationalen Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Rußland" und sieht dort eine massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung für den Krieg und eine höhere Motivation der ukrainischen Verteidiger. Der Bürgerkrieg gegen den Donbass hat 2014 begonnen, der Rußlands gegen die Ukraine 2022. Vom verbreiteten Widerstand der Bevölkerung gegen den jetzigen ukrainischen Heldenklau und den Schwierigkeiten des Regimes, williges Kanonenfutter zu rekrutieren, hat er wohl noch nichts gehört. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun. Streicht man die pseudorevolutionäre Lyrik, so bleibt die (unfreiwillige) Unterstützung des NATO-Krieges.
Michael Pröbsting, maßgeblicher Theoretiker der in Österreich gegründeten Internationalen Revolutionär-Kommunistischen Tendenz, hat den Versuch unternommen, die These theoretisch zu untermauern, daß es sich bei der Ukraine um eine Halbkolonie handelt. Diese müsse wegen ihrer Einordnung in die Schublade "Halbkolonien" militärisch gegen Rußland und politisch gegen den östlichen wie westlichen Imperialismus verteidigt werden. Der so verstandenen nationalen und demokratischen Frage komme im Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker eine herausragende Rolle zu.
Er behauptet, die Ukraine habe einen anderen Klassencharakter als die anderen am Konflikt beteiligten imperialistischen Mächte. Sie sei eine fortgeschrittene, aber abhängige kapitalistische Halbkolonie, weil sie sich nicht "organisch" habe entwickeln können. Die neuen staatlichen Institutionen seien schließlich unter Einfluß imperialistischer Institutionen wie dem IWF geschaffen worden. "Unsere Definition eines solchen Ländertyps: Eine Halbkolonie ist ein kapitalistisches Land, dessen Wirtschaft und Staatsapparat eine Position in der Weltordnung einnimmt, in der sie zu allererst von anderen Staaten und Nationen beherrscht werden. Im Ergebnis schaffen sie Extraprofite für diese und verschaffen anderen imperialistischen Monopolen und Staaten durch die auf Überausbeutung und Unterdrückung gegründeten Beziehungen ökonomische, politische und/oder militärische Vorteile." Konsequenterweise wird die Ukraine als Opfer sie in Staat und Wirtschaft beherrschender imperialistischer Mächte gesehen.
Der Kategoriensalat sei hier außer Acht gelassen. Meines Erachtens ist der Begriff "Halbkolonie" nur dort sinnvoll, wo eine Handels- und Kompradorenbourgeoisie im Bündnis mit dem traditionellen Großgrundbesitz und den imperialistischen Mächten die volle kapitalistisch-industrielle Entwicklung eines Landes verhindert. In der Ukraine hat es eine solche industrielle Entwicklung aber in der Sowjetzeit gegeben. Maßgeblich für die Anwendung des Begriffs Halbkolonie ist die Wirtschafts- und Klassenstruktur eines Landes und dessen Platz in der internationalen ökonomischen Arbeitsteilung. Die ökonomische Relevanz eines Landes bestimmt dabei sein politisches Gewicht. Die Ukraine unterscheidet sich heute strukturell nicht wesentlich von anderen bürgerlichen Staaten. Sie hat aufgrund ihrer Entwicklung eine industrielle Tradition und eine gut ausgebildete Arbeiterklasse. Sie als halbkolonial zu bezeichnen, ist ein Deckmantel für Burgfriedenspolitik.
Der Klassencharakter des ukrainischen Staates ist bürgerlich. Der Staat wird von der ukrainischen Monopolbourgeoisie im Bündnis mit den wesentlichen weiteren Teilen der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum beherrscht. Die Monopolbourgeoisie finanziert und dominiert alle größeren politischen Parteien und auf diesem Wege den Staatsapparat. Die absolut vorherrschenden Teile dieser Monopolbourgeoisie werden allerdings immer noch von erheblichen Teilen der Bevölkerung als illegitime Usurpatoren des Volkseigentums and daher als Parasiten angesehen. Viele dieser Oligarchen plündern daher die von ihnen angeeigneten oder im Staatsbesitz befindlichen Betriebe aus, um sich anderweitig nach Sicherheit für ihr Kapital umzusehen. Dieses so erlangte Geldkapital wird auf den internationalen Finanzmärkten untergebracht. Auch wenn das aus anderer, moralischer Sicht als Kapitalflucht angesehen wird, wird es als Kapital exportiert. Zugegeben, es handelt sich um eine besonders widerliche Form des Kapitalexports. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß es sich dabei um einen Wesenszug der imperialistischen Phase des Kapitalismus handelt. Mit einer historisch unterentwickelten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur hat das nichts zu tun. Der Ausverkauf der Landwirtschaftsflächen an internationale Agrarkonzerne und das Eindringen westlichen Kapitals ändert daran nichts.
Daran ändert auch nichts, daß das zusammengeraffte Geldkapital der neuen Bourgeoisie bei internationalen Banken untergebracht ist und nicht sofort produktiv investiert wird. Das trifft z.B. auch auf das von Warren Buffet angesammelte Geldkapital zu. Dieser klagte jüngst über fehlende sichere und produktive Anlageobjekte. Pröbstings These, daß dieses exportierte Geldkapital und bei Banken im Besitz des westlichen Finanzkapitals deren Eigner vom Imperialismus abhängig mache, ist schlicht an den Haaren herbeigezogen. Die ukrainischen Milliardäre sind keine Befehlsempfänger des westlichen Imperialismus. So läßt sich keine altimperialistische Dominanz über den ukrainischen Staat herleiten.
Ebensowenig aus der Existenz von westlichen Auslandsinvestitionen oder der Abhängigkeit von den neuen Handelsbeziehungen. Jede Auslandsinvestition dient der Profitmaximierung des Kapitalexporteurs, ebenso wie militärische Bündnisse nur geschlossen werden, wenn sie den Interessen aller Beteiligten dienen. Die ukrainische Bourgeoisie ringt um einen Platz im ökonomischen und politischen Konzert der alten imperialistischen Mächte. Sie soll und will einen Platz als Bündnispartner erhalten, nicht als reiner Befehlsempfänger. Sie ist schon jetzt im Rahmen der militärischen und ökonomischen Arbeitsteilung des westlichen Imperialismus von diesem abhängig. Aber das gilt auch für die Beneluxstaaten sowie andere NATO-Länder. Die BRD ist keine "Halbkolonie", weil US-Konzerne hier höhere Profite als in den USA erzielen und die US-Regierung maßgeblichen Einfluß auf den bundesdeutschen Staat ausübt. Das theoretische Konstrukt Pröbstings ist auf Sand gebaut.
Was Teile der Linken in Sachen "nationale Unabhängigkeit" zu bieten haben, kann nur noch Kopfschütteln hervorrufen. Die imperialistischen Heuchler und jede Menge wohlmeinender Menschen lassen sich einreden, daß es in der Ukraine um das Selbstbestimmungsrecht der ukrainischen Nation gehe, um die Verteidigung der Demokratie oder darum, eine "freie und unabhängige Nation zu entwickeln" (O-Ton der IV. Internationale). Aber: "Der Charakter des Krieges wird nicht bestimmt durch das isoliert genommene Moment des Regimes ("Verletzung der Neutralität", "feindlicher Einmarsch" u.s.w.) sondern durch die Haupttriebkräfte des Krieges, seine Gesamtentwicklung und die Ergebnisse, zu denen er letzten Endes führt." (Leo Trotzki: Der Krieg und die IV. Internationale). Die vorgenannten trotzkistischen Gruppierungen haben sich von ihrem politischen Gründer sehr weit entfernt.
Wir haben es in der Ukraine mit einem Krieg zwischen russischem Imperialismus und der kapitalistischen Ukraine als Dienstleisterin für die NATO zu tun. Der Krieg wurde durch die stetig vorangetriebene Ausdehnung der NATO und die Sabotage der Minsker Abkommen provoziert. Das konsolidierte imperialistische Rußland handelte und macht den Versuch, die NATO-Pläne zu vereiteln. Das ist inzwischen durch den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens teilweise mißlungen. Aber in der Ukraine zeichnet sich jetzt zumindest ein russischer Teilerfolg ab. Es handelt sich um einen imperialistischen Machtkampf, der die NATO-Staaten erheblich schwächte und die Gefahr eines 3. Weltkrieges heraufbeschwört.
Das kapitalistische Regime der Ukraine schwankte bis 2014 zunächst zwischen der Entscheidung für eine Ost- oder eine Westorientierung. Die Monopolkapitalisten in der östlichen Ukraine waren auf die Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland angewiesen. Andere sahen dies als Hindernis für ihre angestrebte Integration in die Europäische Union. Sie wollten eine klare Entscheidung für den Westen. Die US-Regierung finanzierte und organisierte auch aus geopolitischen Gründen mit Hilfe offen faschistischer Kräfte, aber im Bündnis mit der Mehrheit der ukrainischen Monopolbourgeois, den Maidan-Putsch.
Das Post-Maidan-Regime, das im Donbass auf Gegenwehr prorussischer Krafte stieß, war jedoch 2014 nicht in der Lage, den ganzen Donbass unter seine Kontrolle zu bringen. Das neue ukrainische Regime war daher sogar noch verstärkt auf seine politische Unterordnung unter die US- und NATO-Interessen angewiesen. Es hoffte, gestützt auf die Waffenhilfe von NATO-Staaten, seine Macht auch im Donbass zu rekonsolidieren. Ob zuvor erkannt oder nicht: Die Logik des Krieges erzwang und erzwingt die vollständige Auslieferung ukrainischer Interessen an die NATO-Mächte. Eine unabhängige Ukraine wurde von der Kiewer Oligarchie weder angestrebt noch wird sie von ihr je erreicht werden.
Was die ukrainische Monopolbourgeoisie und ihre nationalistischen Helfershelfer erreicht haben, ist die weitgehende Zerstörung ihres Landes. Gemeinsamkeiten mit dem Kiewer Regime konnte und kann es für Sozialisten nicht geben. Der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht "der Ukraine" ist eine reine Propagandafiktion ohne realen Inhalt. Wer während dieses Krieges unter dem Deckmantel demokratischer und sozialer Forderungen die Frage nach dem Klassencharakter des ukrainischen Staates verwischt und die Kriegsbeteiligung propagiert, weicht der Hauptaufgabe des Proletariats aus, dem Kampf um die politische Macht und dem Kampf für die Schaffung einer neuen sozialistischen Ukraine. Mit Arbeiterpolitik hat die Kapitulation vor dem Nationalismus nichts zu tun.
Einen prioritären proletarischen Abwehrkampf in einer militärischen Front mit dem Selensky-Regime zu propagieren, ist unsinnig. Burgfriedenspolitiker tragen politische Mitverantwortung für die soziale und humanitäre Katastrophe dieses Krieges. Auch in der Ukraine gilt: Der Hauptfeind steht im eigenen Land.
Der ukrainische Nationalismus ist nichts anderes als ein Deckmantel für die reaktionäre Politik der von den Herrschenden der Ukraine betriebenen Konsolidierung der kapitalistischen Restauration in blau-gelben Farben. Der nach dem Zerfall der Sowjetunion entstandene Staat war nicht der Staat nur einer, der ukrainischen Nationalität, sondern ein Mehrvölkerstaat.
Die zusammenbrechende Sowjetunion hinterließ überall Staaten mit mehreren Nationalitäten. Einige dieser Staaten hatten niemals über eine staatliche Tradition in den neu geschaffenen Außengrenzen verfügt. Die neu an die alleinige Macht gelangten regionalen Bürokraten griffen trotzdem überall auf nationalistische Mythen und Ideologien zurück, um die neuen Staatsvölker zusammenzuhalten. Generell wurde in den nichtrussischen Nachfolgestaaten die soziale Vorherrschaft der russischsprachigen Bevölkerung gebrochen und es dominierten fortan nationalistische Ideologen. Die russischen Teile der Staatsbevölkerung erfuhren Zurücksetzung, manchmal Ausgrenzung, Hass und Diskriminierung. Das Ganze durchmischt mit dem Wunsch nach Revanche für die von Nichtrussen erlittene Benachteiligung in der Sowjetunion. Nun wurde der Spieß -gefühlt- umgedreht.
In der Ukraine wurde der Nazikollaborateur, Rassist, Antisemit und Antikommunist Bandera zum Vorzeigehelden des wiederbelebten ukrainischen Nationalismus. Der Banderismus gelangte besonders in der weniger industrialisierten Westukraine zur neuen Blüte – zum Entsetzen des überwiegenden Teils der russischsprachigen, vor allem im Osten und Süden lebenden Arbeiterklasse. Diese erlebte die Nachwendezeit als Periode des Niedergangs. Die nationalistische Welle überlagerte die sozioökonomischen Interessengegensätze in der Ukraine und vertiefte die interessengebundene politische Spaltung der ukrainischen Gesellschaft.
Die Eingliederung ultranationalistischer und faschistischer Formationen in die Armee nach dem Sieg des Maidan und ihre marginale Wählerschaft verführte viele Kräfte dazu, deren Bedeutung herunterzuspielen. Das war und ist ein Fehler. Deren Ideologie ist dadurch nur tiefer im ukrainischen Staat verankert worden als je zuvor und die Spaltung damit tiefer und unversöhnlicher.
In der Ukraine ist die nationale, ukrainische Identität immer strittig geblieben. Der großrussische Nationalismus blieb unter Stalin und auch danach immer virulent. Hinzu kommt: Die ethnische Zusammensetzung der Ukraine ist gegenüber der Vor-Weltkrieg-II-Zeit stark verändert. Aber auch die Grenzziehung ist nicht mehr dieselbe. Diese wurde bekanntlich nach den Herrschaftsbedürfnissen der sowjetischen Bürokratie neugestaltet. Auf der Krim und im Donbass ist die russische Nationalität majoritär. Ukrainisch war nur in der Westukraine dominant. Die Mehrheit der Bevölkerung der Nachwendeukraine benutzte inzwischen Russisch als Verkehrssprache. Große Teile der Arbeiterklasse in der Ostukraine, im Süden und in den größten Städten sind in der Zaren- und Sowjetzeit zugewanderte ethnische Russen. Dennoch wurde die russische Sprache seit 1991 diskriminiert und immer stärker unterdrückt. Alles das ist auch international gut dokumentiert worden.
Als nach dem Maidan-Putsch als eine der ersten Maßnahmen des neuen Regimes die russische Sprache verboten wurde, revoltierte der proletarisch geprägte Donbass, und das neue nationalistische Regime in Kiew eröffnete den Bürgerkrieg. Es konnte und wollte nicht auf die industrialisiertesten Teile des ukrainischen Staatsgebietes verzichten.
Dieser Bürgerkrieg fand zwischen 2014 und 2022 niemals ein Ende. Die Minsker Abkommen sollten ihn beenden. Dem Donbass sollte ein Autonomiestatus im Rahmen des ukrainischen Staates gewährt werden. Inzwischen ist bekannt, daß weder das Kiewer Regime, noch die am Abkommen beteiligten NATO-Staaten die Absicht hatten, diese (durch UN-Sicherheitsratsbeschluß völkerrechtlich verbindlichen) Abkommen einzuhalten. Die NATO benötigte nur Zeit, um das Kiewer Regime auf eine militärische Lösung des Konflikts vorzubereiten. Inzwischen leugnen die Kiewer Nationalisten sogar die Existenz einer russischen Nationalität in der Ukraine. Die russisch geprägte Geschichte wird umgeschrieben. Der Gebrauch der russischen Sprache wird massiv unterdrückt. Minister der Selensky-Regierung erklären, daß sie prorussische Kräfte ausrotten oder nach Rußland deportieren wollen. Daß Selensky gewählt worden war, weil er die Aussöhnung mit Rußland versprochen hatte, klingt inzwischen wie ein Märchen aus uralter Zeit.
Aus marxistisch-leninistischer und daher auch trotzkistischer Sicht mußte in dieser Situation das Selbstbestimmungsrecht der in der Nachwendezeit unterdrückten russischsprachigen Bevölkerung bis hin zur Lostrennung vom ukrainischen Staat anerkannt werden. Der vom Kiewer Regime entfachte Bürgerkrieg war und ist durch und durch reaktionär.
Wer heute nichts Besseres weiß, als die "Selbstbestimmung für das ukrainische Volk" zu fordern, kapituliert vor den ukrainischen Nationalisten und ignoriert die Realität. Das trifft auch auf einen so renommierten marxistischen Historiker wie Paul LeBlanc zu. Die Behauptung, "die" Ukrainer wollten alle den Kampf gegen den russischen Aggressor führen, ist falsch. Sie ignoriert, daß es in Rußland ähnlich viel ukrainische Kriegsflüchtlinge gibt, wie in der Europäischen Union, der ignoriert den verbreiteten passiven Widerstand gegen Einberufungen zum Militär und verschließt die Augen vor dem Verbot von mehr als einem Dutzend Parteien, die Gleichschaltung der ukrainischen Medien und den von Kiew organisierten geheimdienstlichen Terror gegen dissidente Meinungsführer. Das alles straft die Behauptung der NATO-Propagandisten Lüge, "die" Ukrainer würden alle den Krieg fortsetzen wollen. Die Spaltung der ukrainischen Gesellschaft ist für alle, die sehen können und wollen, eine Tatsache.
Die Kiewer ukrainischen Nationalisten haben mit ihrem Krieg gegen den Donbass zugleich dem russischen Krieg gegen die NATO-Ausdehnung eine Propagandavorlage geliefert. Putin konnte sich als Retter der Nation aufspielen, als Helfer der bedrängten Russen in der Ukraine. Dies zeigt in Rußland ganz offenbar Wirkung. Putin konnte in diesem Zuge seine imperialistischen, großrussischen Expansionsbestrebungen tarnen, indem er überhaupt die Existenz einer ukrainischen Nation leugnet und sich als Wiedervollender einer russischen Einigung präsentiert, die nur von der NATO und Ukro-Faschisten bekämpft wird.
Hätte er den Russen in der Ukraine wirklich zu Hilfe kommen und deren Selbstbestimmungsrecht schützen wollen, hätte er dies schon 2014 tun können – militärisch wäre das wesentlich einfacher gewesen. Aber er zog es vor, in Minsk Abkommen mit den westlichen imperialistischen Staaten abzuschließen. Erst als diese die Sicherheitsinteressen des russischen Staates und ihrer Bourgeoisie weiter untergruben, entschloß er sich zum Krieg.
Sowohl der ukrainische wie der russische Nationalismus vertiefen die politische Spaltung der Arbeiterklasse im ukrainischen Staat. Wer sie überwinden will, muß klar sagen, daß der Krieg auf beiden Seiten nicht im Interesse der Arbeiterklasse liegt. Ein proletarisches Friedensprogamm ohne das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht aller nationalen Gruppen der Ukraine sowie ohne die Forderung nach kompletter Gleichstellung kann keinen Erfolg haben. Bedauerlicherweise kenne ich auf der westlichen Seite der Kriegsfront in der Ukraine keine linke Kraft, die sich zum Selbstbestimmungrecht der russischen Bevölkerung bekennt und damit der internationalistischen Verständigung der Arbeiterklasse voranhilft.
Das mag an meinen mangelhaften Sprachkenntnissen oder an der politischen Repression gegen jegliche Antikriegsopposition unter Selenkyj liegen. Aber leider berichten die mir bekannten Stellungnahmen ukrainischer Sozialisten nur vom angeblich ungeteilten Widerstandswillen des ukrainischen Volkes, über die Repression unter der russischen Besatzung und schweigen sich zu den Verbrechen des Selenskyj-Regimes aus. Selbst Pazifisten, werden als vorgebliche russische Agenten verfolgt.
Immerhin gibt es in der internationalen Linken kleinere Gruppierungen, die eine grundlegend korrekte Position vertreten. Dazu gehören die Internationale Marxistische Tendenz (künftig mit dem Namen "Revolutionär-Kommunistische Internationale), die frühzeitig eine gelungene Analyse der Kriegsursachen präsentierte, aber auch die sektiererische Partei für Soziale Gleichheit.
Das in der Partei "Die Linke" tätige Netzwerk Marx 21 zeigt, daß allein eine leninistische Haltung zur nationalen Frage und zur Einschätzung der Konfrontation zwischen russsischem und westlichem Imperialismus zu einer korrekten politischen Haltung sowohl in Rußland als auch in der Ukraine führen kann. Lesenswert ist daher der Aufsatz "Der Kampf für nationale Selbstbestimmung" von ihrem Autor Jürgen Ehlers. Leider fehlt jedoch eine ernstzunehmende Kampfperspektive im eigenen Land. Auf ihrer website heißt es lediglich "Solidarität mit den Kriegsmüden" und nur nebenbei wird erwähnt, daß "Deutschland" keine Waffen liefern sollte. Das ist politische Selbstkastration Da wird offenbar die Kuschelei mit der Parteirechten in der "Linken" einer konsequent linken Politik vorgezogen.
Die Trotzkistische Fraktion für die IV. Internationale, in der BRD durch die Revolutionäre Internationale Organisation (RIO) vertreten, hat zwar eine ungenügende Analyse der Lage in der Ukraine, vertritt aber politisch eine grundlegend korrekte Position im Hinblick auf die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts für den Donbass als Grundbedingung des Kampfes für eine sozialistische Ukraine. Aber die in Argentinien entwickelte Position der Befürwortung einer Antikriegsbewegung bleibt abstrakt und wird von RIO nicht durch einen aktuellen Kampf gegen die NATO-Sanktionspolitik und gegen die NATO-Waffenlieferungen konkretisiert.
Die tief in der Partei "die Linke" versunkene SAV (Sozialistische Alternative, Teile der International Socialist Alternative) leistet sich auch nach mehr als zwei Jahren russisch-ukrainischen Krieg nur oberflächliche und wesentliche Aspekte der ukrainischen Realität ausklammernde Stellungnahmen. Ihr Genosse Claus Ludwig träumt davon, in der Ukraine die Moral der russischen Besatzungstruppen durch "Streiks, Sabotage und politische Aufklärung" zu schwächen. Die Gruppe "vertraut darauf, daß die Arbeiter*innenklasse früher oder später gegen den Krieg und die kapitalistische Krise kämpft, weil die einzige Alternative die fortgesetzte Verschlechterung der Lebensverhältnisse ist." Das provoziert die sarkastische Frage, ob diese Genoss*innen dafür eifrig beten? Den Hauch einer praktischen politischen Orientierung im eigenen Land lassen sie vermissen. Fürchten sie die Keule ihrer Nato-freundlichen Parteiführer in der Linken?
Die Lage der Linken ist alles andere als befriedigend. Wünschenswert ein neuer Zusammenschluß aller konsequenten Kriegsgegner. Der dazu nötige Aufbruch findet aber leider noch nicht statt. Die hiesigen linken Gruppierungen sind ein Teil des Problem, nicht eines vielversprechenden Lösungsansatzes.
Dieter Elken, 12.05.2024