Peter Feist

Die ökonomischen Frühschriften von W. I. Lenin und einer seiner Kritiker oder:
Die Geschichte ist kein Eierkuchen

Beitrag zur 1. Leninkonferenz 1999

Die Verteidigung der historischen Notwendigkeit und politischen Legitimität der Oktoberrevolution ist für jeden Marxisten, insbesondere aber für jeden Leninisten die zentrale politische Frage, das Scheidewasser zwischen revolutionärem Marxismus und allen Spielarten von Revisionismus und Opportunismus. Die Stellung zu diesem zentralen politischen Ereignis in unserem Jahrhundert scheidet nicht nur die Geister, sondern ist auch eine Kernfrage jeder heutigen sozialistischen Politik . Insofern ist es logisch, daß sich alle Angriffe auf die Theorie von er Möglichkeit der Schaffung einer ausbeutungsfreien Gesellschaft mit maximaler sozialer Gleichheit immer auch damit beschäftigen, die Oktoberrevolution historisch zu delegitimieren. Aus der Unrechtmäßigkeit der Oktoberrevolution folgt die Unmöglichkeit des Sozialismus.
Da sich die Tatsache des historischen Ereignisses schwer leugnen läßt, müssen also alle möglichen Ersatztheorien gebastelt werden, um sie wenigstens gedanklich ungeschehen zu machen. so wird sie zum Putsch gestempelt, der von einer kleinen Clique gemacht worden wäre, die dann eine terroristische Diktatur errichten mußte und dafür die hoffnungsvollen demokratischen Ansätze der Februarrevolution beseitigt hätte - so lautet im Kern die typische bürgerliche Form der Verunglimpfung der Oktoberrevolution und der Bolschewiki. Unter den marxistischen Renegaten verschiedener Spielart ist eine andere Variante weiter verbreitet - die Revolution wird als ungerechtfertigt, historisch zu früh gekommen denunziert, weil nach den Kriterien einer "reinen Lehre" im unterentwickelten Rußland gar keine Revolution hätte ausbrechen dürfen, wenn doch, hätte sie keinen sozialistischen Charakter haben dürfen und deshalb mußte sie notwendigerweise scheitern oder sich in eine terroristische Diktatur gegen die Massen verwandeln - womit man da angekommen ist, wo man hin wollte - auf dem bürgerliche n Standpunkt. Das inzwischen fast weltweite Scheitern der auf der Basis der Oktoberrevolution entstandenen Bewegungen und Gesellschaften infolge ihrer stalinistischen Deformierung gibt diesen Kritikern scheinbar recht.
Um die These von der theoretischen Unmöglichkeit der praktisch gewesenen Revolution zu untermauern, wird in der Regel eine Kluft zwischen der marx´schen Analyse und Lenins Praxis konstruiert, oder behauptet, Lenin hätte sich die marx´sche Theorie hinweggesetzt und seine eigene Theorie geschaffen, um seine verwerfliche Praxis zu rechtfertigen. Die Zahl dieser Thesen ist Legion und beginnt bei Kautsky. Die zentrale theoretische Frage ist dabei das sozialökonomische Wesen der russischen Gesellschaft am Vorabend der Oktoberrevolution , denn nur wenn es sich um eine kapitalistische Gesellschaft gehandelt hat, dann durfte die sozialistische Revolution ausbrechen und war historisch legitim. So scheiden sich die Geister in Bezug auf Lenin nicht schlechthin an der Frage, ob Lenin die marxistisch "Erlaubnis" zur Revolution hatte, sondern ob seine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen im vorrevolutionären Rußland, seine Überzeugung von der kapitalistische Ausreifung der dortigen Verhältnisse, richtig war.
Eine besonders trotzköpfige Variante dieser Art von Lenin-Kritik ist in jüngster Zeit Hartmut Mummert mit seinem Buch "Das Domino-Prinzip - Warum mußte der Sozialismus scheitern ?" . Nachdem sich der Autor auf den ersten Seiten ein Marxbild zurechtgeschnitzt hat, bei dem von Marx ein kompletter Idiot übrigbleibt, sollte nun eigentlich bewiesen werden, warum der komplette Idiot mit seiner idiotischen Theorie niemals recht haben konnte. Da aber dem Autor bei dieser Frechheit selbst unwohl zumute wird, gerät der Marxverbesserer Lenin ins Visier. Schon auf Seite 26 beginnt die Mummertsche Kritik: "Sollte nun die "Waffe" (- die marx´sche Lehre -P.F.) am konkreten Objekt zur Anwendung kommen, mußten sowohl die "weißen Flecken" als auch die Differenzen zwischen Realität und Theorie verschwinden. Das aber hieß, Unstimmigkeiten auszuräumen, indem die Theorie ergänzt wurde. Dieser Aufgabe verschrieb sich Lenin. Und wo das nicht ging, mußten die Realitäten der Theorie angepaßt werden ...".
Im weiteren läßt er uns dann wissen, worin diese Anpassung der Realitäten der Theorie bestand. Nach Mummert hätte Lenin als erstes den Beweis zu erbringen gehabt, "... Rußland der wichtigsten Bedingung für eine proletarische Revolution genügte, daß es ein kapitalistisches Land mit einer starken Arbeiterklasse war." Nach Mummert widmete sich Lenin dieser Aufgabe in seinem "ersten theoretischen Werk `Die Entstehung des Kapitalismus in Rußland`". Dieses Werk gewähre " ... interessante Einblicke in Lenins Methodik der Beweisführung, aber auch in sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit - in eben jenes Verständnis das für Generationen von Marxisten nach Lenin methodisch richtungsweisend werden sollte (...) Das Zauberwort hieß "Anpassung wissenschaftlicher Definitionen an die Realität".
Nun kann ich in der Tat nichts daran finden, wenn ein Wissenschaftler die Definition seiner Begriffe verändert, oder sogar seine Begriffe verwirft, wenn sich durch die Analyse der Wirklichkeit zeigt, daß sie nicht zur Erklärung der objektiven Realität taugen. Wäre dem nicht so, müßten die Physiker noch immer nach dem belebendem Urstoff in allen Dingen oder dem demokritschen Atom suchen., die Biologen die Gesetze der Evolution zur Gunsten der Schöpfungslehre ignorieren und die Philosophen nach der Heimat der unsterblichen Seele. Nur eine Dogmatiker kann etwas schlimm daran finden, die wissenschaftlichen Definitionen der Realität anzupassen. Denn nicht die Definition ist der Ausgangspunkt wissenschaftlichen Denkens, sondern die Realität. Der Unterschied zwischen einem Dogmatiker und einem Vertreter der materialistischen Dialektik liegt in dem einfachen Satz; "Die Wahrheit ist immer konkret" - soll heißen: nicht abstrakt, nicht Ausdruck unserer in Begriffe gefaßten Vorurteile, sondern Ergebnis der Untersuchung der sich ständig verändernden Wirklichkeit.
Daß der im dogmatischen Geist des DDR-Stalinismus erzogene Herr Mummert nun den dogmatischen Beweis antritt, daß der an sich selbst irre Marx nicht recht haben kann, aber Lenin noch viel weniger, weil er die dogmatische Auslegung der irren Lehren von Marx nicht beachtete - diese scholastische Art der Beweisführung ist leider nichts weiter als das Resultat eines in der Wolle gefärbten Stalinisten, der nun der "neuen Mode" des Reformismus huldigen will. Mummert beschuldigt nämlich Lenin in der o.g. Schrift die Tatsachen zu fälschen, sodann die gefälschten Statistiken auch noch falsch zu deuten etc. - was wir hier im einzelnen nicht widerlegen wollen und brauchen, denn der Denkfehler von Herrn Mummert liegt schon in der Voraussetzung.

Wollte Lenin wirklich beweisen, daß "Rußland der wichtigsten Bedingung für eine proletarische Revolution genügte, daß es ein kapitalistisches Land mit einer starken Arbeiterklasse war."? - wollte er also mit seiner ökonomischen Schrift dem Dogma genügen, damit die Revolution mit dem Einverständnis von Herrn Mummert gemacht werden durfte ?
Da Herr Mummert der Meinung ist, "Die Entstehung des Kapitalismus in Rußland" sei Lenins erste Schrift, kann er das Problem selbstredend nicht allein lösen. Helfen wir ihm also. Der o.g. Schrift gehen drei wichtige Arbeiten von Lenin voraus: "Zur sogenannten Frage der Märkte" , "Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struwe" und "Zur sogenannten Frage der Märkte" die in der "Entwicklung..." aufgehoben sind, uns aber in ihrer Spezifik auf die theoriegeschichtliche Ausgangssituation für Lenin hinweisen.
Die Frage , wie die russische Gesellschaft aus ihrer tiefen Unterdrückung, Despotie, feudal-anarchischen Strukturen und der daraus folgenden tiefen Lethargie zu erlösen sei, beschäftigte die russischen Demokraten und Revolutionäre schon seit langem und interessiert selbstredend auch K. Marx. In dem berühmt gewordenen Brief an Vera Sassulitsch (1881) analysiert Marx die russische bäuerliche Dorfgemeinde als eine besondere Form des Gemeineigentums: In Westeuropa, "handelt es sich um die Verwandlung von einer Form des Privateigentum in eine andere Form des Privateigentum. Bei den russischen Bauern würde man imGegentiel ihr Gemeineigentum in Privateigentum umwandeln". Deshalb, so Marx´s These, bestände unter günstigen historischen Voraussetzungen die Möglichkeit, die Dorfgemeinde zu erhalten, wenn es gelänge die natürlichen Lebensbedingungen dieser zu erhalten und die zerstörerischen Einflüsse des Kapitalismus von ihr fernzuhalten. Diese Hoffnung, den Sozialismus ohne den Umweg der Umwandlung des noch bestehenden Gemeineigentums in eine Gesellschaft von Privateigentümern zu erreichen, erklärt warum eine ganze Generation russischer Revolutionäre sich dem Land und der Bauernschaft zuwendet, besonders die sog. Volkstümler. Sie behaupteten in den 90-ziger Jahren des vergangenen Jahrhundert , daß sich in Rußland der innere Markt ständig verengen würde, weil für die Masse der einfachen Warenproduzenten, die Bauern, ein Prozeß der sozialen Differenzierung eingesetzt habe, der zu einer ständigen Verringerung der Kaufkraft geführt habe. Deshalb sei es unmöglich die Produkte der kapitalistischen Produktion abzusetzen, damit wäre aber der Kapitalismus in Rußland unmöglich, wegen des Fehlens eines inneren Marktes.
Mit genau dieser Frage mußte sich der junge Lenin auseinandersetzen: Ist Kapitalismus in Rußland möglich ? und nicht, wie Mummert uns glauben machen will, mit der Frage, wie kann ich beweisen, daß die Arbeiterklasse als politisches Subjekt der sozialen Revolution vorhanden ist.
Lenin erkannte, daß gerade die von den Volkstümler als Beweis herangezogene soziale Differenzierung der Bauernschaft nicht das Hindernis für den Kapitalismus ist, sondern sein eigenes Resultat. Die kleinbäuerliche Bauernwirtschaft mit ihrer geringen Produktivität und Arbeitsteilung befand sich in voller Auflösung. "Der Umfang des Marktes hängt untrennbar mit dem Grad der Spezialisierung der gesellschaftlichen Arbeit zusammen" , erläutert Lenin und zeigt dann, daß die Intensivierung der Arbeitsteilung zu einem Prozeß, geführt hat, in dem der Produzent gezwungen ist, seine Waren auf den Markt zu bringen. Einmal weil er für den Überschuß keine Verwendung mehr hat und zweitens, weil er durch den Prozeß der Arbeitsteilung einen Grad der Spezialisierung erreicht hat, des es ihm unmöglich macht, alle Dinge des eigenen Bedarfs auch selbst zu produzieren, so daß er gezwungen ist, sie im Austausch zu erwerben. Indem Lenin zeigt, daß die Produktivkraftentwicklung zu einer Vergrößerung der Arbeitsteilung gerade auf dem Lande geführt hat, zeigt er die Existenz eines sich ständig vergrößernden Binnenmarktes , der Resultat und Voraussetzung des Kapitalismus ist und deshalb zur sozialen Differenzierung auf dem Lande geführt hat. Damit ist die Verteidigung der patriarchalischen Verhältnisse auf dem Lande durch die Volkstümler reaktionär, ein historischer Anachronismus, weil sie mit moralischen Kategorien eine objektive ökonomische Entwicklung beurteilten, weshalb Lenin die ganze Richtung als kleinbürgerlich charakterisierte. Für die Volkstümler war es eine moralische Frage, ob man kapitalistische produziert(was sie verneinen) oder ob man die einfache Warenproduktion um jeden Preis zu erhalten habe. Natürlich ist vom Standpunkt des Ideals der sozialen Gleichheit die kapitalistische Warenproduktion unmoralischer als die einfache Warenproduktion, in der Analyse der realen Welt (objektiven Realität) hat die Moral aber nichts zu suchen, sie ist hier nur ein Vorurteil. Lenin unterscheidet sich gerade darin von den Volkstümlern, daß er die objektiven Tatsachen vorurteilsfrei untersucht und anerkennt und zugleich die revolutionären Chancen in ihnen wahrnimmt. Er erkennt, daß der Prozeß der Ausbildung der sozialen Ungleichheit auf dem Lande im rückständigen Agrarland Rußland zu einer sozialen Sprengkraft mit hoher Eigendynamik führen wird. Nicht umsonst ist eine der drei großen Losungen des Revolutionsjahres 1917 die Bodenfrage und das entsprechende Dekret eines der ersten der jungen Sowjetmacht.
Die kapitalistische Zerstörung der bäuerlichen Dorfgemeinschaft läßt Marx kühne Vision nicht zu, für die Revolutionäre ist ein Strategiewechsel notwendig, weg von der Hinwendung zum Land und den Bauern als der am stärksten unterdrückten Klasse, hin zur sich gerade entwickelnden Arbeiterklasse in den großen Städten. Nicht um dem Dogma zu gehorchen, wie es Herr Mummert machen würde, auch nicht nachdem man sich die Tatsachen zurechtgebogen hat, damit die Theorie wieder stimmt (wie Mummert unterstellt), sondern weil eben diese Tatsachen zeigen, daß sich der Kapitalismus in Rußland entwickelt und zwar nicht vorrangig als westeuropäischer Import, sondern durch ein stetiges Wachstum des Binnenmarktes infolge der kapitalistische Durchdringung der Landwirtschaft.
Mummert fälscht also die Tatsachen, wenn er behauptet, daß Lenin (um ein nur bei Herrn Mummert existierendes Dogma zu erfüllen) die Tatsachen fälschen mußte, damit aus Bauern Proletarier werden , sondern verrät uns schlicht, daß er von politischer Ökonomie keine Ahnung hat und den zweiten Band von Marx´ens Kaital nicht versteht.
Lenin beschäftigte sich nicht mit der sozialökonomischen Situation in Rußland um durch statistische Fälschungen aus 1,6% Industrieproletariat eine Mehrheit für die erfolgreiche proletarische Revolution zurecht zu konstruieren, sondern entdeckte bei der Analyse der Wirklichkeit als Resultat (und nicht als Voraussetzung), das eigentliche Geheimnis, warum die russische Gesellschaft in eine tiefe Krise mit hoher revolutionärer Dynamik geraten sollte ® die kapitalistische Zersetzung der einfachen Warenproduktion auf dem Lande, die mehr als 4/5 der gesellschaftlichen Gesamtproduktion des vorrevolutionären Rußland ausmachte.
Subjektivisten, also Leute die glauben, daß Geschichte von diesem oder jenem "gemacht" wird, glauben auch irrigerweise, daß der "Putschist" Lenin die Oktoberrevolution gemacht hätte. Wir wissen es besser: soziale Explosionen von der Kraft und gesellschaftlichen Fernwirkung der Oktoberrevolution sind das Resultat objektiv wirkender gesellschaftlicher Gesetze und Widersprüche, auch wenn einzelne Menschen natürlich auf die Form des Ablaufs historischer Ereignisse einen Einfluß haben, manchmal sogar einen bestimmenden . Es zeigt sich: die Kritiker des "voluntaristischen Politikers" Lenin sind selbst die eigentlichen Voluntaristen. Aber die Geschichte ist kein Eierkuchen, den sich der Chefkoch Lenin nach belieben backen konnte. Gleichwohl waren Lenin und seine Partei in der brodelnden Masse von Widersprüchen der russischen Gesellschaft am Vorabend der Oktoberrevolution das Ferment, das aus dem Ganzen die Möglichkeit des ersten sozialistischen Versuchs entstehen lassen konnte. Soweit zu den üblichen bürgerliche Thesen gegen die Oktoberrevolution .
Herr Mummert ist insofern eine Besonderheit, weil er uns ein großes Rätsel aufgibt: Wenn Lenin sich einen Kapitalismus in Rußland zurechtgelogen hatte, damit er eine Partei schaffen konnte, die eine nicht vorhandene Arbeiterklasse führen sollte, um den sowieso nicht realisierbaren Sozialismus zu erreichen, warum hat dann diese Oktoberrevolution überhaupt stattgefunden ?
Ich bin sicher, daß einigen Tages ein weiterer Herr Mummert auftreten wird, der uns dogmatisch exakt beweist: alles war nur eine optische Täuschung, ein Traumgebilde, und die Zeitspanne 1917-1990 existiert in der Weltgeschichte überhaupt nicht.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt !

Autor: Peter Feist