“Fragments of Palestine” - Ein besonderes Erlebnis

Das “Freedom-Theatre”

aus Jenin in Palästina gastierte

am 3. Oktober im Stadttheater Kempten (Allgäu).

Gabriel Lévy

Juliano Mer-Khamis, Sohn einer jüdisch-israelischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, lebt im Flüchtlingslager Jenin, bis vor einigen Jahren einer der gefährlichsten Orte der Welt. Schon seine Mutter Arna Mer hatte bis zu ihrem Tod ein Theater in Jenin geleitet.

Als das Flüchtlingslager während der zweiten Intifada 2002 von der israelischen Armee dem Erdboden gleich gemacht wurde, lag auch das "Stone-Theatre” in Schutt und Asche. Vor drei Jahren beschloss Juliano Mer-Khamis, das Theater als "Freedom-Theatre” wieder aufzubauen. Er gründete eine Schauspielschule für Jugendliche aus der Westbank, wobei Mädchen in eigenen Gruppen besonders gefördert werden. Die erste eigene Produktion war eine Bühnenadaption von George Orwells "Farm der Tiere”. Das Stück ist eine Parabel auf die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, deren Mitarbeiter das Theater mit Schweinemasken dargestellt hat. Deswegen legten militante Islamisten bereits zwei Mal Brandsätze in das Theater und Juliano Mer-Khamis bekam eine Morddrohung. Doch das nimmt er in Kauf. Für ihn bedeutet Freiheit nicht nur das Ende der israelischen Besatzung, sondern auch freies Denken und freie Meinungsäußerung im Westjordanland.

Juliano Mer-Khamis will mit seiner Theaterschule die Hoffnung wecken, dass es nicht nur Kampf und Tod, sondern auch ein anderes, ein gewaltfreies Leben für die Menschen in Palästina und Israel, gibt.

Der Anspruch von Juliano Mer-Khamis an die Theaterschüler ist hoch: “Wir wollen nicht ein paar arme Palästinenser sein, die schlechtes Theater machen, nicht weitere Flüchtlinge, die brav beklatscht werden - das hasse ich.” In der Tat ist es dieser Gruppe von sehr jungen SchauspielerInnen in ”Fragments of Palestine” vollkommen gelungen, eine beeindruckende Professionalität zu zeigen.

Das Stück ist für jedes Publikum auf der Welt zugänglich, da das Hauptmedium der Darstellung der sich bewegende, tanzende Körper ist.

Die Choreographie, der Ton und die Musik sind exzellent. Der Rhythmus wird mit sehr einfachen Mitteln wie leeren Kanistern und einer Trommel im Stil des “Stomp” Theaters erzeugt. Ebenso minimalistisch ist das Bühnenbild. Hinzu kommt eine Phantasiesprache - “Jibberisch” -, die eine Verstärkung des Körperausdruckes ist. Hier eine kleine Kostprobe: Ana huna, wa huna, huna, wa ana, wa huna, ana, wa ana huna! Was soviel heißt wie: Ich bin von hier, und hier ist hier, und ich bin ich, und hier bin ich, und ich bin hier.[1]

“Fragments of Palestine” sind kurze theatralische Episoden, die von den StudentInnen der Theaterschule des Freedom-Theatre zusammengetragen und entwickelt wurden.

Eine Hochzeit, die sich in einen tragischen Exodus aus Enteignung, Besatzung und Unterdrückung wandelt. Angesichts eines extrem gut organisierten Feindes versteckt sich der Widerstand und handelt an und aus den überraschendsten Orten heraus. Das Begräbnis eines Märtyrers, der sich weigert beerdigt zu werden. Eine Stahlbetonmauer und elektrische Zäune, die die Berge ersticken. Kinder, geboren um für die Freiheit zu sterben. Die Normalität eines absurden Lebens im Flüchtlingslager. Liebe in den Stunden der Ausgangssperre und Träume vom Meer in tiefer Nacht. Manches ist hart und schwer zu ertragen. Die Gewalt des Alltags in Palästina geht den ZuschauerInnen unter die Haut. Nicht nur die Gewalt der israelischen Besatzer, sondern auch die Gewalt in einer patriarchalischen Gesellschaft, insbesondere gegen Frauen. Jede/r wird berührt. Liegt deine Kraft in deiner Hoffnung oder deine Hoffnung in deiner Kraft? Wahrscheinlich ein bisschen von Beidem! Das Freedom-Theatre zeigt, dass der Kampf für ein besseres Leben, für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit heute, im Hier und Jetzt stattfindet. Der lange und begeisterte Applaus am Schluss war die Bestätigung für DarstellerInnen wie ZuschauerInnen einem besonderen Erlebnis beigewohnt zu haben.

  • Regie: Nabel AlRaee, Juliano Mer-Khamis

  • Choreographie: Camilla Bakken

  • Produktionsleitung: Rania Wasfi

  • Darsteller: Mariam Abu Khaled, Adel Massarwah, Batool Taleb, Mo´men Switat, Eyad, Hoorani, Faisal Abu Al Haija, Haroon Abu Arrah, Qais Al Sa´di, Rami Al Awnee.

  • Weitere Vorstellungen in Deutschland:
    11.10. 19:30 Uhr Kiel, KulturForum in der Stadtgalerie, Neues Rathaus
    17.10. Braunschweig, Staatstheater
    28.10. 19:00 Uhr Leipzig, Schauspiel Leipzig, SpinnWerk
    31.10. 19:30 Uhr Berlin, Schaubühne
    01.11. 19:00 Uhr Berlin, Schaubühne


[1]Dies ist eigentlich ein Auszug aus einem Gedicht des verstorbenen palästinensischen Dichters, Mahmoud Darwisch, ”Der Herr der Hirsche”, aus seinem Werk: “Ich sehe was ich will” aus dem Jahr 1990. Es bringt die Haltung des “Sumud”, der palästinensischen Standhaftigkeit, zum Ausdruck.