Lenin neu entdecken.

Wie Michael Brie Lenin erledigt.

Lenin neu entdecken. Das verspricht Michael Brie, einer der wichtigsten Theoretiker der Partei Die Linke in seinem 2017 erschienenen gleichnamigen Werk.[1] Den so vielversprechenden Anspruch erfüllt er leider nicht. Der Versuch mißlingt. Gründlich.

Brie betont, daß sein Büchlein weder eine Gesamtdarstellung des Leninschen Werkes ist noch dessen Einordnung in seine Zeit. Es sei vielmehr “der Versuch einer Rekonstruktion zentraler, strategisch relevanter Positionen aus dem Werk selbst heraus.” Es versteht sich von selbst, daß er zu diesem Zweck eine Menge Zitate Lenins anführt, ja anführen muß. Aber leider läßt dabei seine Auswahl zu wünschen übrig. Hinzu kommt, daß Lenin seine Auffassungen natürlich nicht aus sich selbst heraus entwickelt hat. Er stützte sich bei jeder seiner strategischen Entscheidungen sowohl auf materialistische Analysen der russischen Wirtschaft und Gesellschaft wie des Imperialismus insgesamt und befand sich auf der zeitgemäßen Höhe der theoretischen Debatten des Marxismus. Eine historisch-kritische Darstellung der Entwicklung der Leninschen Positionen aus sich selbst heraus ist daher nicht möglich.

Daran kommt auch Brie in seiner Darstellung wider Willen nicht vorbei. Er glaubt aber, Lenins vorgebliche Isolation im Exil und die scheinbare Abgehobenheit der Strategieentwicklung von der realen historischen Entwicklung zu Beginn des Ersten Weltkrieges betonen zu müssen. Er übersieht dabei, daß die zeitweilige politische Marginalisierung der revolutionären Linken nichts daran änderte, daß deren Politik auf einer durch und durch realistischen Analyse der historischen Entwicklung fußte. Dennoch merkt er zunächst ohne jede Begründung an, daß die Strategie Lenins in eine Sackgasse führen mußte.

Brie stellt dementsprechend dar, wie sich Lenins politische Haltung zum Krieg und zur Möglichkeit von Revolutionen aus seiner Analyse des Imperialismus als der Epoche des Niedergangs des Kapitalismus und der sich verschärfenden Widersprüche des imperialistischen Weltsystems ergibt. Wenn Lenin 1916 schreibt : “…zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung — das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. … Wer eine ›reine‹ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben…” (LW 22/363, 364) Brie hebt dabei den Umstand hervor, daß es keine reine sozialistische Revolution geben kann. Er folgert daraus, daß deshalb die sozialistische Revolution zwangsläufig in eine historische Sackgasse mündete. Lenin wird bei ihm zum Begründer des Leninismus nach Lenin, Stalin zu dessen Vollender.

Hinter der vordergründig berichtenden Darstellung wird somit nur allzu schnell die Absicht deutlich, mit Lenin und dem Bolschewismus umfassend abzurechnen. Leider ohne sich dabei gründlich mit den Positionen zu befassen, die Brie für falsch oder zumindest fragwürdig hält.

Brie begnügt sich stattdessen im Vorübergehen mit so kryptischen Formulierungen wie “Lenins Nein zum Krieg war in seiner Bestimmtheit zugleich eine extreme Zuspitzung. Darin lag seine Stärke, aber auch seine Beschränkung. Es ließ keinen Raum für »Schwanken« oder »Abweichung « gegenüber der als richtig angenommenen Position. Ein gemeinsamer demokratischer Suchprozess wurde so erschwert.” Brie verrät dabei nicht, welche nicht zugespitzte Haltung zum imperialistischen Weltkrieg Lenin denn hätte propagieren sollen. Ein bißchen Frieden und ein bißchen Weltkrieg? Wie hätte denn ein “gemeinsamer demokratischer Suchprozeß” mit den Burgfriedenspolitikern und sozialdemokratischen Hurrapatrioten aussehen sollen, der nicht zugleich den politischen Widerstand gegen den imperialistischen Krieg auf Eis gelegt hätte? Brie stellt weder Fragen noch gibt er Antworten.

Bries Ablehnung der Politik Lenins und des Bolschewismus wird dann mehr als deutlich bei den zwei Fragen, die er in den Vordergrund seiner Darstellung rückt, nämlich “…, wieso er (Lenin) so sehr auf dem bewaffneten Aufstand im Oktober 1917 bestand und bereit war, im Januar 1918 die frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung aufzulösen.”

Lenin ist Brie zu konsequent, zu sehr bereit, für seine Überzeugungen zu kämpfen und daraus praktische Schlußfolgerungen zu ziehen. Dialektische Klarheit gerät ihm zum Charaktermangel. Er beklagt sich daher vorab über Lenins “Orientierung auf den Antagonismus, den unversöhnlichen Gegensatz, das Entweder-Oder, den Ausschluss jedes Mittelwegs, den Ausnahmezustand. Das Nein war absolut, die philosophische Konzeption setzt auf die Zuspitzung und Verschärfung der Widersprüche und den Sprung, die Erzählung auf den absoluten Bruch mit der Sozialdemokratie. Die Analyse schloss jede dauerhafte Reformfähigkeit von Kapitalismus und Imperialismus aus; die Szenarien kannten nur einerseits die Barbarei des Krieges und andererseits sozialistischen Bürgerkrieg gegen die kapitalistischen Sklavenhalter; der emanzipatorische Horizont verhieß jenen, die sich widersetzen, den Entzug aller und jeder demokratischen und Freiheitsrechte; und das zentrale Projekt war die von der bolschewistischen Partei ausgeübte »proletarische Macht«, die ihre Gegner erbarmungslos unterdrückt.”

Jeder informierte Leser weiß, daß Brie und seine Freunde die Spaltung der Arbeiterbewegung in Antikapitalisten und kleinbürgerliche Reformer für einen historischen Fehler gehalten haben und halten. Sie glauben an die Möglichkeit einer dauerhaften, fortschrittlichen Reformfähigkeit des Kapitalismus und Imperialismus. Sie halten die bürgerliche Demokratie für eine Staatsform, die jede Revolution überflüssig macht. Es bedarf aber schon einer gewissen intellektuellen Chuzpe, dies nicht zu begründen und stattdessen mit der These von der angeblich grundsätzlichen und erbarmungslosen Unterdrückung jeder politischen Dissidenz durch den Leninschen Bolschewismus zu garnieren.

Der Staat, das unbekannte Wesen

Brie steht im Hinblick auf die Einschätzung des bürgerlichen Staates sowohl mit Lenin wie mit Marx auf Kriegsfuß. Süffisant formuliert er: “Lenins Anspruch war nichts weniger als die »Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat« (LW 25/397). Drei Fragen standen im Vordergrund: erstens das Wesen des Staats in der antagonistischen Klassengesellschaft, zweitens die Notwendigkeit der Errichtung eines völlig neuen Staats der Diktatur des Proletariats und seiner konkreten Gestalt sowie drittens die Darstellung der Funktionen dieses Staats in der Übergangsperiode zu höheren Phasen der kommunistischen Gesellschaft.”

Tatsächlich gibt es weder bei Marx noch bei Lenin eine umfassend entwickelte, fertige Theorie “des Staats”. Bries Vorwurf, daß Lenin das Problem des Verhältnisses zwischen den Individuen und dem neuen Staat offen gelassen hat und nicht ausgeführt hat, “…wie die Verselbstständigung des Gewaltapparats dieses”(Anm.:neuen, proletarischen) “Staats kontrolliert werden kann, wurde in Lenins Schrift nicht gesondert thematisiert”, geht daher fehl. Lenin wie Marx stellten sich im Wesentlichen den Herausforderungen und Aufgaben ihrer Zeit.

Lenins Schrift “Staat und Revolution” wurde im Sommer 1917 während der Vorbereitung der Oktoberrevolution verfaßt. Sie sollte das Verständnis des Proletariats für die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch die Diktatur des Proletariats vertiefen. Lenin referiert daher die marxistische Auffassung, daß jeder Staat, auch ein demokratisch verfaßter Staat, nicht nur notwendiges Produkt einer Klassengesellschaft und ihrer inneren Gegensätze ist, sondern immer auch ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung einer oder mehrerer Klassen ist. Marx und Engels hatten zunächst offen gelassen, wie der bürgerliche Staat überwunden werden könnte, um eine sozialistische Gesellschaft schaffen zu können. Dies begünstigte falsche Annahmen, parlamentarische Institutionen seien klassenneutral und könnten einfach sozialistisch umfunktioniert werden.

Erst die Pariser Kommune, der erste Versuch einer proletarischen Revolution, schaffte Klarheit: Sie bewies erstens und erstmals, daß das Proletariat den bürgerlichen Staat nicht einfach in Besitz nehmen und seinen (sozialistischen) Zwecken dienlich machen kann, sondern zerschlagen werden muß. Zweitens stellten Marx und Engels fest, daß durch die Selbsttätigkeit des Pariser Proletariats in seinen demokratischen Räten die Form entdeckt wurde, in der das Proletariat als organisierte Klasse seine Herrschaft ausüben kann. Obwohl dieser neue Rätestaat zunächst immer noch Staat sei und auch nach einer Revolution den Widerstand der bürgerlichen Konterrevolution brechen müsse, eröffnet er als kollektive Herrschaftsform des Proletariats die Möglichkeit, den Staat allmählich absterben zu lassen.

Vor lauter Abscheu gegen den sprachlichen Rigorismus Lenins übersieht Brie, daß die Notwendigkeit des proletarischen Aufstands gegen den bürgerlichen Staat und damit 1917 gegen die ihn führende provisorische Regierung nicht Lenins Gewaltfetischismus entspringt, sondern seinem marxistischen Grundverständnis, daß die Grundfunktion jedes bürgerlichen Staates der Schutz und die weitere Förderung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist. Die Grundaufgabe einer proletarischen Revolution besteht deshalb für Marxisten darin, das institutionelle Gefüge dieses Staates zu zerstören.

Die Ursünde des Leninismus aus der Sicht Bries ist der bewaffnete Aufstand, mit anderen Worten die Revolution selbst. Der Umstand, daß der Oktoberaufstand nicht einmal ein Dutzend Tote gefordert hat, und daher weitestgehend unblutig verlief, veranlaßt Brie nicht etwa, über sein Leninverständnis nachzudenken, sondern über die angeblich der bolschewistischen Gewalt geschuldeten Folgen des Aufstands zu lamentieren.

Seine Gegnerschaft gegen die Revolution versteckt Brie hinter einer formalistischen Kritik. Er wagt es nicht, sich offen von der Revolution zu distanzieren, sondern kritisiert, daß der Sturz der Provisorischen Regierung am Vorabend des Zusammentritts des Rätekongresses durch das von den Bolschewiki dominierte Petrograder Militärkomitee organisiert wurde-ohne vorherige Diskussion mit den nichtbolschewistischen Parteien des Rätekongresses. Er zitiert Martov, deshalb von einem Putsch sprach, vergißt aber zu erwähnen, daß die Maßnahme des Petrograder Militärkomitees am nächsten Tag von der überwältigenden Mehrheit des Rätekongresses stürmisch gefeiert und gebilligt wurde.

Welche Demokratie?

Rätestaat oder Verfassunggebende Versammlung?

Ähnlich seine Kritik an der Auflösung der Konstituante:

Deren Abgeordnete waren einfach nach Hause geschickt worden, als sie sich geweigert hatten, die Beschlüsse der sowjetischen Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären zu bestätigen. Widerstand leisteten sie nicht. Brie unterläßt es, darauf hinzuweisen, daß der Bürgerkrieg erst Monate später begann und nicht durch die Bolschewiki, sondern die Gegner der Revolution entfesselt wurde. Er schreibt:

“Der schon Ende Dezember 1917 einberufene Dritte Gesamtrussische Sowjetkongress sollte der neuen Macht die verfassungsmäßige Grundlage geben. Er begann seine Sitzung am 10. Januar 1918. Von diesem Augenblick an wurde durch die Sowjetregierung allen Gegnern der Sowjetmacht offen der Bürgerkrieg erklärt: Entweder Akzeptanz der uneingeschränkten Sowjetmacht oder Terror und Krieg. Jeder Dritte Weg war verschlossen worden; Verhandlungen, freie Volksabstimmungen, einen Kompromiss würde es nicht geben.”

Lenin übersehe, so Brie, daß die bürgerliche Demokratie nicht nur “Fassade der Klassenherrschaft” ist, sondern auch ein “Widerspruchsverhältnis von Klassenherrschaft und Freiheitsversprechen”. Der bürgerliche Staat als politisch organisierter Garant der kapitalistischen Produktionsweise könne seine Funktion von Klassenherrschaft nur dann erfüllen, wenn er seine Bindung an den Schutz des Lebens, der Freiheit und des Vermögens der Staatsbürger nicht völlig aufgibt. Selbst im Ausnahmezustand von Austeritätspolitik, massiver sozialer Enteignung oder offener Diktatur bleibe der Bezug auf die bürgerliche Norm des Schutzes individueller Rechte erhalten.”

Er folgert daraus, daß der Klassencharakter des bürgerlichen Rechts sich über “die Anerkennung von subjektiven Rechten der Individuen und ihren legitimen Ansprüchen auf Schutz von Leib, Leben und Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten” begründet. Es stelle “deshalb ein sehr besonderes Kampffeld dar.” Und: “Versteht man bürgerliche Staatlichkeit in dieser Widersprüchlichkeit, dann verbietet es sich, »Freiheit« und »Gleichheit« als bloße Phrasen abzutun (siehe dagegen LW 29/369), dann ist Freiheit mehr als »die Freiheit von der Unterdrückung« durch eine andere Klasse (LW 30/101).”

Brie behauptet es gebe in Lenins “Denkweise kein liberales Erbe, das im Sozialismus zu bewahren wäre. Individuelle Rechte haben über ihre Bedeutung für die Verteidigung von Klasseninteressen hinaus keinen eigenen Wert.”

Das ist schlichter Blödsinn. Die Kritik von Marx und Engels und ebenso von Lenin an der bürgerlichen Demokratie und den in ihr gegebenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, fußt nicht auf der Geringschätzung von Freiheitsrechten, sondern der Geringschätzung der Möglichkeiten, tatsächlich Einfluß zu nehmen. Griechenland liefert hierfür in jüngerer Zeit ein treffendes Beispiel. Lenins vorgebliches Verbrechen besteht darin, danach zu fragen, wer wann und unter welchen historischen Umständen von was frei ist. Brie zieht das Leben in blutleeren Abstraktionen vor.

“Der bürgerliche Staat gestattet Arbeitern und Sozialdemokraten den Zutritt zu seinen Institutionen, zu seiner Demokratie so und nur so, daß er a) sie durchsiebt und dabei die Revolutionäre aussiebt, b) sie gefügig macht und Beamte werden läßt; ‚Ermattungsstrategie’von seiten unserer Gegner…. d) er ‚beschäftigt‘ sie, überhäuft sie mit ‚Arbeit‘, erstickt sie unter Bergen von Papier, in der muffigen Athmosphäre von ‚Reformen‘ und Reförmchen, e) er demoralisiert sie durch die kleinbürgerliche Gemütlichkeit eines ‚kulturell‘ erträglichen Philisterdaseins.

Kampf dagegen auf der ganzen Linie…”. Lenin in “Marxismus und Staat”, Berlin 1974, S71).

In seiner Schrift “Staat und Revolution” betont Lenin wiederholt, daß Demokratie im Kapitalismus real nur die Freiheit für die Ausbeuter ist und allenfalls eine Farce für die riesige Mehrheit des Volkes. Auch Herbert Marcuse hat dies mitten im späteren “Kalten Krieg” in seinem Werk “Kritik der reinen Toleranz” betont.

Der bürgerlichen Demokratie der Reichen stellt Lenin die Diktatur des Proletariats gegenüber, des demokratisch in Räten organisierten Proletariats. Sie verkörperte für die Mehrheit des Volkes demokratische Freiheit — aber für eine Übergangsperiode Unterdrückung für die Minderheit der Ausbeuter. Erst im Kommunismus sei tatsächlich die Freiheit für alle möglich.

Brie behauptet, für Lenin hätten bei diesem Staatsverständnis “die Individuen, soweit sie sich von der »Klasse« unterscheiden — bei Lenin repräsentiert durch die bolschewistische Partei —,..keinen Platz.”

Grundlage dieser Kritik ist die Ausblendung jeder Bezugnahme auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in Klassengesellschaften. Beleg für die vorgebliche Gewaltverliebtheit der Bolschewiki ist Brie dabei der Umstand, daß bereits unmittelbar nach der Oktoberrevolution der Widerstand gegen die neue revolutionäre Ordnung unterdrückt wurde. Er ist der Ansicht, daß die Bolschewiki damit in der Demokratiefrage versagt hätten und somit für das Scheitern des Sozialismus verantwortlich seien. Das erspart ihm die Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung des revolutionären Rußland und später der Sowjetunion. Für ihn ist Lenin die entscheidende Ursache aller Übel. Mit Wissenschaft und intellektueller Redlichkeit hat das nichts zu tun.

Dieter Elken

Strausberg, 12.01.2018


[1]1) VSA: Verlag 2017, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 HamburgISBN 978-3-89965-734-0