Jost Kaschube:

Der Ultraimperialismus der Heuschrecken und die neue nationale Frage.

Contra auf drei Thesen aus Elsässers “Angriff der Heuschrecken”

Wir sind Zeuge einer epochalen Veränderung, behauptet Elsässer in seinem neuen Buch. Mit dem “Angriff der Heuschrecken” hat das letzte Stündchen des Kapitalismus geschlagen. Die Aliens, wie sie bei Elsässer auch heißen, leben angeblich nicht von der Abschöpfung des Mehrwerts, sondern von der Zerstörung der Mehrwertproduktion. Sie sollen sogar das Wertgesetz und damit die Grundlage des Kapitalismus aufheben. Nicht das Proletariat, wie Marx einst hoffte, sondern eine Mutante des Klassenfeinds erledigt die ordinäre Kapitalistenplage. Nach dem realen Sozialismus gibt es demnach eine neue Art, den Kapitalismus zu überwinden, weshalb die Skepsis gegen die unspezifischen Losungen des Antikapitalismus begründet ist. Man muss dreimal prüfen, was sich hinter den Parolen verbirgt. Leider sind auch die neuen Herrscher Imperialisten, wenn auch auf gezähmte Weise. Ihr Ultraimperialismus reibt sich besonders an den Nationalstaaten und wirft angeblich auch für Deutschland eine neue nationale Frage auf. Elsässer setzt ihm sein Programm zur Verteidigung der nationalen Souveränität entgegen. Das greift ideologisch, wo es die Antideutschen decouvriert. Politisch erscheint es hilflos und nach rückwärts gewandt. Zur Ultraimperialismusthese bringt Elsässer kein Argument, das Elsässer nicht selbst widerlegt hätte. Das Trüffelschwein, das er sich nennt, findet zu jedem Leckerli auch das beste Antidot. Der Autor versteht sich selbst als Marxist und geht doch freizügig bis zur völligen Entäußerung mit fundamentalen Erkenntnissen von Marx und Lenin um. Entweder das eine oder das andere wäre eine bessere Maxime.

Angebliche Zersetzung des Wertgesetzes

1971 soll eine neue Ära begonnen haben. Die alienistische Revolution ging fast unbemerkt über die Bühne und ist ganz und gar friedlich verlaufen. Sie wurde mit dem Federkiel erstritten. Mit ihm hatte die Nixon Regierung der USA die Selbstverpflichtung zum Umtausch von Dollar in Gold aufgekündigt. Der zweite Meilenstein wurde 1976 gelegt, als der Internationale Währungsfond die völlige Lösung des Geldwertes vom Goldpreis verfügte. Für Elsässer ergeben sich daraus epochale Folgen. Die Aliens hätten die Bindung des Geldes an die Arbeitszeit aufgehoben und das Wertgesetzt außer Kraft gesetzt. Ob man noch von Kapitalismus sprechen könne, wenn das Wertgesetz nicht mehr gelte? Elsässer ist sich sicher: “Die Heuschrecken haben die ökonomische Grundlage des Kapitalismus zersetzt. Diese Grundlage war für Marx das Wertgesetz, die Wertermittlung qua Arbeitszeit” (22)[1].

Wofür der wehrlose Mann seinen wieder Namen hergeben muss! Marx hatte ein spezifisches Produktionsverhältnis, namentlich die Lohnarbeit bei Privatbesitz an den Produktionsmitteln als konstitutiv für den Kapitalismus gehalten. Die historischen Existenzbedingungen der kapitalistischen Produktion “waren durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation.” Sie entstehen nur, “wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte.”[2] Elsässer hat keinen Hinweis darauf gegeben, dass die Aliens Hand an diese eine Grundlage des Kapitalismus gelegt hätten.

Demgegenüber hatte Marx das Wertgesetz ausdrücklich nicht für eine spezifisch kapitalistische Einrichtung, sondern für ein Naturgesetz gehalten. Es sei weder charakteristisch für den Kapitalismus, noch für die Warenproduktion überhaupt. Es gelte für Robinson Crusoe auf seiner Insel, sogar noch bevor er mit Freitag seine Arbeit teilen konnte, ebenso wie für die “ländlich patriarchalische Industrie einer Bauernfamilie” und natürlich für die kapitalistische Produktion. Das kann man in dem berühmten Kapitel über die Ware[3] von Karl Marx nachlesen. Für Marx ist es selbstverständlich — und hier schrillen bei den meisten Linken die Alarmsirenen - dass es auch wirksam ist für eine sozialistische Wirtschaft oder, wie Marx schreibt, für einen Verein freier Menschen, “die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.” Wie sonst sollte man eine komplex Produktion und sparsamen Umgang mit Ressourcen planen, wenn man nicht Buch darüber führt, wie viel Zeit man für ein Produkt braucht? “Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen,” lesen wir bei Marx weiter, “ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiedenen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts.” Je komplexer und vielfältiger die Produkte werden, desto genauer muss die Zeiterfassung sein. P. Cockshott und A. Cotrell und haben ein hübsches Buch[4] darüber geschrieben. Man kann das Wertgesetz ignorieren, aufheben kann man es nicht. Auf den Kapitalismus gemünzt, heißt es bei Marx, dass “sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt.”[5] Friedrich Engels hatte die Vision, dass die die Menschen beherrschenden Naturgesetze dereinst “von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht” werden. Die Sowjetunion unter Stalin hat genau entgegengesetzt gehandelt und das Wertgesetz vorsätzlich konterkarriert. Das ist bekanntlich nicht gut gegangen. Bei Elsässer ließt man dazu Erstaunliches: “So reaktionär das Politbüro teilweise war, die Ökonomie war progressiv — gerade weil sie nicht mit dem Westen mithalten konnte (167).” Das ist schon starker Tobak für einen Marxisten. Die hatten doch früher gedacht, durch die Entwicklung der Produktion die Mittel für die Befreiung der Arbeiterklasse zu schaffen.

Vom kapitalistischen Imperialismus zum alienistischen Ultraimperialismus

Das zweite fundamentale Problem der sozialistischen Theorie, das Elsässer anschneidet, betrifft die Grundlage und den Charakter des Imperialismus. Elsässers Hauptthese ist hier, dass der Alienismus unserer Epoche einen denationalisierten Ultraimperialismus produziert.

Die Idee vom Ultraimperialismus zunächst ist alt. Der deutsche Sozialdemokrat Kautsky hat sie schon zu Anfang des 20. Jahrhundert aufgestellt und Lenin hatte sie damals als pseudomarxistische Theorie scharf kritisiert. Er sah ihren “wirklichen sozialen Sinn” einzig und allein darin, dass sie die Völker an die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens im Kapitalismus glauben lassen wolle. Das hielt er für “Betrug an den Massen und sonst absolut nichts”. Lenin bestritt nicht, dass sich das Finanzkapital international verbünden könne. Aber solche Zusammenschlüsse liefen seiner Ansicht nach entweder direkt darauf hinaus, dass die Großmächte gegeneinandergerichtete Koalitionen bilden, oder es komme zu einem allgemeinen Bündnis aller imperialistischen Mächte, und dann geschehe das, um gemeinsam den Rest der Welt untereinander aufzuteilen. Solche Bündnisse gleich welcher Art seien nur Atempausen zwischen Kriegen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat Lenin offenbar Recht gegeben.

Für den alten kapitalistischen Imperialismus hatten die Sozialisten letztlich das Finanzkapital verantwortlich gemacht, das der Ökonom Hilferding als Verschmelzung des nationalen Industriekapitals mit den Banken charakterisiert hatte. Elsässer meint nun, dass im Unterschied zu früher nicht mehr die nationalstaatlichen Monopole die Macht innehaben, sondern dass heute multinationale Konzerne die Regie führen, und dass ein Teil des Finanzkapitals, namentlich das Fondkapital die Fesseln der industriellen Produktion abgestreift habe. Die entscheidenden Träger der Ökonomie hätten somit die Bindung an den Nationalstaat verloren. Elsässer vermeint im spekulativen Kapital die ökonomische Grundlage des Ultraimperialismus zu kennen. Das Kapital der Aliens sei vaterlandslos, unabhängig von den Industriestaaten des Nordens und operiere exterritorial vom Todesstern aus. Wer mithalten wolle, müsse die nationale Verankerung kappen. Die Aliens seien zwar auch Imperialisten, aber ihre Herrschaft sei Ultraimperialismus, verkündet Elsässer. “Damit fällt auch der Begriff des Imperialismus als Konkurrenzkampf der Großmächte. Heute hätte Lenins Widersacher Karl Kautsky Recht: wir sind Zeuge eines Ultraimperialismus, der alle Großmächte unter einem einheitlichen Kommando zusammenzwingt — dem der United States of Aliens.” Es gebe zwar noch Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten, aber sie könnten “nicht mehr antagonistisch ausgetragen werden. Da die USA mehr in ihre Rüstung investieren, als alle anderen Industriestaaten zusammengenommen, ist jeder Widerstand zwecklos geworden. Die Sonderinteressen, die kleinere Mächte wie Frankreich oder Deutschland noch haben, müssen im Rahmen der US-Strategie artikuliert werden, nicht gegen sie: Man rangelt um die Verteilung der Beute, die der große Räuber gerissen hat” (30). Der Imperialismus funktioniere heute nur noch unter dem Kommando der Aliens. Die Bezeichnung “USA” wird von Elsässer schließlich als Akronym für United States of Aliens umgedeutet. Die hauptsächliche Bedeutung dieser These liegt darin, die Widersprüche zwischen den westlichen Industriestaaten klein zu reden, und insbesondere kriegerische Entwicklungen wie im 20. Jahrhundert auszuschließen.

Bemerkenswert ist auch, dass dieses Empire der Aliens in allen wesentlichen Punkten mit dem Empire von Negri und Hardt übereinstimmt, obwohl sich Elsässer möglichst weit von diesen “Kollaborateuren” distanziert. Elsässer fasst zusammen, was er selbst für die wichtigsten analytischen Aussagen der beiden Autoren hält: Das Empire verwirklicht die Träume des Internationalismus, es lässt sich nur als universelle Republik begreifen. Die heutige globale Herrschaft sei mit dem klassischen Imperialismus nicht mehr zu vergleichen, da sie kein Zentrum, auch keine rivalisierenden Zentren habe. Die USA als Weltpolizist handeln nicht im Interesse des Imperialismus, sondern im Interesse des Empire. “Die Geschichte der imperialistischen, interimperialistischen und antiimperialistischen Kriege ist vorbei. Das Ende der Geschichte kündet von der Herrschaft des Friedens. Genauer gesagt sind wir in das Zeitalter der kleinen und inneren Kriege getreten” (46). Das ist offenbar die theoretische Vorlage für Elsässers Ultraimperialismuskonzept. Hier wie dort finden wir die weitgehende Trennung der Ökonomie von der Politik und die Nichtbeachtung der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung unter dem Kapitalismus. Die Globalisierung und der Neoliberalismus, die ökonomische und ideologische Perspektive ersetzen weitgehend die politische Betrachtung.

Ultraimperialismus ohne Zentrum oder US-amerikanischer Unilateralismus

Der ökonomistischen Betrachtung stehen allerdings zahlreiche Artikel gegenüber, in denen Elsässer das Kürzel USA ganz terrestrisch als US-amerikanische Supermacht identifiziert und der Bruch zwischen den USA als alienistischer Macht und dem US-amerikanischen Unilateralismus durchzieht das ganze Buch. Beide Perspektiven sind unvermittelt miteinander verwurstelt. Die Tatsache, dass die Globalisierung wesentlich von der übrig gebliebenen Supermacht dominiert wird, beunruhige die Autoren Negri und Hardt nicht, kritisiert er treffend. Der Todesstern kreist nun nicht mehr im Orbit, sondern hat sein Zentrum offenbar in Washington. Da heißt es, dass die USA die unangefochtene Überlegenheit auf dem Globus erreichen wollen, da ist die Rede von den Machenschaften der US-amerikanischen Neokons, den Protagonisten des neuen Faschismus und ihren Fünften Kolonnen, von ihren Vorspielen zum Dritten und den Fronten des Vierten Weltkrieges und von ihrem Aufruf zum totalen Krieg gegen den Islamofaschismus mit der angeblichen Alternative von Sieg oder Holocaust. Da kann man lesen, dass selbst die bisherigen Verbündeten der USA in die Schusslinie kommen könnten (82). Und da herrschen auch sonst erhebliche Gegensätze zwischen den USA und Europa. Die USA seien am meisten zugerichtet und flächendeckend deindustrialisiert. Nur noch weniger als 10 Prozent der Arbeiter und Angestellten seien in der Produktion beschäftigt und das Außenhandelsdefizit sei riesig. In Deutschland dagegen liegt der Anteil der unmittelbar produktiven Beschäftigten noch mehr als doppelt so hoch, obwohl auch er stark gesunken ist. Die USA verzeichnen ein turmhohes Handelsdefizit und Deutschland dagegen ist Handelsweltmeister.

Das spekulative Kapital ist anscheinend doch national verankert. Ein großer Teil des vagabundierenden Heuschreckenkapitals entstamme amerikanischen Pensionsfonds, einen anderen Teil steure die amerikanische Notenpresse bei. Die Federal Reserve soll seit 2001 mehr Dollars in den Umlauf gebracht haben als in der gesamten US-Währungsgeschichte zuvor. Das einheitliche Kommando beruhe darauf, dass die Amerikaner die Welt letztlich nur durch nackte militärische Gewalt dazu brächten, ihre Dollars gegen Waren einzutauschen. Demnach hätten wir es keineswegs mit einem denationalisierten, sondern allenfalls mit einem US-amerikanischen Ultraimperialismus zu tun. Dann aber müsste Elsässer uns glauben machen, dass die Chinesen und Japaner mit der Pistole auf der Brust gezwungen wurden, jeweils über eine Billion Dollar zu horten. Und dass es der Weisheit des “einheitlichen Kommandos” entspricht, dass die Europäer den Euro als neue Währung eingeführt haben und nicht den Dollar. Die orbitalen Aliens an der Macht hätten das unbedingt verhindert.

Kurz - Elsässers Neuauflage des Ultraimperialismus ist widersprüchlich und nicht überzeugend. Ob nämlich nationale Monopole oder internationale Monopole Bündnisse schließen, macht keinen entscheidenden Unterschied, zumal die internationalen Monopole zwar weltweit operieren, aber ihre nationale Basis erhalten haben. Als treibende Kraft hinter den “vermeintlich supranationalen Organisationen” entdeckt Elsässer selbst die Großmächte und deren Konzerne, die “mitnichten supranational sind” (158). Hinzu kommt, dass es das einheitliche Kommando auf der politischen Ebene schon längst nicht mehr gibt. Die Risse im “Westen” vertiefen sich, nachdem das einigende Band durch die Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion zerrissen ist. Die Debatte über den Unilateralismus der USA bricht nicht ab. Die Nato als militärischer Ausdruck des westlichen Bündnisses verliert ständig an Bedeutung. Die Amerikaner selbst drängen sie durch bilaterale Vereinbarungen und Koalitionen der Willigen an den Rand, aktuell durch den geplanten Raketenschirm. Die US-Elite weiß sehr gut, dass jedes Imperium zeitlich ist, und sie selbst sieht viele mögliche Rivalen. Sie kämpft bescheiden für ein neues amerikanisches Jahrhundert (PNAC), und nicht etwa für ein westliches Jahrtausend. Sie reißt Beute, nicht um sie zu teilen, wie Elsässer wohl meint, sondern um das Aufkommen von Rivalen zu verhindern. Dass Widerstand zwecklos ist, macht ihn nicht unmöglich. Schließlich wird Stärke nicht nur militärisch, sondern neben anderen Faktoren vor allem wirtschaftlich und finanziell bestimmt.

Politisch ist Elsässer offenbar noch ganz im Weltbild des 20. Jahrhunderts befangen. Als Großmächte fallen ihm nur die USA und die Mittelmächte England, Deutschland und Frankreich, also der so genannte Westen ein. Aber die Karten werden seit langem neu gemischt. Russland tritt wieder als Spieler auf, China und Indien erstarken, vielleicht steigt auch Brasilien in die Oberliga auf. Die europäischen Staaten werden sich zu den Vereinigten Staaten von Europa zusammenschließen oder an Gewicht verlieren. Welche Koalitionen sich künftig entwickeln, ist völlig offen. Der Streit um die strategische Ausrichtung Europas zwischen Asien und Amerika entbrennt gerade aufs Neue.

Nationale Frage stellt sich angeblich in Europa neu

Schließlich befasst sich Elsässer mit dem Verhältnis von sozialistischer Politik und Nation. Da nimmt er wieder ganz die ökonomistische Perspektive ein. “Die Globalisierung … geht über den klassischen Imperialismus hinaus, da auch die einst mächtigen Nationen Europas in das supranationale Imperium hineingezogen werden” (118). Die EU sauge die Einzelstaaten Zug um Zug auf, bilde aber keinen Superstaat, sondern eher einen Antistaat, der eine gemeinsame Politik verhindere (13). Die EU erscheint somit als Instanz des Alienismus. Elsässer zitiert Negri und Hardt als Zeugen für die These, dass das “Empire seine Hauptfeinde in Nation und Nationalstaat” sieht (46). Elsässers neue nationale Frage reflektiert das Verhältnis von Brüssel zu Berlin, sie ignoriert den Unilateralismus

Undialektisch setzt Elsässer dem vermeintlichen Empire der Aliens die unmittelbare Negation entgegen und verteidigt die Souveränität der Nationalstaaten. Nachdem er in 2001 zur internationalen Einheitsfront der Völker gegen die Supermächte USA und Deutschland (140) aufgerufen hat, formuliert er nun ein national protektionistisches Programm für Deutschland. Es sei zum ersten erforderlich gegen Brüssel “den sozialen und ökonomischen Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern”, und zwar durch Renationalisierung der Entscheidungen über Investitionen und Privatisierung (120). Zum anderen müsse die nationale Souveränität in der Militärpolitik erkämpft werden durch Verweigerung der Stützpunktrechte an die Amerikaner und den Austritt aus der NATO.

Elsässer verteidigt seine Position gegen den Vorwurf des Nationalismus mit einer zentralen Passage aus dem Kommunistischen Manifest: “Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.” Das ist bestenfalls eine Eulenspiegelei. Der strategische Rat von Marx stammt aus dem Jahre 1848. Indem Marx postuliert, dass die Eroberung der Macht der Form nach national vor sich gehen müsse, hat der dem Proletariat ganz einfach vorgeschlagen, es der Bourgeoisie nachzumachen. Das englische und später das französische Bürgertum waren so vorgegangen. In Deutschland und Italien war es zu Marx Zeit dabei, einen Nationalstaat zu bilden und sich an die Spitze desselben zu stellen. Dieser Prozess ist für die großen westeuropäischen Nationen 1871 abgeschlossen. Der Form nach würde das Proletariat auch national vorgehen müssen. Ein vereintes Europa war damals nicht vorstellbar, zumal die deutsche Einigung nur gegen Frankreich durchgesetzt werden konnte.

Vereinigung über alles andere

Heute haben wir in Europa einen ökonomischen und politischen Prozess der Vereinigung auf freiwilliger Basis, den der “bärtige alte Mann” sicher unterstützt hätte, wie Bernhard Schmid Elsässer in einem Briefwechsel vorhält, denn Marx war zweifellos ein politischer Zentralist. Und obwohl Lenin das Recht auf Selbstbestimmung vehement verteidigt hat, hat er doch stets betont, dass es nicht der Zweck sozialistischer Politik, sondern eher ihr Mittel sei: “Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur die Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung.” [6] Und über die nationale Politik des Proletariat schreibt er: “Bei Anerkennung der Gleichberechtigung und des gleichen Rechts auf einen Nationalstaat schätzt und stellt es die Vereinigung der Proletarier aller Nationen über alles andere ...”[7]

Das wichtigste Studienobjekt von Marx und zugleich Musterbeispiel für Lenin ist das von Britannien abhängige Irland. Marx hat nach reiflicher Überlegung die Lostrennung Irlands von England propagiert - vom Standpunkt des revolutionären Kampfes der englischen Arbeiter wohlgemerkt. Denn nie kann ein Volk frei sein, das andere unterdrückt. Und im wohlverstandenen Interesse der irischen Arbeiter hat er hinzugefügt: “obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag.” Lenin hat ausdrücklich darauf hingewiesen, worauf es in dieser Fallstudie ankommt. Marx sei ein politischer Zentralist gewesen und “es gab nur eine einzige Möglichkeit, die Fortschrittlichkeit dieser Konzentration nicht imperialistisch zu vertreten.” — nämlich durch die unbedingte Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung und den freiwilligen Zusammenschluss! Bei aller Zeitlichkeit der Meister, sollte das nicht mehr gültig sein?

Schon 1915 ist in der Zeitung “Sozialdemokrat” die Losung der Vereinigten Staaten von Europa aufgestellt worden und Lenin hat sie als politische Losung “im Zusammenhang mit dem revolutionären Sturz der drei reaktionärsten Monarchien Europas, an ihrer Spitze der russischen” als völlig unanfechtbar bezeichnet. Allerdings hat Lenin damals auch die Frage nach dem ökonomischen Inhalt und Sinn dieser Losung gestellt und beantwortet. Die Vereinigten Staaten von Europa seien “unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär”. Für reaktionär hielt er sie wegen ihrer Kolonien und wegen des Kapitalexports. Damals war fast die gesamte außeramerikanische Welt unter die vier Großmächte Deutschland, England, Frankreich und Russland aufgeteilt. Damals vereinten die Großmächte England, Frankreich und Deutschland die Masse des Kapitals auf sich und hatten im Ausland mindestens 70 Milliarden Rubel Kapital untergebracht. Heute haben die Europäer keine Kolonien mehr. Außerhalb Europas ist viel Kapital angehäuft und die Eurozone zeichnet sich eben nicht besonders durch Kapitalexport, sondern vor allem durch Produktion und Handel aus. Der Daily Telegraph London schrieb dieser Tage, dass in London mehr Geld verwaltet wird, als in der gesamten Euro-Zone zusammen genommen. Eine verstärkte Integration könne Britannien nichts bringen, “was wir nicht auch auf andere Weise erhalten könnten”.

In Westeuropa betreibt die Bourgeoisie seit 50 Jahren den ökonomischen und politischen Zusammenschluss der Nationalstaaten, anfangs unter Perspektive der ökonomischen Rationalität und seit der Epoche des Unilateralismus zunehmend mit politischer Zielsetzung. Die westeuropäische Linke hatte lange Zeit, sich einen Standpunkt dazu zurechtzulegen. Sie hatte einerseits den Zusammenschluss der sozialistischen Bruderländer gutgeheißen, obwohl er weder freiwillig war, noch ohne Beglückung zustande gekommen ist, obwohl die Doktrin der beschränkten Souveränität zur Anwendung kam, obwohl der reale Sozialismus keine Annäherung der osteuropäischen Völker hervorgebracht hat, so dass aus seinem Nachlass kein vereintes Osteuropa, sondern unabhängige Nationalstaaten entstanden sind. Andererseits aber lehnt die Linke weitgehend den freiwilligen Zusammenschluss der Europäer ab. Die Vereinigten Staaten von Europa sollen als sozialistische Zukunftsvision reserviert bleiben. Zwischen den Weltkriegen, erinnert sich Sebastian Hafner, hätte “eine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat” bestanden. Und doch schrieb Pirker zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, dass die EU keine positive Überwindung der Nationen sei und zerschlagen werden müsse, freilich ohne den Hauch einer Substantiierung. Ist das nicht ein völlig unreifes Urteil? Auch Elsässer lehnt den europäischen Zusammenschluss ab. Allenfalls Kleineuropa sei akzeptabel. Er hält es für progressiv, gegen die EU-Erweiterung im Allgemeinen und insbesondere gegen den Beitritt der Türkei einzutreten. Die EU müsse zurechtgestutzt werden auf eine Konföderation von Staaten, zwischen denen es kein zu starkes Wohlstandsgefälle gibt (109).

Die deutsche Linke hat gerade in der nationalen Frage so ziemlich jeden möglichen Bock geschossen. Sie hat insbesondere die deutsche nationale Einheit unter der Hegemonie der Supermächte desavouiert. Sich heute angesichts ihres faktischen Zusammenschlusses hinter der Souveränität der europäischen Nationalstaaten zu verschanzen, ist ein absoluter Anachronismus. War zu Marx Zeit eine andere als nationale Strategie nicht denkbar, so ist heute ein Alleingang in Europa unmöglich. Das gilt auch im Verhältnis zum Unilateralismus der USA. Elsässer würde wahrscheinlich nicht auf den extremen Provinzialismus verfallen, z.B. die Frage der amerikanischen Raketenabwehr auf eine Dreiecksbeziehung zwischen Deutschland, Polen und Tschechien zu reduzieren, wie man es dieser Tage in der “Jungen Welt” lesen konnte, aber er muss sich schon fragen lassen, wie Deutschland im Alleingang die amerikanischen Stützpunkte und die Nato-Mitgliedschaft loswerden soll, wo es dem Gaullismus trotz nuklearer Bewaffnung nicht gelungen ist. Das könnte allenfalls im Rahmen einer europäischen Einigungs- und Sicherheitspolitik gelingen. Und nur wenn Europa über eigene Streitkräfte verfügt, kann es seine Unabhängigkeit verteidigen, die Einmischung der USA zurückzuweisen und den USA die Gefolgschaft bei ihren militärischen Interventionen verweigern. Dann fänden die Unilateralisten keine Uboote mehr und keine willigen Partner. Die Gefahr, dass Europa eine Supermacht wie die USA wird, ist auf längere Sicht irreal. Gerade weil viele Interessen unter einen Hut kommen müssten und weil ihre militärische Macht sehr begrenzt ist. Wenn es andererseits nicht gelingt, die politische Einigung zu vertiefen, dann wird Europa unweigerlich einem neuen Ringen um Hegemonie ausgesetzt sein, das nicht nur spaltend, sondern polarisierend wirken kann. Es gibt in Europa keine neue nationale Frage, es gibt die Notwendigkeit der politischen Vereinigung.

Die Vereinigung mit den unterdrückten Völkern bleibt richtig

Schließlich befindet Elsässer, dass die alte Losung “Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch! nicht in die jüngste Epoche passe. Denn es sei gegenwärtig gefährlich, an die unterdrückten Völker zu appellieren, weil sie vom Imperium instrumentalisiert würden, um sogenannte Schurkenstaaten zu zerstückeln. Die Linke müsse weltweit die Solidarität mit den Staaten organisieren, die zum Abschuss freigegeben sind. Die neue Losung könnte lauten: “Proletarier aller Länder und bedrohte Staaten, vereinigt Euch.”

Die Gefahr des Missbrauchs der Losung, die Elsässer sieht, war immer gegeben. Zum anderen ist festzuhalten, dass der Appell an die unterdrückten Völker nie ein Aufruf zur Separation war. Im Gegenteil. Lenin hatte größten Wert darauf gelegt, dass die Proletarier dem “Praktizismus der Bourgeoisie in der nationalen Frage eine prinzipielle Politik” entgegenstellen. Sie bestand für ihn in Zweierlei, darin, für “volle Gleichberechtigung der Nationen und Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen”[8] einzutreten. Und zwischen beidem erkannte er einen engen Zusammenhang. “Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.” Das Proletariat sei daher für strikte Gleichberechtigung der Nationen, gegen jede Exklusivität, gegen jedes Privileg. Es müsse für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen, dessen Kern die Freiheit der politischen Abtrennung der von seiner Nation unterdrückten Kolonien und Nationen ist.

Während nun die Sozialisten unbedingt das Recht auf Lostrennung verteidigen, so unterstützen sie den Kampf um Lostrennung keineswegs in jedem Fall. Die Marxisten haben grundsätzlich immer die politische Großwetterlage berücksichtigt und die partikularen den allgemeinen Interessen untergeordnet. Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westeuropa bürgerliche Nationalstaaten herausbildeten, haben Marx und Engels den russischen Zarismus als Hauptgegner der Demokratie und des sozialen Fortschritts angesehen. Lenin hat diese Auffassung voll und ganz geteilt und geschrieben: Von 1849 “bis 1890, als ein reaktionärer Krieg des Zarismus im Bündnis mit Frankreich gegen das nichtimperialistische, aber national unabhängige Deutschland drohte, trat Engels vor allem und am stärksten für den Kampf gegen den Zarismus ein.” Marx und Engels hätten zu dieser Zeit die Völker Europas eingeteilt in reaktionäre und revolutionäre nach ihrem Verhältnis zur zaristischen Politik. “Das ist eine Tatsache”, betont Lenin, “und auf diese Tatsache ist damals zweifellos richtig hingewiesen worden, denn 1848 fochten die revolutionären Völker für die Freiheit, deren Hauptfeind der Zarismus war.”[9]

Es folgte die imperialistische Periode, in der die europäischen Nationalstaaten etwa gleichstarke Koalitionen bildeten und den Ersten Weltkrieg ausfochten. Unter diesen günstigen Bedingungen haben die revolutionären Marxisten ihre Strategie ganz auf die sozialistische Revolution eingestellt. Danach kämpften die zivilisierten Kräfte der Menschheit gegen den Faschismus, obgleich auch der Faschismus gern im Namen der Völkerbefreiung auftrat. Die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zur Auflösung der Sowjetunion stand im Zeichen des Kalten Krieges zwischen den Supermächten. Das war die große Zeit für die nationalen Bewegungen in der Dritten Welt, die sich nicht von der einen oder der anderen Supermacht instrumentalisieren ließen. Seit dem Ende der Bipolarität kann man keine politische Frage von Rang beantworten, ohne den Unilateralismus der USA zu berücksichtigen.

Wo Elsässer sich konkret mit dem Unilateralismus auseinandersetzt, kann man ihm nur zustimmen. Serbien gehörte die Solidarität gegen die Nato unter Führung der USA. Die Völker des Irak und Afghanistans führen, trotz aller Selbstzerfleischung einen gerechten Kampf gegen die ausländischen Besatzer. Daraus folgt aber, dass der Appell an die unterdrückten Völker zur Vereinigung so stimmig ist wie eh und je. Auf keinen Fall sollte man die nationale Souveränität gegen die Tendenzen zum politischen Zusammenschluss gegen den Unilateralismus ausspielen.


[1]Zahlen in Klammern beziehen sich auf Seiten in “Angriff der Heuschrecken” von Jürgen Elsässer
[2]Karl Marx/Friedrich Engels, MEW Bd. 23, S. 184
[3]MEW, Bd. 23, S. 90ff
[4]Alternativen aus dem Rechner, für sozialistische Planung und direkte Demokratie
[5]MEW, Bd. 23, S. 89
[6]Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht, Werke Bd. 22, S. 148
[7]A. a. O., S. 414
[8]Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Lenin Werke Bd. 20, S. 460
[9]Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, Lenin Werke, Bd.22, S. 345f