Ägypten:

Die Revolution ist noch nicht zu Ende.

Die Arbeiterklasse drängt auf ein anderes Leben.

Von Dieter Elken

Der Sturz Mubaraks hat die Lage in Ägypten nicht beruhigt. Das Militär hatte gehofft, mit der Entmachtung Mubaraks und der diskreditiertesten Figuren der Diktatur sowie einigen Versprechungen würde Ruhe einkehren. Doch alle Aufrufe, sich zu gedulden und wieder an die Arbeit zu gehen, blieben fruchtlos. Auch Verbote und prügelnde Militärpolizei halfen nicht.

Die Jugend, aber mehr noch die Arbeiterklasse, will Taten sehen. Mubaraks Diktatur, das war für sie nicht nur staatliche und polizeiliche Willkür. Das waren Hungerlöhne unter der absoluten Armutsgrenze; das waren von korrupten Kostgängern des Regimes veruntreute Lohnfonds und Firmengelder; das waren Korruption und Vetternwirtschaft in großem Maßstab — nicht zuletzt auch in den von Generälen verwalteten Betrieben der Armee, die ca. 30% der ägyptischen Wirtschaft kontrolliert.

Massenstreiks als Wegbereiter der Revolution

Streikende Arbeiterinnen und Arbeiter bildeten nicht nur das in hiesigen Massenmedien mit Stillschweigen übergangene Rückgrat der ägyptischen Revolution. Sie haben sie auch vorbereitet.

Seit Ende der neunziger Jahre, aber besonders nach 2004, beschleunigte das Mubarak-Regime die Privatisierung der zuvor sehr weitgehend verstaatlichten Wirtschaft. Ägypten öffnete sich internationalen Investoren. Besonders die Spitzenmilitärs und Mubaraks Günstlinge profitierten. In den Betrieben wurden die Daumenschrauben angezogen. Es kam zu Massenentlassungen. Abgedeckt und flankiert wurde diese Politik durch den mit dem Staat und Mubaraks Partei verschmolzenen Gewerkschaftsverband ETUF (Ägyptischer Gewerkschaftsverband). Dieser läßt zur Finanzierung seines Apparats durch die Arbeitgeber von jedem Lohn (Zwangs-) Beiträge für die ETUF einziehen. Zum Dank bekämpft deren Apparat seit vielen Jahren jeden Ansatz zum Widerstand der Beschäftigten von unten. Bezeichnend ist, daß die ETUF-Führung nach dem 25. Januar alles versuchte, die Beteiligung von Arbeiterinnen und Arbeitern an der Revolution zu verhindern.

Genützt hat das alles nichts. Der Widerstand gegen Entlassungen, Willkür und Lohndrückerei hat den Widerstand von Anfang an angefacht. Seit 1998 haben sich über 2 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter an mehr als 3.300 Fabrikbesetzungen, Streiks und Demonstrationen beteiligt. Dabei ging es in der Regel um nicht eingehaltene Zusagen für Prämienzahlungen, Lohnforderungen, um Sozialleistungen und von Arbeitgebern gebrochene Verträge. Seit Februar 2010 fanden vor dem Parlament fast täglich kleinere Protestaktionen von Arbeitern statt. Das wichtigste Resultat dieser Aktionen war die Überwindung der Angst vor dem Regime und seinem Terror.

Die wichtigsten Aktionen fanden seit Dezember 2006 in Mahalla al Kubra statt, dem Zentrum der ägyptischen Textilindustrie. In der Misr Weberei (25.000 Beschäftigte, hauptsächlich Arbeiterinnen) wurde die Fabrik im September 2007 zeitweilig besetzt. Die Initative zur Wahl des Streikkomitees ging von Linken aus, die sich zum gemeinsamen Kampf miteinander verbündeten. Die Streikenden bildeten einen Sicherheitsdienst und schlossen das Management aus. Sie verlangten im Dezember 2006 versprochene Prämienzahlungen und die Entlassung von Managern, die das Geld veruntreut hatten. Außerdem forderten sie den Rücktritt von ETUF-Funktionären aus dem Arbeiterausschuß. Da das Mubarak-Regime angesichts der damals rasant steigenden Lebensmittelpreise das Übergreifen des Streiks fürchtete, machte es auf allen Ebenen Zugeständnisse.

Für den 6. April 2008 riefen die Arbeiterinnen dort im Rahmen des Versuchs einer nationalen Kampagne für einen Mindestlohn erneut zum Streik auf. Ein Massenaufgebot der Bereitschaftspolizei besetzte drei Tage vorher den Betrieb und verhinderte den Streik mit Einschüchterungen und Versprechungen. Dennoch demonstrierten am Nachmittag des 6.4. 2008 spontan mehr als 20.000 Menschen in Mahalla, vor allem Frauen und Kinder. Die Polizei zerschlug die Demonstration. Drei Demonstranten wurden ermordet. Die Aktionen wurden von einer Jugendinitiative im Internet unterstützt. Diese nannte sich danach Bewegung des 6. April. Sie rief als erste zur Demo vom 25. Januar 2011 auf. Mit ihr begann die Revolution.

Streiks zwingen das Regime in die Knie

Die ersten neu gegründeten, unabhängigen Gewerkschaften und Initiativen zur Gründung solcher Gewerkschaften aus zwölf industriellen Zentren riefen bereits am 30.Januar, fünf Tage nach der ersten großen Massendemonstration, zum Generalstreik auf. Auch, wenn der Streik anfänglich nicht auf breiter Ebene geführt wurde, herrschte seitdem in der ägyptischen Wirtschaft der Ausnahmezustand. Arbeiter beteiligten sich massenhaft an Demonstrationen, daß die Wirkung einem Generalstreik gleich kam. In den Zentren der ägyptischen Industrie stellten sie die große Mehrheit der Demonstranten. Am 1. Februar gingen nicht nur in Kairo über eine Million Menschen auf die Straße. In Suez beteiligten sich 300.000, in Alexandria 500.000, später 1 Million, in Mansoura 250.000 und in Mahalla El Kubra ebenfalls 250.000. In Suez griffen Arbeiter von Anfang an, seit dem 25. Januar, Polizeiwachen und die Büros der NDP an. Aber dort, in einer speziellen, steuerlich exterritorialen Wirtschaftszone, streikten von Anfang an auch Metallarbeiter, Textilarbeiter und die Beschäftigten der Reparaturwerften.

Auch ohne tatsächlichen Generalstreik kam das wirtschaftliche Leben zum Stillstand. Täglich wurde in 60-70 Betrieben gestreikt. Nachdem dann die Repression der Bewegung durch bezahlte Schlägerbanden des Regimes nahezu überall scheiterte — in den Industriezentren holten sich die Polizei und die mit ihnen vorgehenden Schlägerbanden blutige Nasen, bröckelte das Regime. Das Militär entschloß sich erst dann, Mubarak fallen zu lassen. Die Arbeiter wollten aber mehr. Sie fordern die Aufhebung des seit Jahrzehnten andauernden Ausnahmezustandes, die Freilassung der politischen Häftlinge, eine neue Verfassung, den Rückzug des Militärs in die Kasernen, demokratische und gewerkschaftliche Rechte. Sie fordern angesichts der dreißig-prozentigen Verteuerung der Grundnahrungsmittel im vergangenen Jahr einen Mindestlohn, mit dem Familien überleben können. Sie wollen nicht warten. Auf die Lamentos des Militärs und der anderen Wirtschaftsvertreter, die Forderungen seien nicht finanzierbar, antworten sie, diese sollten die auf allen Führungsebenen veruntreuten Milliarden zurückholen.

Der Frühling der vom Staat unabhängigen Gewerkschaftsbewegung

Erst nachdem Streikverbote und Repression nicht fruchteten, bequemte sich das Militär Mitte März zu weiteren Zugeständnissen. Ein neuer Arbeitsminister und der Finanzminister versprachen innerhalb der nächsten drei Monate einen fairen Mindestlohn festzulegen. Unabhängige Gewerkschaften sind jetzt legalisiert worden. Die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation sollen auch in Ägypten eingehalten werden. Die ägyptische Arbeiterklasse macht dennoch weiter Druck. Die Schätzungen der Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Streiks seit dem Sturz Mubaraks variiert zwischen mehreren Hunderttauend und einer Million. Nach wie vor wird täglich in etwa 40 Betrieben gestreikt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Gleichzeitig geht die Selbstorganisation voran.

Am 2. März fand der erste Kongreß des Verbandes der unabhängigen Gewerkschaften statt. Die unabhängigen Gewerkschaften wollen alle Lohnabhängigen organisieren, einschließlich der Landarbeiter. Der Kongreß war eine Gelegenheit, dessen Forderungen einer breiteren Medienöffentlichkeit zu präsentieren. Die stellvertretende Vorsitzende des Verbandes ist eine Frau. 13 von 46 Mitgliedern des Exekutivkomitees sind Frauen.

Aus spontan gebildeten Streikkomitees bilden sich seitdem immer häufiger Initiativgruppen zur Bildung unabhängiger betrieblicher Gewerkschaftsorganisationen. Hunderte solcher Intiativen haben mit den ersten unabhängigen Gewerkschaften Kontakt aufgenommen. Neue Gewerkschaften entstehen in der Stahlindustrie, im Transportwesen, in der Textilindustrie, der Post, in Banken und Versicherungen, den Medien, nahezu in allen Branchen.

23.03.2011


Anhang:

Wie die erste unabhängige Gewerkschaft Ägyptens entstand

2007 schlossen sich einige erfahrene altoppositionelle Linke und ihnen nahestehende Kollegen in den Grundsteuerämtern zusammen und riefen ihre Kolleginnen und Kollegen zum Streik auf. Die Resonanz war überwältigend. Über 50.000 Beschäftigte legten die Arbeit nieder. Im ganzen Land wurden Streikkomitees gewählt. In Kairo wurde ein koordinierendes nationales Streikkomitee gewählt. Das erste mal in der Geschichte der ägyptischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung verließen Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes bei einem Streik ihre Arbeitsplätze und gingen gemeinsam auf die Straße. Die Streikenden marschierten zum Parlamentsgebäude und blieben dort.

Das Finanzministerium war geschockt und gab schließlich nach. Es gab Lohnerhöhungen und die Aufstiegschancen wurden verbessert. Im Anschluß an diesen Sieg beschlossen die Streikkomitees, eine vom ägyptischen Gewerkschaftsverband ETUF unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Dies verstieß gegen das Gesetz. Die Gründung der Gewerkschaft (Real Estate Tax Authority Union (RETA) war insofern ein Akt revolutionären Ungehorsams.

Die ETUF rief den Finanzminister dazu auf, die Forderungen der RETA grundsätzlich zu ignorieren. Im Jahre 2009 strengten sie eine Klage gegen die RETA an, weil deren Tätigkeit illegal war. Die RETA-Büros wurden von der Polizei geschlossen und der Vorsitzende der RETA, Kamal Abou Aita, wurde verhaftet. Ein gegen ihn gerichtetes Strafverfahren wurde von Protesten begleitet. Schließlich wurde er freigesprochen.

Die Führer der ETUF, die gleichzeitig in der Führung der NDP saßen (der Partei Mubaraks, bis wenige Tage vor dessen Sturz Mitglied der sozialdemokratischen Internationale), versuchten gleichzeitig in den Ämtern alles, um die Arbeit der RETA zu behindern. RETA-Aktivisten wurden bedroht, zwangsversetzt. Sie gründeten sogar eine Konkurrenzgewerkschaft und die ließ vom Arbeitgeber für sich weiter von allen Beschäftigten Mitgliedsbeiträge abführen. Da nimmt es nicht Wunder, daß der Chef dieser “offiziellen” Gewerkschaft gemeinsam mit bezahlten Kamelreitern und Schlägern Anfang Februar die Demonstranten auf dem Tahrirplatz angriff. Diese wurden z.T. auch von ETUF-Gliederungen finanziert. Durchschlagende Wirkung wurde mit diesen Machenschaften nicht erzielt. In der RETA sind 41.000 der zur Zeit 48.000 Beschäftigten der Grundsteuerämter organisiert. Die RETA spielt eine herausragende Rolle bei der Formierung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung.