Am Abend des 27. November wurden in der Provinz Aragua/Venezuela die drei Gewerkschafter Richard Gallardo, Luis Hernandez und Carlos Requena, alle Führer der nationalen Arbeitergewerkschaft (UNT) und Mitglieder der Partei Sozialistische Einheit der Linken (USI) erschossen. Wenige Tage später, am 5. Dezember, wurde Simon Caldera, ein Führer der pro-revolutionären Bauarbeitergewerkschaft, ebenfalls in Aragua auf offener Straße ermordet.
Die ersteren drei Gewerkschafter hatten an einem Arbeitskampf zwischen 400 Arbeitern einer Molkerei und deren Arbeitgeber, der kolumbianischen Kapitalgesellschaft Alpina teilgenommen. Die Belegschaft hatte die Auszahlung rückständiger Löhne verlangt und gegen die drohende Schließung des Betriebes den Betrieb besetzt. Die Hauptforderung der Alpina-Arbeiter war die nach der Verstaatlichung des Betriebes unter Arbeiterkontrolle. Die drei Gewerkschaftsfunktionäre hatten erfolgreich Solidaritätsaktionen für die Fabrikbesetzung organisiert. Sie verließen gerade ein Restaurant, als sie von einem vorbeifahrenden Motorrad aus niedergeschossen wurden.
In Kolumbien und inzwischen auch in einigen von der bürgerlichen Opposition beherrschten und an Kolumbien angrenzenden Provinzen Venezuelas sind Attentate dieser Machart, von Auftragskillern der Kapitalisten und Großgrundbesitzer an Gewerkschafter, an Basisaktivisten und Bauernführern begangen, eine seit langem geübte Praxis. Diese Morde werden dort “sicariato” genannt. Ihnen sind in Venezuela bereits mehr als 190 Bauern zum Opfer gefallen. Sie sind aber auch in der Bauwirtschaft verbreitet und es hat inzwischen auch in einigen Vierteln von Caracas sicariatos gegeben. Viele venezolanische Revolutionäre vermuten deshalb, daß das Management der Firma den Mord in Auftrag gegeben hat.
Einen Tag vor dem Mord waren die streikenden Gewerkschafter in der Molkerei aber auch von der Provinzpolizei mit großer Brutalität angegriffen worden. Der Polizeieinsatz war vom abgewählten Gouverneur der antibolivarischen Opposition, Didalco Bolivar, befehligt worden. Dieser gehörte bis zum Verfassungsreferendum im letzten Jahr zum Lager von Chavez. Er hatte dann aber die Seiten gewechselt. Danach hatten sich in der Provinz Polizeieinsätze gegen streikende Arbeiter gehäuft.
Hernandez hatte noch am 27. November die Provinzregierung auf einer Pressekonferenz wegen ihrer Angriffe auf die Streikenden scharf attackiert und dann berichtet, daß die Alpina-Arbeiter nur dank der Unterstützung von sofort mobilisierten Belegschaften benachbarter Betriebe in der Lage gewesen waren, den von der Polizei vorübergehend geräumten Betrieb wieder zu besetzen.
Die (trotzkistische) Sozialistische Einheit der Linken (USI) erklärte u.a.: “Wir werden das Andenken an unsere ermordeten Genossen in Ehren halten. Sie haben uns durch ihr Beispiel und ihr Verhalten gezeigt, daß die Rechte der Arbeiter respektiert werden müssen. Die Genossen haben unter Einsatz ihres Lebens Arbeiterinteressen und das Ziel des Sozialismus verteidigt. In ihrem Namen und nach ihrem Vorbild werden wir den Kampf für die sozialistische Revolution fortsetzen, für die Enteignung der Bosse, für den endgültigen Bruch mit dem Imperialismus und für die Schaffung einer Regierung der Arbeiter und des Volkes.”
Die UNT Araguas, deren Vorsitzender Richard Gallardo war, appellierte an alle Arbeiter der Provinz, am 1. Dezember Betriebsversammlungen abzuhalten und sich am 2. Dezember an einem Generalstreik zu beteiligen. Zugleich wurde dazu aufgerufen, Selbstverteidigungsorgane zu bilden und sich an Waffen zu schulen, um sich selbst gegen faschistische Killer zu schützen. Orlando Chirino, einer der nationalen Sekretäre der UNT, forderte die Gewerkschaftsbasis dazu auf, jede Provokation der Kapitalisten mit der Besetzung der Fabriken und der Forderung nach Verstaatlichung zu beantworten. Die Aktionstage zeigten, daß diese Forderungen in Aragua breite Resonanz fanden. Siebzehn Gewerkschaften riefen dazu auf, sich an den Protesttagen zu beteiligen. In weit über 25 Fabriken fanden Versammlungen statt. Straßenblockaden brachten am 2. Dezember den Verkehr in der Provinz zum erliegen. Massendemonstrationen fanden statt.
Die Arbeiter von Alpina haben den zum neuen Gouverneur von Aragua gewählten Mario Isea, Mitglied der der von Chavez geführten Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas, und die Bundesregierung aufgefordert, die Hintergründe des Mordes voll aufzuklären und dazu eine unabhängige, mit exekutiven Rechten ausgestattete Untersuchungskommission einzurichten, unter Teilnahme von Gewerkschaftsvertretern.
Diese Forderung spiegelt die Erfahrung wieder, daß bisher kaum ein sicariato aufgeklärt wurde. Viele der Staatsanwälte und große Teile der Polizei zeigten bisher wenig Eifer bei der Verfolgung von Auftragskillern, die in Venezuela zugleich mit dem Drogenhandel in Verbindung stehen. Der Gewerkschaftssekretär Stalin Perez Borges forderte Präsident Chavez deshalb auf, endlich dafür zu sorgen, daß die Mörder der sicariatos nicht ungestraft davongekommen. Dabei sei auf die korrupte Polizei bei der Bekämpfung der überbordenden Kriminalität kein Verlaß. Diese sei vielmehr mit der organisierten Kriminalität verbandelt. Die Arbeiter könnten deshalb auf Selbstverteidigung nicht verzichten.
Der rechte Terror hat nach einem Bericht des Friedenszentrums an der Zentraluniversität von Caracas in einigen der Armenviertel dazu geführt, daß dort die Selbstverwaltungsorgane eingeschüchtert und geschwächt wurden, besonders in El Valle, Petare und el Mercado de Coche.
Die Erfolge der bürgerlichen Opposition bei den Wahlen gerade in den wichtigsten Bevölkerungszentren haben deren reaktionärste Elemente zu einer konterrevolutionären Offensive ermutigt. Teile dieser Opposition wollen offenbar die kommunalen Wahlerfolge nutzen, um Chavez nationale Sozial- und Gesundheitspolitik zu sabotieren und zu unterlaufen.
So wurden öffentlichen Gesundheitszentren in den Armenvierteln, in denen Arme kostenlos versorgt werden, am Tag nach der Wahl Räumlichkeiten fristlos gekündigt. Parteivertreter der Opposition wollten Bürgerzentren (Häuser der Volksmacht) schließen, in denen Nachbarschaftsräte tagen. Die extrem rechte Partei “Gerechtigkeit zuerst” griff einige der Zentren an, kubanische Ärzte wurden physisch angegriffen. In der Provinz Tachira ordnete der neu gewählte Gouverneur Cesar Perez noch vor seinem offiziellen Amtsantritt die Schließung von Schulräumen für Alphabetisierungskurse und Bildungsprogramme für Arme an. Angriffe gab es auch auf den alternativen Fernsehsender Avila TV. In einigen Provinzen attackierten die Rechten bolivarische Versammlungen. Es kam zu offenen Straßenkämpfen.
In Los Teques, der Provinzhauptstadt von Miranda, griff der neu gewählte rechte Provinzgouverneur Capriles Radonski mit Schlägern auf Motorrädern und mit Polizisten aus anderen Städten eine Menge an, die auf dem Marktplatz der Amtseinführung des neuen Bürgermeisters der PSUV, Alirio Mendoza beiwohnen wollte.
Diese reaktionäre Offensive und die wachsenden Unzufriedenheit von Teilen der armen Bevölkerung mit den besonders korrupten und inkompetenten Vertretern des rechten Flügels der bolivarischen Bewegung, die bei den jüngsten Wahlen schlecht abschnitten, hat offenbar auch Chavez alarmiert. Dessen Aufruf zu mehr Einheit in den Reihen der Revolution, die von erheblichen Teilen des sich bolivarisch gebenden Staatsapparats offen sabotiert wird, dürfte dazu allerdings wenig beitragen. Auch die Mahnung des Justizministers, daß sich die Opposition in den Provinzen und Kommunen an das nationale Recht halten müsse und die Polizei nicht mißbrauchen dürfe, wird von der Opposition nicht ernst genommen werden.
Aber Chavez kann zugleich auch anders. Hatte er sich zunächst auf die Ankündigung beschränkt, daß die nationale Regierung und die Streitkräfte die Sozialprogramme gemeinsam mit dem Volk verteidigen würden, rief er dazu auf, die Volksbildungsprogramme, die Gesundheitszentren und die Volkshäuser zu verteidigen. Am 30. November stellte er fest: “Was wir hier in Venezuela sehen, ist Klassenkampf, die Armen gegen die Reichen, die Reichen gegen die Armen.” Die Angriffe der Opposition sind nur “ein kleines Beispiel dafür, was passieren würde, wenn diese konterrevolutionären Parteien in Venezuela jemals die Macht an sich reißen sollten.” Er appellierte an die Basis, gegenüber der Konterrevolution wachsam zu bleiben. Im Hinblick auf die Forderung der Basis, die Betriebe zu verstaatlichen, beließ er es jedoch bei der bloßen Drohung mit Verstaatlichung.
Appelle wie dieser fruchten aber nur, wenn sie an der Basis überall entschlossen aufgegriffen werden. Zuallererst müßte dazu die Führung über Appelle hinaus die organisatorische Initiative ergreifen. So weit reicht jedoch deren politische Perspektive nicht. Die Folge ist, daß die PSUV aufgrund ihrer Struktur, ihrer inneren politischen Zerrissenheit und Schwäche nur sehr bedingt in der Lage ist, auf die rechte Offensive passend zu antworten. Diese ist das Resultat des Umstands, daß Chavez und die PSUV versuchen, bürgerliche und Arbeiterinteressen miteinander zu versöhnen. Das führt einerseits dazu, daß in einigen wenigen Fällen die Basismobilisierung gegen die Rechten zu klappen scheint. So wie z.B. in der Provinz Miranda, wo Gewerkschafter, von den Sozialprogrammen der Regierung Begünstigte, Lehrer, Ärzte, Schüler und Studenten am 28.November in Massen auf die Straßen gingen, um ihre Bereitschaft zu demonstrieren, die Errungenschaften der bolivarischen Revolution gegen den neuen Gouverneur zu verteidigen. Andererseits wird dieser Basiswiderstand nicht landesweit organisiert. Das führt auch zur Demoralisierung von Teilen der Basis — wovon bei den letzten Wahlen letztlich die Rechte profitiert hat.
Der PSUV fehlt es aber andererseits an einem Konzept, die Sabotage des Staatsapparats und den bürgerlichen Widerstand zu brechen. Chavez Aufforderung an den neuen Gouverneur von Aragua, die Polizei und die Sicherheitsorgane der Provinz radikal zu reformieren, wird den Sozialismus wenig voranbringen. Die korrupte Polizei müßte aufgelöst werden. Dazu muß eine Arbeitermiliz geschaffen werden.
Chavez spricht zwar davon, daß alle Betriebe enteignet oder nationalisiert werden müssen, die ihre Arbeiter ausbeuten (!) oder nicht bezahlen oder die Produktion einstellen wollen, aber er treibt diesen Prozeß nicht voran. Es gibt kein Gesetzesvorhaben, die privaten Betriebe in Staatseigentum zu überführen, kein Dekret über die landesweite Einführung der Arbeiterkontrolle, keine entsprechende Kampagne der gesamten bolivarischen Gewerkschaftsbewegung in diese Richtung, keinen Aufruf in allen Betrieben, Betriebsräte zu wählen und eine landesweite Delegiertenkonferenz dieser Räte zu organisieren. Es gibt noch nicht einmal Wahlen zu einem nationalen Gewerkschaftskongreß.
Der Ausgang des revolutionären Prozesses hängt deshalb davon ab, ob es der Arbeiterklasse gelingt, durch eine konsequent sozialistische, demokratische und antiimperialistische Politik der Konterrevolution die Basis zu entziehen und den revolutionären Prozeß fortzusetzen. Hierzu bedarf es eines politischen Klärungs- und Neuformierungsprozesses der revolutionären Kräfte Venezuelas.