Peter Feist:

Wolfgang Harich und die Hegeldiskussion der 50er Jahre in der DDR

Wolfgang Harich war Philosoph, streitbarer Politiker, Literatur-Kritiker und ein kommunistischer Dissident. Ich will hier vor allem über den Philosophen Wolfgang Harich sprechen. Seiner heftigen politische Attacke gegen Walter Ulbricht und den verkrusteten Führungsapparat der SED im Jahr 1956, während der einer großen Öffentlichkeit die kritische Position Wolfgang Harich bekannt wurde, ging eine längere Entwicklung voraus.

In einem weitaus geringeren Maße ist bekannt, daß er schon seit Ende der vierziger Jahre unermüdlich gegen Dogmatismus und geistige Engstirnigkeit auf philosophischen Gebiet zu Felde zog. Dabei war die Verteidigung Hegels eine der Fragen, an denen sich seine Dissidenz entwickelte. In einer Rede am 26. Oktober 1993 an der Berliner Humboldt-Universität sagte er: "Ich habe mein erstes Parteiverfahren, schweren Herzens, deswegen bekommen, weil ich mich hier an der Universität für eine gerechte Würdigung Hegels gegen Stalin mit allen Mitteln des Einflusses von Georg Lukacs eingesetzt habe."[1]I Worum es bei diesem ersten Konflikt mit der SED inhaltlich ging, will ich im folgenden kurz umreißen und damit dazu auffordern, die philosophischen Kämpfe dieser Zeit genauer zu untersuchen, da in den heute verfügbaren Betrachtungen noch immer die einseitigen SED-Verdikte vorherrschen. Ab September 1951 begann Wolfgang Harich Vorlesungen über Hegel an der Berliner Humboldt-Universität zu halten. Er berichtet: "Was ich da über griechische und hellenistisch-römische Philosophie vortrug, paßte bereits nicht in das simple Schema, das, mit autoritativen Nachdruck, von dem Chefideologen Stalins während der Nachkriegsjahre, von Andrej Shdanow, für die marxistische Darstellung des Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus vorgeschrieben worden war."[2] Ernsthafter wurden seine Probleme, als er ausgehend von Georg Lukacs Buch "Der junge Hegel" seinen Vorlesungsgegenstand auf die klassische deutsche Philosophie ausdehnte. Mit seinem positiv besetzten Blick auf Hegel verstieß er gegen ein Dogma: das von Stalin verordnete Hegelbild. Die Sache endete, trotz sowjetischer Unterstützung für Harich, mit einem Parteiverfahren, bei dem er vor den versammelten Studenten und Dozenten mit einer strengen Rüge bestraft wurde.[3]

Etwa zur selben Zeit begann der Briefwechsel mit Georg Lukacs über die Herausgabe des Buches "Der junge Hegel" für die DDR. In der sehr freimütigen Korrespondenz zwischen den beiden spricht Wolfgang Harich mit Blick auf seine DDR-Kollegen immer nur von "unseren Sektierern" und kommt zu der Einschätzung: "beachten Sie bitte..., daß bei uns in der DDR auf dem Gebiet der Philosophie außer dem dunkel aphoristischen Bloch fast nur noch märkischer Sand existiert, der entweder von sektiererischen Genossen à la Schrickel oder von halbwegs loyal gestimmten bürgerlichen Professoren minderer Güte produziert wird."[4] Im Laufe der brieflichen Verhandlungen verständigten sich beide, außer dem Buch "Der junge Hegel" auch Lukacs "Zerstörung der Vernunft" herauszubringen. Darüber hinaus konnte Wolfgang Harich seinen Budapester Kollegen zur Mitarbeit an der geplanten Philosophie-Zeitschrift gewinnen. In dieser "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" erschien nun in der Nr. I/54 ein Artikel von dem Leipziger Ordinarius für Philosophie Rugard Otto Gropp unter dem Titel: "Die marxistische dialektische Methode und ihr Gegensatz zur idealistischen Dialektik Hegels."[5]Bei diesem, z. T. in scharfem Ton vorgetragenen, Angriff gegen "revisionistische" Auffassungen, bei dem namentlich Georg Lukacs, Ernst Bloch und Auguste Cornu genannt wurden, ging es offensichtlich um die Verteidigung von Positionen von Josef W. Stalin, der im Vorjahr gestorben war. Im Kern ging es um die Art und Weise des Philosophierens, die in der stalinschen und nachstalin' schen Ara von einem extrem mechanischen Denkstil geprägt war. Dieser unschöpferische Dogmatismus, die scholastische Buchstaben- bzw. Zitatengelehrtheit der Zeit, ließ nur Antworten des Typs ja-ja oder nein-nein zu; sozusagen das Schwarz-Weiß-Denken als "Methode".

Das Ineinanderübergehen, das Prozeßhafte, die Tatsache, daß im Neuen Elemente des Alten aufgehoben sind, war diesem mechanischen Denken, der mechanizistischen Pseudodialektik Stalins und seiner Apologeten völlig fremd, weil gefährlich. Wer vom Ineinanderübergehen der Dinge weiß, muß tiefergehendere Fragen stellen, bekommt Zweifel an vereinseitigten, starren Aussagen und wird irgendwann einmal im besten dialektischen Sinne "kritisch und radikal"[6]. Das stalinistische Dogma als Religionsersatz aber verlangte kritiklose Unterwerfung. An die Stelle von kritisch-fragendem Zweifel wurde Glauben gesetzt: Alle Dinge sind entweder wahr oder falsch, politisch gesprochen richtig oder feindlich, sagt das Dogma. Daß etwas der grundsätzlichen Sache nach Falsches zumindest wahre Keime enthalten könnte, eine solche relativierende Betrachtung ist ein Denk-Unding, zeugt vom "ideologischen Eindringen des Klassenfeindes."

Die Debatte um Hegel kann als nahezu ideales Beispiel für diese mechanischen Denkfiguren des stalinistischen Dogmatismus dienen. Die Argumentationsweise von Rugard O. Gropp deckt sich mit der Stalins aus seinem berüchtigten Aufsatz "Über den dialektischen und historischen Materialismus": "Im Gegensatz zur Metaphysik geht die Dialektik davon aus, daß den Naturdingen, den Naturerscheinungen innere Widersprüche eigen sind, denn sie alle haben ihre negative und positive Seite, ihre Vergangenheit und Zukunft, ihr Ablebendes und sich Entwickelndes, daß der Kampf dieser Gegensätze, der Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Absterbendem und neu Entstehendem, zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem, den inneren Gehalt des Entwicklungsprozesses, den inneren Gehalt des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative bildet"[7] Eben jenes statische Dialektikbild des Gegensatzes von Ablebendem und sich Entwickelndem wendet Gropp auf das Verhältnis von Marx und Hegel an. Schon die erste Zwischenüberschrift gibt die Linie vor: "Kantianismus und Hegelianismus bei der Verfälschung der marxistischen Philosophie". Er führt aus: "Während des Zweiten Weltkrieges hat die KPdSU (gemeint ist Stalin -P.F.) eine richtungsweisende Bewertung der deutschen idealistischen Philosophie vom Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts als eines Ausdrucks der aristokratischen Reaktion gegen die französische bürgerliche Revolution von 1789 -1794 und gegen den französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts gegeben."[8] Nun werde der Marxismus... fälschlich als unmittelbare Weiterentwicklung der deutschen klassischen Philosophie dargestellt. Im Karl-Marx-Jahr 1953 bot das breite Interesse auch für den jungen Marx und die Entstehungsgeschichte des Marxismus neue Anknüpfungspunkte für das Aufleben falscher ideengeschichtlicher Auffassungen über das Verhältnis von Marx zu Hegel und damit der Verwischung des Gegensatzes zwischen Materialismus und Idealismus." Man erzeuge "die Vorstellung einer Verwandtschaft zwischen Marxismus und dem Hegelianismus, die Vorstellung, als ob die marxistische Dialektik aus der Hegelschen hergekommen sei", soweit Gropp[9]. Ich hatte oben gezeigt, daß die Dialektik nach Stalin u. a. den Gegensatz zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem, zwischen Altem und Neuem behandelt, folglich ist das Alte, Falsche grundlegend getrennt vom Neuem, Richtigen; folglich gibt es zwischen Hegel und Marx nur einen starren Gegensatz, etwas Trennendes. Deshalb läßt uns Gropp wissen: "Materialismus und Idealismus haben einen qualitativen Unterschied. Der Idealismus ist falsch, der Materialismus ist richtig", und weiter unten: "...die materialistische und idealistische Dialektik (sind) grundsätzlich entgegengesetzt... als die eine richtig, die andere verkehrt ist"[10]. Damit hat Gropp das Dogma erfüllt: Das Alte, zu Uberwindende (Hegel) ist falsch, das Neue, sich Entwickelnde (Marx) ist richtig. Wer einen Übergang von Hegel zu Marx beschreibt, etwas Vermittelndes zwischen beiden (Dialektik) sieht, der vermischt die Grenzen zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen richtig und falsch, ergo ist er ein Feind.

Aber es findet sich noch eine zweite, für den Stalinismus typische Denkfigur - die unvermittelte Anwendung von Begriffen des politischen Kampfes auf philosophisch-wissenschaftliche Fragestellungen. Rugard O. Gropp stellt Hegel richtigerweise in die Traditionslinie der Aufklärung, die er als Klassenideologie des Bürgertums versteht. Die idealistische Dialektik sei "Ausdruck gegenrevolutionären, konservativen Denkens". Als "Beweis" zieht er die Hegelsche Methode, von der These über Antithese zur Synthese zu kommen, heran. Der Begriff der Synthese wird gleichgesetzt mit den politischen Begriffen Versöhnung und Ausgleich. Deshalb argumentiert Gropp: "Der metaphysische Dualismus der Aufklärung war auf gesellschaftlichem Gebiet Ausdruck des Klassengegensatzes der Bourgeoisie gegen die feudalen Klassen. [...] Dagegen war Hegels Dialektik, die den abstrakten Dualismus in der mystischen absoluten Idee aufhob und eine Entwicklung in der Vergangenheit anerkannte (und damit auch dem Feudalismus seine historische ,Vernunft, gab) - ein Ausdruck der Klassenversöhnung zwischen Bourgeoisie und Junkerklasse gegenüber dem Volk, weiterhin ein Ausdruck der Rechtfertigung der Restauration und der Unterordnung der Bourgeoisie unter die Herrschaft des Adels"[11]. Da haben wir's: Hegel ist ein Versöhnler, wenn Lukacs und Bloch den Gegensatz von Hegel und Marx versöhnen wollen, dann sind sie ebenfalls Versöhnler, also Parteifeinde. Im weiteren wird nun auf dutzenden Seiten, die Unterschiede in der Argumentation von Lukacs, Bloch und Cornu großzügig übersehend, im gleichen Stil drauflosgedroschen.

Allerdings war die Zeit eine andere geworden. Stalin war tot, die DDR litt unter den Folgen des 17. Juni 1953 und die SED versuchte mit ihrem »Neuen Kurs« ihre "Verbindung zum Volk" wiederherzustellen. Dazu gehörte auch ein vorsichtigerer Umgang mit der Intelligenzia. Ideologische Abrechnungen mit führenden marxistischen Intellektuellen waren nicht angebracht. Wolfgang Harich setzte durch, daß zum Artikel von R. O. Gropp in der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" eine offene Diskussion stattfinden konnte.

In einem von ihm mitverfaßten redaktionellen Artikel zur Eröffnung der Debatte werden drei Fragen genannt, auf die sich die Auseinandersetzung beziehen sollte. Unter Punkt 2 heißt es: "Die fortschrittlichen und die reaktionären Seiten der klassischen deutschen Philosophie und insbesondere Hegels. [...] Wenn wir die zweite Frage eigens hervorheben, so deswegen, weil, abgesehen von der Aufgabe, den qualitativen Unterschied zwischen der marxistischen und der vormarxistischen Philosophie herauszuarbeiten und konkret zu bestimmen, es u.E. auch darauf ankommt, die historische Rolle richtig einzuschätzen, die die klassische deutsche Philosophie und vor allem Hegel in ihrer Zeit gespielt haben. Auch hierüber enthält der Aufsatz von Gropp bestimmte Ausführungen, von denen wir glauben, daß sie diskutiert werden sollten."[12] Im Rahmen dieser Diskussion erhielten Georg Lukacs, Friedrich Behrens, Auguste Cornu und schließlich Wolfgang Harich die Möglichkeit, ihren Standpunkt in der Zeitschrift darzustellen. Außerdem erschien im Aufbau-Verlag unter dem Lektorat von Wolfgang Harich Lukacs' "D[13]er junge Hegel". Wolfgang Harich verteidigte Hegel und Lukacs, weil er das Prinzip der Geistigkeit, des freien philosophischen Denkens, gegen Dogmatismus und Sektierertum schützen will, weil er sich Sozialismus und Kommunismus nicht als engstirnige, geistlose Phraseologie vorstellen kann. Damit zieht er sich den Haß der Herrschenden zu.

Dieser Haß sollte noch lange nachwirken. Nach den Ereignissen von 1956 in Berlin und Budapest werden Harich und Lukacs zu Unpersonen. Und auch in der 1979 erschienenen halboffiziellen "Geschichte der marxistisch- leninistischen Philosophie in der DDR" heißt es noch: "Der Revisionismus versuchte die Situation, in der bestimmte Fehler Stalins überwunden wurden, zum Kampf gegen die marxistisch-leninistische Theorie überhaupt auszunutzen. Dabei knüpfte besonders die Gruppe um Harich an die von Lukacs und Bloch entwickelten Konzeptionen einer hegelianisierenden Verfälschung des Marxismus an, die den grundlegenden Gegensatz zwischen der idealistischen Dialektik und der materialistischen Dialektik leugnete und auf die Liquidierung des materialistischen Monismus der marxistisch-leninistischen Philosophie hinauslief"[14]

Wie ein welthistorischer Witz, die Hegelsche "List der Vernunft", mutet dagegen an, was nach dem 30. Plenum des ZK der SED 1956 geschah. In mehreren Artikeln und bei einer extra dazu einberufenen Konferenz wurden die philosophischen Standpunkte von Bloch und Lukacs als dem Marxismus feindlich verurteilt. Gleichzeitig faßte das ZK einen Beschluß "Uber das Studium des dialektischen Materialismus in den Grundorganisationen" der SED. In der Folge dieses Beschlusses kam es an den philosophischen Facheinrichtungen zu einer verstärkten Hinwendung zu Dialektik, die unter dem Einfluß von Gottfried Stiehler und Götz Redlow seit den frühen 60er Jahren zu einer Hegel-Renaissance in der DDR führte. Während die Dogmatiker an den SED-Lehreinrichtungen ihre Standpunkte von 1954/56 ständig wiederholten, wurde an den Universitäten der DDR längst etwas anderes gelehrt.

Die Debatten um Hegel 1951 bis 1954/56 wurden für den weiteren Lebensweg von Wolfgang Harich prägend. Kommunistische Dissidenz begann und beginnt immer als Auflehnung gegen die Geistfeindlichkeit des Dogmatismus und führt in ihrer Konsequenz oftmals zum politischen Widerstand, insofern ist die "Harich-Plattform" von 1956 folgerichtig. [...][15] Insofern bildet das Erbe von Wolfgang Harich einen wichtigen Ansatzpunkt für die Klärung weiterer Probleme der Geschichte der DDR.

Erstveröffentlichung in:

Siegfried Prokop (Hrsg.): Ein Streiter für Deutschland - Das Wolfgang Harich-Gedenkkolloquium am 21. März 1996 im Ribbeck-Haus zu Berlin


[1]"Erklärung Dr. Wolfgang Harichs" Eröffnung der Alternativen Ringvorlesung im Wintersemester 1993/94 an der HUB vom 26.10.1993, veröffentlicht als Flugblatt der Hochschulgruppe Demokratischer Sozialisten (HDS), im W.H.-Archiv des Autors
[2]Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Berlin 1993, S. 35
[3]ebenda, S. 23
[4]Brief von Wolfgang Harich an Georg Lukacs vom 5. 9. 1952, Lukacs-Archiv, Budapest
[5]Rugard Otto Gropp: Die marxistische dialektische Methode und ihr Gegensatz zur idealistischen Dialektik Hegels, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Nr.1/1954 (2. Jhg.), S. 69 ff
[6]Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, S. 378 ff
[7]J. W: Stalin: Über den dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1945, S. 6
[8]Gropp, a.a.O., S. 71
[9]Gropp, a.a.O., S. 72 f
[10]Gropp, a.a.O., S. 74
[11]Gropp, a.a.O., S. 84 f
[12]Diskussion über das Verhältnis des Marxismus zur Philosophie Hegels, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3/1954, S. 642
[13]siehe dazu Friedrich Behrens: Cornu, Auguste, Lukacs, Georg, Bloch, Ernst, in: Zeitschrift für Deutsche Philosophie, Jahrgänge 1954-1956. Der Beitrag von Wolfgang Harich erschien in der DZfPh 5/1956, die nach seiner Verhaftung nicht ausgeliefert wurde. In dem später ausgelieferten Heft 5-6/1956 fehlt sein Hegel-Beitrag.
[14]Die Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR, Berlin 1979, S. 222
[15]Dieser Satz mußte wegen einer einstweiligen Verfügung, die die Witwe W. Harichs gegen den Autor erwirkte, hier gestrichen werden.