Was ist Materialismus

im Lichte der speziellen Relativitätstheorie?

oder: Die Vorstellungen von Raum und Zeit bei Marxisten

von Meno Hochschild

Dieser Artikel beschäftigt sich mit Peter Marquardts Referat über Wolfgang Harichs Sicht der modernen Physik und seiner Ablehnung der speziellen Relativitätstheorie Einsteins[1] auf einem Kolloquium anläßlich Harichs 80. Geburtstag. In der Tat, Einsteins Relativitätstheorie war von Anfang an heftig umstritten, besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und noch heute gibt es trotz aller die Relativitätstheorie bestätigenden Experimente nach wie vor Menschen, die sie für einen Schwindel halten, darunter auch solche, die sich mit ihrer Kritik auf den marxistischen Materialismus, z.B. W. Harich oder Lenin berufen. Ob zu Recht oder nicht, sei hier zunächst einmal zurückgestellt. Zu betonen ist, daß gerade die neueren Säulen der modernen Physik, namentlich die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, bislang (bedauerlicherweise) sehr selten Gegenstand der marxistischen auf den dialektischen Materialismus gründenden Philosophie waren und noch sind. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die Zusammenhänge zwischen den eben erwähnten physikalischen Theorien und einem materialistischen Weltbild erschöpfend zu behandeln, dies wäre zweifelsohne wichtig für die Fortentwicklung des Materialismus selbst. Doch ist eine vorbereitende Auseinandersetzung mit Lenins vielzitiertem Buch “Materialismus und Empiriokritizismus” notwendig, um zu verstehen, warum eigentlich sich einige Kritiker der Relativitätstheorie wie W. Harich[2] und D. Thiessen[3] auf Lenin oder wie Peter Marquardt auf den Materialismus bezogen und beziehen.

Die Krise der klassischen Physik

Als Lenin sein Buch 1908 schrieb, war Einsteins Relativitätstheorie, die drei Jahre zuvor publiziert wurde, noch weitgehend unbekannt bzw. mangels vorhandener experimenteller Nachweismöglichkeiten zu jener Zeit als sehr spekulative und exotische Hypothese umstritten. Möglicherweise hat sich Lenin deshalb mit Einstein gar nicht auseinandergesetzt. Bekanntlich bekam Einstein seinen Nobelpreis nicht etwa für seine Relativitätstheorien, sondern für die Entdeckung des photoelektrischen Effekts. Daß es seitdem nun zahreiche Bestätigungen für die Richtigkeit der Relativitätstheorien (der speziellen und der allgemeinen) gibt und bislang auch kein einziges Experiment diese erschüttern konnte, war Lenin seinerzeit natürlich nicht bekannt. Aber noch einmal zum zeitlichen Hintergrund zu Lenins Buch über den “Empiriokritizismus”. Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die klassische Physik, die im wesentlichen auf der Newton’schen Physik der mechanischen Dynamik beruhte, davon aus, mehr oder weniger alle bekannten Erscheinungen der physikalischen Realität in einem geschlossenen Weltbild erklären zu können. Allgemein herrschte die Auffassung, im Prinzip sei die Physik “fertig”. Mit Maxwell’s Gleichungen[4], die noch heute grundlegend für die gesamte Elektrodynamik sind, bekam diese Auffassung ihre ersten Risse, denn Maxwell’s Gleichungen verhielten sich im Hinblick auf unsere Vorstellungen von Raum und Zeit nicht genauso wie die klassische Mechanik. Als Michelson und Morley ihre berühmten Ätherversuche machten, um ausgehend von den Maxwell’schen Gleichungen die Geschwindigkeit der Erde relativ zum “Äther” (analog zum absoluten Raum der klassischen Physik) zu bestimmen, scheiterten sie.[5] Überhaupt alle Versuche, noch so raffiniert ersonnen, ein absolutes Bezugssystem zu finden, ohne nach “draußen zu schauen”, scheiterten, obwohl nach dem Bild der klassischen Physik die Maxwell’schen Gleichungen dies eigentlich möglich machen sollten. Um auch den physikalisch nicht oder nur unzureichend gebildeten Leser jetzt nicht im Regen stehen zu lassen (der möglicherweise noch nie von Newton, Maxwell, Michelson & Co. gehört hat), hierzu einige Ausführungen.

Die klassische Physik sah, wie sicherlich auch fast alle Zeitgenossen heute, es als selbstverständlich an, Raum und Zeit als absolut anzusehen. Was heißt das konkret? Es wird angenommen, die Zeit sei in allen Bezugssystemen, ob ruhend oder gleichförmig geradlinig bewegt, gleich, insbesondere also losgelöst vom Raum. Und die räumlichen Koordinaten des bewegten Systems gewinnt man, indem auf einfachste Weise die Geschwindigkeit beider Bezugssysteme relativ zu einander berücksichtigt wird. In der Physik wird dies die Galilei-Transformation genannt, die vollständig der Alltagserfahrung entspricht:

  • x’ = x — ut (Raumpunkt im bewegten System = Punkt im ruhenden System minus Relativgeschwindigkeit multipliziert mit der Zeit)
  • y’ = y
  • z’ = z
  • t’ = t (Zeit im bewegten System = Zeit im ruhenden System)

(Legende : Variablen mit einem Apostroph bezeichnen das bewegte Bezugssystem, Variablen ohne Apostroph, das ruhende System. x, y, z stellen die räumlichen Koordinaten dar (Breite, Höhe, Länge). t ist die Zeit, u die Relativgeschwindigkeit beider Systeme zueinander.)

Unscheinbar, aber wichtig ist gerade die vierte Gleichung t’ = t, die die Zeit vom Raum entkoppelt. Anschaulich gesprochen sagen die Gleichungen, wenn eine Eisenbahn 100 km/h schnell fährt und im Gang der Eisenbahn ein Passagier 5 km/h in Fahrtrichtung geht, dann erscheint er für einen draußen befindlichen Beobachter 105 km/h schnell. In diesem Gedankenexperiment ist das absolute Bezugssystem das der Erde, auf der die Eisenbahn fährt. Oder wie Peter Marquardt in seinem Referat über Harich formulierte, das privilegierte Bezugssystem, nämlich privilegiert gegenüber dem des fahrenden Passagiers. Halten wir fest, solange die Zeit als in allen System gleich angesehen wird, ist es sinnvoll, zur kinematischen Beschreibung von bewegten Objekten auf ein außenliegendes, eben absolutes Bezugssystem zuzugreifen.

Warum ist diese Transformation so wichtig? Isaac Newton als einer der Väter der klassischen Physik hat als erster das sogenannte Relativitätsprinzip aufgestellt, das in seiner Fassung besagt:

Alle Gesetze der Dynamik müssen für alle Beobachter, die sich gleichförmig geradlinig zueinander bewegen, gleich sein. (1. Newton’sches Axiom)

Das bedeutet konkret auch, daß das zweite Newton’sche Gesetz, vielen aus der Schulphysik als F = ma (Kraft = Masse x Beschleunigung), unter Anwendung der oben erwähnten Galilei-Transformation die gleiche Form bewahren muß. Und das tut es in der Tat. Das für die gesamte Dynamik grundlegende 2. Newton’sche Gesetz ist in allen Bezugssystemen, die per Galilei-Transformation ineinander übergehen, gleich (der mathematisch interessierte Leser sei hier darauf hingewiesen, daß die Beschleunigung als 2. differentielle Ableitung in einer bestimmten Beziehung zu den Koordinaten des Raums steht). Um beim Beispiel der fahrenden Eisenbahn zu verweilen, bedeutet das konkret auch, daß es für den fahrenden Passagier nicht möglich ist, seine Geschwindigkeit relativ zum äußeren Bezugssystem festzustellen, ohne nach draußen zu schauen, denn solange die Eisenbahn gleichmäßig fährt, erfährt der Passagier im Zug keine Flieh- oder Bremskräfte am eigenen Leib.

Interessant ist nun, daß die grundlegenden Gesetze der Elektrodynamik — formuliert vom britischen Physiker James C. Maxwell — unter Anwendung der Galilei-Transformation nicht ihre Form behalten. Diese Gleichungen behandeln die grundlegenden Zusammenhänge zwischen einer Ansammlung von elektrischen Elementarladungen und ihren elektrischen und magnetischen Feldern, die durch die Ladungen und ihre relative Bewegung erzeugt werden. Die Felder wiederum wirken auf geladene Partikel zurück. Dazu gehören die Gauß’schen Gesetze für die Felder, das Faraday-Henry’sche Gesetz (elektromagnetische Induktion) und das Ampére-Maxwell’sche Gesetz (aus dem Maxwell seine berühmte Vorhersage für die Existenz von elektromagnetischen Wellen noch vor den experimentellen Nachweisen von Heinrich Hertz ableitete). Der Feldbegriff wurde analog zum Newton’schen Gravitationsfeld eingeführt, da festgestellt wurde, daß auch im materielosen Vakuum elektrische Kräfte auf elektrische Ladungen wirken können. Falls die Ladung sich relativ zum Feld bewegt, wirken zusätzlich auch magnetische Kräfte. Nun zeigte sich aber sehr störend für die Physiker, daß die mathematischen Formulierungen dieses Feldbegriffs, eben die Maxwell’schen Gleichungen, bezüglich der Galilei-Transformation ihre Form änderten, wenn die relative Bewegung einer elektrischen Ladung in einem elektromagnetischen Feld beschrieben wurde. Insbesondere schien es, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit von elektromagnetischen Wellen bzw. Feldschwingungen nach diesen Gleichungen unabhängig von der relativen Geschwindigkeit eines Beobachters gerade der Geschwindigkeit des Lichts selbst entsprach. Die Betonung liegt auf dem Wort “unabhängig”. Für den Leser dürfte es unschwer zu erkennen sein, daß die Galilei-Transformation wie oben beschrieben stattdessen nahelegt, daß eine beobachtete Geschwindigkeit eines Phänomens (wie die des Lichts) eigentlich auch von der Geschwindigkeit des Beobachters abhängen sollte.

Das war die erste Schwierigkeit der klassischen Physik, daß mit der Elektrodynamik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Zweig entwickelt wurde, für den das Newton’sche Relativitätsprinzip nicht mehr galt. Die Universalität der Naturgesetze schien verletzt.

Die Physiker standen nun vor dem Dilemma, ob sie die klassische Physik oder die Elektrodynamik korrigieren sollten. Nun war letztere in unzähligen Experimenten aufs Genaueste bestätigt worden. Die Elektrodynamik schuf erfolgreich die Grundlage für alle auf der Elektrizität und Optik beruhenden Entdeckungen und Erfindungen und kann daher als das am besten untersuchte und verstandene Gebiet der Physik gelten.Trotzdem wurde zunächst versucht, Korrekturglieder in die Maxwell’schen Gleichungen so einzubauen, daß diese ihre Form unter Anwendung der Galilei-Transformation zwischen zwei Bezugssystemen beibehielten. Dies führte aber bloß zu Vorhersagen von neuartigen optischen und elektrischen Phänomenen, die überhaupt nicht im Experiment gefunden wurden.

Die britischen Physiker Michelson und Morley nahmen die fehlende Invarianz der Maxwell’schen Gleichungen zum Anlaß, die Lichtgeschwindigkeit relativ zu einem äußeren Bezugssystem, dem sogenannten “Äther”, zu messen, ohne den Äther selbst sehen zu können (also ohne nach draußen wie der fahrende Eisenbahnpassagier zu schauen). Sie hielten dies prinzipiell für möglich, weil diese Gleichungen ihre Form ja nicht bewahrten, sofern sie von einem ruhenden auf ein bewegtes Bezugssystem umgerechnet wurden. Wenn also hier das Newton’sche Relativitätsprinzip nicht gelten sollte, müssten die Laboranten im Experiment bestimmte optische Interferenzphänomene nachweisen können, die von der Empfindlichkeit der Maxwell’schen Gleichungen gegenüber Bewegungen des Labor-Bezugssystems relativ zu einem “Äther” herrühren. Das Resultat ihrer Versuche war bekanntermaßen null, obwohl ihr Labor mit dem Planeten Erde zu verschiedenen Zeiten im Jahr eine ganz andere Position im postulierten Äther einnahm und die Meßgenauigkeit ihrer Vorrichtung auch genügend groß war. Daß nun einige heutige Zeitgenossen über die Möglichkeit eines “lokalen” Äthers als Trägermedium des Lichts (analog zu Luft und Schall) spekulieren, ändert nichts an der entscheidenden Feststellung, daß ein absoluter Raum als äußeres Bezugssystem im Experiment nicht gefunden werden konnte. Der Leiter des amerikanischen Atombombenprogramms Robert Oppenheimer kommentierte dies so:

“Das Ergebnis (des Michelson-Morley-Experiments) war Null. Das war so unerwartet, daß man den Versuch mit vielen Verfeinerungen und Variationen Jahrzehnte hindurch wiederholte, sozusagen ein Zeuge für den traumatischen Charakter dieser Antwort.”[6]

Vor diesem Hintergrund wird klar, daß die klassische Physik in einen Erklärungsnotstand kam. Einerseits wollten viele nicht ohne weiteres die bisherigen Vorstellungen von Raum und Zeit aufgeben, andererseits war die fehlende Universalität der Naturgesetze, ausgedrückt durch die Verletzung des Newton’schen Relativitätsprinzips durch die Elektrodynamik, ein Keulenschlag für die materialistische Annahme einer vom Bezugssystem bzw. Beobachter unabhängigen physikalischen objektiven Realität. Am Rande sei hier noch erwähnt, daß die spätere Quantenmechanik noch viel schärfer als die Relativitätstheorie mit der bis dahin geltenden Auffassung der Objektivität durch die klassische Physik zu Gericht ging, indem sie das bis dahin einhellig akzeptierte deterministische Kausalprinzip modifizierte.

Lenins Auseinandersetzung mit dem Empiriokritizismus[7]

Es nimmt nicht wunder, daß viele Physiker, die durch die Schule von bürgerlichen Ideologien gingen, einen Ausweg aus dem Dilemma der klassischen Physik in allen möglichen philosophischen Betrachtungen suchten, vorwiegend in idealistischen.

Ernst Mach, ein österreichischer Physiker, beschäftigte sich ausgiebig mit den Newton’schen Vorstellungen vom absoluten Raum, glitt allerdings in idealistische Erklärungsversuche ab nach dem Muster, die Welt würde im wesentlichen aus Empfindungen bestehen und eine objektive Realität nicht mehr gegeben sein:

“Die Empfindungen sind auch keine ‚Symbole der Dinge’. Vielmehr ist das ‚Ding’ ein Gedankensymbol für einen Empfindungskomplex von relativer Stabilität. Nicht die Dinge (Körper), sondern Farben, Töne, Drucke, Räume, Zeiten (was wir gewöhnlich Empfindungen nennen) sind eigentliche Elemente der Welt.”[8]

Und früher schrieb Mach auch:

“Es ist dann richtig, daß die Welt nur aus unsern Empfindungen besteht. Wir wissen aber dann eben nur von den Empfindungen, und die Annahme jener Kerne sowie einer Wechselwirkung derselben, aus welcher erst die Empfindungen hervorgehoben würden, erweist sich als gänzlich müßig und überflüssig.”

Dies wurde von Lenin auf Basis eines allgemein materialistischen Standpunkts völlig zu Recht kritisiert:

“Denn wenn die ‚Annahme’ der Außenwelt ‚müßig und überflüssig’ ist, so ist auch vor allem die ‚Annahme’ der Existenz anderer Menschen müßig und überflüssig. Nur Ich existiere, alle anderen Menschen sowie die Außenwelt aber fallen unter die Kategorie der müßigen ‚Kerne’.”[9]

In der Tat, ohne die Annahme einer objektiven Realität bekommt jede Wissenschaft einen voluntaristischen Ansatz und hebt sich selbst als Wissenschaft auf, denn dann geht es nicht mehr um Kenntniserlangung eben über die außer uns befindliche objektive hier physikalische Realität, sondern um Selbstbefriedigung.

Zu Machs Vorstellungen von Raum und Zeit führt Lenin aus:

“Die menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit sind relativ, doch setzt sich aus diesen relativen Vorstellungen die absolute Wahrheit zusammen, diese relativen Vorstellungen entwickeln sich in der Richtung der absoluten Wahrheit, nähern sich dieser. Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit widerlegt die objektive Realität beider ebensowenig.”[10]

Auch das ist vollkommen richtig. Mögen wir unsere Erkenntnisse über die Welt zunächst über unsere Sinnesorgane und Empfindungen erhalten und versuchen, eigene Begriffsschöpfungen auf die Außenwelt als Erklärungsmuster anzuwenden, so zeigt sich erst im Experiment nicht nur von einem selbst, sondern auch von anderen Menschen unabhängig ausgeführt, was der Wahrheitsgehalt unserer Theorien und Empfindungen ist, ja was die objektive Realität schlechthin ausmacht.

Aber ab dieser Stelle begibt sich Lenin in Bezug auf die Begriffe von Raum und Zeit in einen Irrtum, der sicherlich auch seiner fehlenden Kenntnis der physikalisch-philosophischen Konsequenzen aus dem Dilemma der klassischen Physik geschuldet ist. Entsprechend nimmt Lenin die Krise der Physik falsch war:

“Das Wesen der Krise der modernen Physik besteht in der Zerstörung der alten Gesetze und Grundprinzipien, in der Preisgabe der außerhalb des Bewußtseins existierenden objektiven Realität, d. h. in der Ersetzung des Materialismus durch Idealismus und Agnostizismus.”[11]

Ganz so einfach hat es sich die klassische Physik aber nicht gemacht, den spontanen naturwissenschaftlichen Materialismus aufzugeben. Selbst Physiker wie Ernst Mach schwankten oft in ihren philosophischen Ansichten, weil sie spürten, daß es eigentlich nicht richtig sein kann, die Existenz einer objektiven Realität zu verneinen. Es ist nun nicht so, daß die klassische Physik von sich aus ohne Not ihre bisherigen Vorstellungen von der Realität in Frage stellte und freiwillig zu mehr oder weniger idealistischen Erklärungsmustern abglitt. Sie wurde dazu durch immer mehr experimentelle Befunde gezwungen. Die Krise bestand vielmehr darin, daß die klassische Physik ihre althergebrachten Vorstellungen von der Objektivität, speziell die von Raum und Zeit revidieren mußte, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. Letztlich war es Albert Einstein, der eine Lösung fand, die im Einklang mit dem Materialismus die Krise der Physik beheben half. Es ist allerdings eine Lösung, die vollkommen konträr zu Lenins (und seiner Zeitgenossen) Vorstellungen von Raum und Zeit ist.

Lenin entgeht in seiner Auseinandersetzung mit E. Mach, daß dieser den Newton’schen Begriff vom absoluten Raum nicht etwa deshalb in aller Breite kritisierte, um endlich mit dem Materialismus aufzuräumen (obwohl Mach das in der Konsequenz tat!), sondern weil die experimentelle Beschäftigung mit der physikalischen Realität die Vorstellung von einem absoluten Raum immer fragwürdiger erscheinen ließ. War der (absolute) Raum für Mach eine Empfindung, so war er für Lenin bereits an sich objektive Realität, und darin besteht Lenins Fehleinschätzung (so wie auch bei Peter Marquardt). Entsprechend finden wir bei Lenin:

“Da der Materialismus die von unserem Bewußtsein unabhängige Existenz der objektiven Realität, d. h. der sich bewegenden Materie, anerkennt, so muß er unvermeidlich auch die objektive Realität von Zeit und Raum anerkennen, zum Unterschied vor allem vom Kantianismus, der [...] Zeit und Raum für Formen der menschlichen Anschauung enthält.”[12]

Zweifelsohne sind Raum und Zeit auch objektiv vorhanden und nicht bloß Einbildungen, sonst braucht sich die Wissenschaft eigentlich nicht weiter mit der räumlichen und zeitlichen Natur, mit sich in Raum und Zeit bewegender Materie zu beschäftigen. Lenin weist richtig darauf hin, daß sich in Raum und Zeit bewegende Materie unabhängig von uns da sein muß. Die objektive Realität ist eine höchst dynamische Angelegenheit. So weit zielt Lenins Kritik an Mach in die richtige Richtung. In Ermangelung der Kenntnis der damals aktuellen physikalischen Debatte übersieht Lenin aber, daß auch Raum und Zeit selbst als statische mathematische Konstruktionen in der objektiven Realität fehl am Platz sind und nicht ohne weiteres als starres euklidisches Raumgitter losgelöst von der Materie existieren können.

Es geht es nicht einfach um Raum und Zeit überhaupt, sondern darum, was wir uns genau darunter vorstellen und inwieweit diese Vorstellungen dem Kriterium der Praxis standhalten. Die Problematik geht wesentlich tiefer. Wie verhält sich die bewegte Materie zu Raum und Zeit? Sind die euklidische Geometrie, wie sie in der oben beschriebenen Galilei-Transformation ausgedrückt ist, und losgelöst davon die Zeit selbst schon die objektive Realität? Zunächst sind es, auch wenn wir aus unserer Alltagserfahrung es gewohnt sind, die unmittelbare Objektivität für banal und selbstverständlich zu halten, erst einmal unsere begrifflichen Vorstellungen von der raum-zeitlichen Realität. Gewohnheitsmäßig haben wir diese mathematischen Konstruktionen in die objektive Natur hineinprojiziert. Diese jahrhundertelang als unmittelbar objektiv empfundenen Vorstellungen vom gewöhnlichen dreidimensionalen Raum und einer davon gesondert existierenden Zeit bedürfen einer experimentellen Überprüfung. Daß das bisherige Newton’sche Raumverständnis bis ca. 1900 gut funktioniert hat, ist noch kein Grund, es auch für alle Zukunft für richtig zu halten. Das gilt umso mehr, als das Ausmaß der technischen Möglichkeiten, neues Wissen über die objektive physikalische Realität zu erlangen, seitdem explodiert ist.

Lenin bezieht sich in seinem Buch nur an einer einzigen Stelle auf den absoluten Raum:

“In der heutigen Physik, meint er (E. Mach, hinzugefügt vom Autor), gilt noch die Newtonsche Auffassung von absoluter Zeit und absolutem Raum [...]. Diese Annahme erscheint ‚uns’ sinnlos, fährt Mach fort [...] In der Praxis sei diese Auffassung allerdings unschädlich [...] geblieben und deshalb lange einer ernsthaften Kritik entgangen.

Diese naive Äußerung über die Unschädlichkeit der materialistischen Auffassung verrät den ganzen Mach! [...] Zweitens erkennt Mach dadurch, daß er die ‚Unschädlichkeit’ der von ihm bestrittenen materialistischen Anschauungen zugibt, im Grunde ihre Richtigkeit an. Denn wie hätte etwas Unrichtiges im Laufe von Jahrhunderten unschädlich bleiben können? Wo ist das Kriterium der Praxis geblieben, mit dem Mach zu liebäugeln versucht hat?”[13]

Es ist offenkundig, daß Lenin hier nicht auf der Höhe der Zeit und der naturwissenschaftlichen Debatte war und von den neuesten experimentellen Befunden wie z.B. dem Michelson-Morley-Experiment, das immerhin mehr als 15 Jahre zurücklag, nichts mitbekommen hatte. Das Kriterium der Praxis gab es ja, worauf sich Mach in seiner Kritik des absoluten Raums bezog. Konsequent finden wir bei Lenin die Anerkennung der Ätherhypothese:

“Die elektromagnetische Lichttheorie hat den Beweis erbracht, daß Licht und Elektrizität Formen der Bewegung ein und desselben Stoffes (des Äthers) sind.”[14]

Um Mißverständnissen vorzubeugen, es geht nicht darum, Lenins Arbeit über “Materialismus und Empiriokritizismus” einfach abzuqualifizieren. Im Gegenteil, das Buch ist gerade wegen seiner allgemein philosophischen materialistischen Betrachtungen sehr lesens- und empfehlenswert. Aber Lenins Schwächen in der Verwendung des physikalischen Raum-Zeit-Begriffs führen leider dazu, daß andere Philosophen wie Wolfgang Harich unter Berufung auf Lenin und sogar den Materialismus schlechthin fälschlicherweise die Relativitätstheorie von Albert Einstein als idealistisches Versatzstück darzustellen versuchen. Einstein ließ sich wohl von Machs Kritik am Newton’schen Raumbegriff inspirieren und bezeichnete sich deshalb zeitweilig sogar als Schüler von Mach, jedoch distanzierte er sich von Machs philosophischen Schlußfolgerungen, die die Physik nur in eine Sackgasse führten.

Der Bruch mit der klassischen Physik

Die Widersprüche im Bild der klassischen Physik wurden immer unerträglicher. Elektrodynamik und klassische Mechanik passten einfach nicht zusammen. Als Einstein die Lösung für diese Widersprüche fand, gab es zunächst massive Widerstände gegen seine neuen Theorien. Oppenheimer charakterisiert die Übergangsepoche zwischen klassischer und moderner Physik so:

“Fortschritt dieser Art ist nur möglich, weil er zwei einander fast widersprechende Wesenszüge in sich vereinigt. Der eine ist eine große Liebe zum Abenteuer, die uns nach neuen Dingen und nach veränderten Gegebenheiten suchen läßt [...], die uns allerlei Dinge tun läßt, die uns über die vertraute menschliche Erfahrung hinausführen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist das strenge Festhalten an der Ordnung und Klarheit, die wir bereits erreicht haben. Man kann das auch als konservative Haltung gegenüber schon gewonnenen Erkenntnissen umschreiben, etwa so, daß man sehr zögert, sich allzuweit von Newton zu entfernen, wenn man daran geht, Newton zu revidieren. [...] Die Überlieferung gibt einen festen Boden, [...] bis man an den Punkt kommt, an dem man einfach nicht mehr damit weiterkommt. Dann muß man endgültig damit brechen.”[15]

So sieht es auch mit dem euklidischen Raumbegriff aus. Oppenheimer zitiert anschließend einige historische Analogons:

“Viele Männer, die zu den großen Umwälzungen in der Wissenschaft beigetragen haben, waren sehr unglücklich über die Erkenntnis, zu der sie gezwungen wurden. Kepler, der für Kreise schwärmte, fand Ellipsen. Planck führte mit seinem berühmten Wirkungsquantum ein Element der Diskontinuität in die Physik ein, das ihm absolut unerträglich fremdartig und häßlich erschien. Einstein, der sich mit den Theorien der Relativität durchaus befreundet hatte [...], trug zur Entwicklung der Quantentheorie bei; er schlug den Begriff des Lichtquantums vor, aber er konnte sich nie mit der Quantentheorie abfinden, die logisch darauf aufgebaut war. [...].”

Tatsächlich gab und gibt es bis heute keine sinnvolle Alternative zu Einsteins Relativitätstheorien, so fremdartig und seltsam manche ihrer Konsequenzen dem durchschnittlich gebildeten Menschen auch erscheinen mögen. Außerdem symbolisieren sie zusammen mit der Quantenmechanik eine Wissenschaftsrevolution vergleichbar nur noch mit der Kopernikanischen Wende und haben seither unser Weltbild tiefgreifend umgewälzt.

Die spezielle Relativitätstheorie von Einstein

Für Albert Einstein war es wichtig, die Physik von willkürlichen idealistischen Annahmen über die Naturgesetze zu befreien und und die Physik wieder auf den Boden der materiellen Welt zu bringen. Deshalb forderte er die Erweiterung des Newton’schen Relativitätsprinzips:

Alle Naturgesetze (nicht nur die der Dynamik) müssen für alle Beobachter, die sich gleichförmig geradlinig zueinander bewegen, gleich sein.

Dieser Satz der speziellen Relativitätstheorie ist von zentraler Bedeutung und wird von den sich materialistisch gebenden Kritikern nicht wirklich verstanden, ja nicht einmal richtig wahrgenommen. Dabei ist dieser Satz eigentlich Materialismus pur. Bezeichnenderweise geht Peter Marquardt in seiner Kritik an Einstein gar nicht auf diesen Satz ein. Analysieren wir die philosophischen Konsequenzen dieses Satzes.

Ganz gleich, in welchem konkreten Bezugssystem wir uns befinden, so sagt damit Einstein, müssen alle Naturgesetze gleich sein. Mit anderen Worten, ob wir uns nun relativ zu irgendeinem anderen System gleichförmig geradlinig bewegen oder nicht, darf nicht beeinflussen, wie die objektive Natur ist, wie also ihre innere Verfaßtheit ausgedrückt durch Naturgesetze ist. Egal, ob wir mechanische Experimente zur Bestimmung der Trägheit von Körpern oder optische oder elektrische Phänomene untersuchen, das experimentelle Resultat kann nicht von unserem momentanen Bewegungszustand abhängen. Die objektive Natur, deren Wesen sich uns gegenüber in Form von Naturgesetzen manifestiert, kümmert sich nicht darum, ob wir gerade in die eine oder andere Richtung fahren oder auch stehen bleiben. So wird ein Kosmonaut mit aller Selbstverständlichkeit in seinem Raumschiff die Uhrzeit messen wie gehabt und nicht etwa sich zur Annahme versteigen, nur weil er sich bewegt, würde die Uhr in seinem Raumschiff anders gehen, würde der innere Mechanismus der Uhr sich ändern. Machte man letztere Annahme, dann allerdings wäre das eine echte Katastrophe für den Materialismus. Denn wenn die objektive Realität in beliebiger Weise von einem selbst bzw. von der eigenen Bewegung abhängt, dann ist es nicht mehr weit zur These, daß sich die objektive Realität nach uns richtet und somit der Idealismus fröhliche Urständ feiert.

Anbei sei angemerkt, daß die Bezeichnung “Relativitätsprinzip” mitnichten eine Relativierung der objektiven Natur selbst bedeutet, sondern vielmehr mit einer Aussage über die Unabhängigkeit der objektiven Natur von sich relativ zueinander bewegenden vom Beobachter gewählten Bezugssystemen macht. Der Terminus “Relativitätsprinzip” mag aus materialistisch-philosophischer Sicht inkonsequent erscheinen, hat sich aber in der Physik so eingebürgert. In diesem Zusammenhang ist klar, daß der Spruch “Seit Einstein wissen wir, daß alles relativ ist.” tatsächlich mit Einsteins Relativitätstheorie nichts zu tun hat und die Urheber dieser Worte nichts davon verstanden haben. Entgegen Peter Marquardts Annahme ist das Einstein’sche Relativitätsprinzip keineswegs ein “beobachterbezogenes Postulat”, sondern schließt gerade den subjektiven Beobachter aus der Formulierung der Naturgesetze aus. Dies wiederum impliziert notwendig die urmaterialistische These, daß eine objektive Natur durchaus unabhängig von unserer Einbildung und Vorstellungskraft existiert.

Konkret auf die Physik angewandt ergibt das Relativitätsprinzip in der Einstein’schen Fassung folgendes: Nicht nur das zweite Newton’sche Gesetz (F = m a), sondern auch die Elektrodynamik (und mit ihr die Maxwell’schen Gleichungen) dürfen nicht vom Bezugssystem des Beobachters abhängen. Stellt man diese These auf, dann ist klar, daß es im Michelson-Morley-Experiment nicht möglich war, mit optischen Methoden herauszufinden, wie schnell man sich in Relation zu einem “Äther” (oder absoluten Raum) bewegt, ohne den Äther selbst sehen zu können. Wenn aber die Maxwell’schen Gleichungen eigentlich stimmen, was stimmt dann nicht bei der Umrechnung derselben in ein anderes bewegtes Bezugssystem?

Die Galilei-Transformation ist falsch. Dies ist die zwingende Konsequenz aus der Anwendung des erweiterten Relativitätsprinzips auf die Elektrodynamik. Da nun eine Koordinatentransformation zwischen zwei Bezugssystemen unmittelbar unser Verständnis von Raum und Zeit tangiert, müssen wir auch unsere Raum- und Zeitvorstellungen überprüfen. Wenn wir also eine geeignete Transformation finden, bezüglich der die Naturgesetze invariant (unveränderlich) bleiben, dann berechtigt uns bereits das zum Schluß, daß der objektiv reale Raum und die objektive Zeit selbst durch eben eine solche Transformation richtig beschrieben sind.

Wie sieht nun diese neue Koordinatentransformation aus? Schon der Physiker Lorentz hatte die nach ihm benannte Lorentz-Transformation gefunden, bezüglich der die Maxwell’schen Gleichungen ihre Form beibehalten, so daß sichergestellt war, daß alle elektromagnetischen und optischen Naturgesetze nicht willkürlich von momentanen Beobachterstandpunkt abhängen:

  • x’ = (x — ut) / sqr(1 — u2/c2)
  • y’ = y
  • z’ = z
  • t’ = (t — ux/c2) / sqr(1 — u2/c2)

(Legende : siehe Galilei-Transformation oben, die Funktion sqr() bezeichnet hier die Quadratwurzel, c ist die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum)

Diese mathematische Transformation sieht nicht nur komplizierter aus, sie weicht vor allem in der vierten Gleichung völlig von der alten Fassung (t’ = t) ab. Was bedeutet das?

Die Zeit, die der bewegte Beobachter in seinem System mit seiner Uhr mißt und die Zeit, die ein ruhender Beobachter mit seiner Uhr beim bewegten System mißt, sind nicht mehr notwendig gleich. Insbesondere lassen sich dreidimensionaler Raum und Zeit nicht mehr voneinander getrennt betrachten. Die Vorstellung vom euklidischen Raum (mit Länge, Breite und Höhe) muß daher aufgegeben werden und ist stattdessen durch ein Raum-Zeit-Kontinuum zu ersetzen. Das bedeutet zwar nicht platt, daß eine Raumdistanz in ein Zeitintervall überführt werden kann und umgekehrt. Ein Meterstab bleibt noch ein Meterstab, und eine Uhr eine Uhr. Aber mit der Bewegung erhält der Meterstab einen zeitartigen Anteil. In Richtung der Bewegung erscheint der Meterstab verkürzt. Und die Uhr scheint langsamer zu laufen — (Zeitdilatation). Der Leser kann sich leicht davon überzeugen, wenn er in der vierten Gleichung die Relativgeschwindigkeit u fast so groß wie die Lichtgeschwindigkeit c macht. Entsprechend ist klar, daß der gängige Begriff der Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen obsolet geworden ist, denn wenn zwei Ereignisse sich für einen Beobachter zur gleichen Zeit ereignen, so müssen sie es nicht für einen anderen (bewegten) Beobachter. Ein Ereignis ist hier mathematisch formuliert ein Raum-Zeit-Punkt im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum.

Dieses entspricht eher der objektiven Realität (was zahlreiche spätere Experimente zeigen). Das mag für diejenigen unerfreulich sein, die den althergebrachten euklidischen Raumbegriff mit dem objektiv vorhandenen Raum selbst verwechseln. Allerdings scheint mir diese Verwechslung aus meiner Sicht eher Sensualismus zu sein. Und vor allem, bei Anwendung der Lorentz-Transformation und der Annahme, daß die objektive Realität durch die Raum-Zeit (oder wie Physiker auch sagen: Minkowski-Raum) korrekt beschrieben ist, entfällt der Zwang zu abenteuerlichen (und letztlich idealistischen) Annahmen über die Veränderung der Naturgesetze und damit die Abhängigkeit der objektiven Natur vom eigenen Bewegungszustand.

Albert Einstein selbst hat unsere Vorstellungen von Raum und Zeit so charakterisiert:

“Man sprach von Raumpunkten wie von absoluten Realitäten, ebenso von Zeitpunkten. Es wurde nicht beachtet, daß das wahre Element der raumzeitlichen Beschreibung das Ereignis sei, [...] Mit dem Verlassen der Hypothese vom absoluten Charakter der Zeit, insbesondere der Gleichzeitigkeit drängt sich jedoch die Erkenntnis von der Vierdimensionalität des Zeit-Räumlichen unmittelbar auf. Nicht der Raumpunkt, in dem etwas geschieht, nicht der Zeitpunkt, in dem etwas geschieht, hat physikalische Realität, sondern nur das Ereignis selbst.”[16]

Angemerkt sei hier noch, daß selbstverständlich die Anwendung derselben Lorentz-Transformation auf das zweite Newton’sche Gesetz dessen Form ebenfalls nicht verändern darf — gemäß dem Relativitätsprinzip. Dies gelingt auch, wenn die träge Masse neu definiert wird als: m = m0 / sqr(1 — u2/c2). Das wiederum führt letztlich zur berühmten Formel E = m c2, also der Äquivalenz von Materie (hier Masse) und Energie. Auch das ist eine eindrucksvolle Bestätigung des Materialismus, der nie die Energie als losgelöst oder entgegengesetzt zur objektiven materiellen Realität akzeptiert hat. Die Kernphysik macht von dieser Äquivalenz von Masse und Energie übrigens mit Erfolg regen Gebrauch. Aufgrund dessen wurde schon lange vor der ersten Zündung einer Atombombe über die technische Möglichkeit einer solchen Bombe spekuliert.

Die klassische Physik ist übrigens als Spezialfall für kleine Geschwindigkeiten u << cdeutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit in der Relativitätstheorie enthalten, für solche normalen Geschwindigkeiten reduziert sich die Lorentz-Transformation auf die Galilei-Transformation (der Leser kann sich davon überzeugen, indem er hierzu den Term u2/c2 näherungsweise auf null setzt und auch den Term ux/c2 aus gleichem Grunde vernachlässigt). Unsere normalen Alltagserfahrungen sind somit durch die Relativitätstheorie ebenfalls korrekt wiedergegeben.

Auch in einer anderen Hinsicht kann der aufmerksame Leser bezüglich der alltäglichen Erfahrungen beruhigt werden. Unter Anwendung der Lorentz-Transformationen und einer entsprechenden mathematischen Herleitung erhält man eine neue Fassung für die Addition von Geschwindigkeiten, die dafür sorgt, daß zwei Geschwindigkeiten zusammenaddiert niemals die Lichtgeschwindigkeit selbst erreichen oder gar übertreffen können, man kommt ihr nur ein wenig näher (Formel für die Addition der Geschw. u1+ u2 : ugesamt = (u1+ u2) / (1 + u1u2/c2). Das zweite Postulat Einsteins, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bezugssystem des Beobachters, folgt direkt daraus. Für kleine Geschwindigkeiten vereinfacht sich das Additionstheorem zur gewohnten Beziehung: ugesamt = (u1+ u2).

Wir sehen anhand der Lorentz-Transformationen und ihrer Anwendung auf alle möglichen Naturgesetze, daß die Mathematik hilft, auch ungewöhnliche Konsequenzen der Theorie schnell zu erfassen, jedenfalls viel schneller, als es unsere gewohnheitsbestimmte Anschauung oft zulässt. Oppenheimer führt hierzu aus:

“Die Entdeckungen wären wahrscheinlich nicht gemacht worden, wenn die mathematischen Formen nicht erlauben würden, die der Natur innewohnende Ordnung so rasch, klar und übersichtlich darzustellen. Es ist nicht überraschend, daß Mathematik eine so enge Beziehung zur Natur hat; sie beruht auf Folgerichtigkeit, und das einzige, worauf wir alle vertrauen, ist, daß die Natur wohl schwierig sein mag, aber nicht inkonsequent sein wird. (Das können nur wir selbst.)”[17]

Peter Marquardt und der subjektive Beobachter

Wenden wir uns nun Peter Marquardts Referat über Wolfgang Harichs Haltung zur Relativitätstheorie zu. P. Marquardt beschuldigt kurioserweise die moderne Physik, den subjektiven Beobachter wieder eingeführt zu haben:

“Mit den Namen Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, ist eine heute allgemein akzeptierte ‚Revolution’ in der Physik verbunden, mit der, so scheint es, der subjektive Standpunkt des Beobachters ein für alle Mal aus der Naturwissenschaft verbannt worden ist.”

Und vorher: “Die Physik des 20. Jahrhunderts [...] hat dabei [...] einen überwunden geglaubten Fehler , wenn auch in raffinierter Form, aufs Neue begangen: Der Beobachter bekam eine ihm nicht zustehende Bedeutung in der Beurteilung des Naturgeschehens [...].”

Peter Marquardt begründet seine These anfangs mit einem Zitat von Werner Heisenberg über die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik und unterstellt ihm, daß sich in Heisenbergs Lesart unter Anspielung auf die Heisenberg’sche Unschärferelation (Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar) die Natur nach der Kenntnis des Beobachters richten würde. Um den Rahmen dieses Artikels nicht zu sprengen, sei hier nur kritisch festzustellen, daß die Quantenmechanik keineswegs behauptet, die Natur würde nach unserer Pfeife tanzen. Vielmehr wird gesagt, daß wir Menschen selbst Teil der Natur sind und insbesondere im atomaren und subatomaren Bereich Messungen nicht so vornehmen können, als ob wir nicht vorhanden wären. Es handelt sich hier nicht um einen idealistischen Ansatz, sondern vielmehr um lebendige Dialektik im Wechselspiel zwischen der objektiven Natur der Atome und Elementarteilchen und dem Eingriff des Beobachters in die (atomare) Natur per Meßvorgang.

Wie vorher geschildert, hat A. Einstein mit seinem neu formulierten Relativitätsprinzip gerade den subjektiven Beobachter aus der Formulierung der Naturgesetze verbannen wollen. P. Marquardt stellt in völliger Verkennung der Aussagen Einsteins das Relativitätsprinzip als “beobachterbezogenes Postulat” hin. “Wir können vermuten, weil sich die SRT auf die fundamentalen Begriffe ‚Raum’ und ‚Zeit’ gestürzt hat, um sie zur Aufrechterhaltung zweier beobachterbezogener Postulate zu manipulieren.” Das zweite Postulat, das hier erwähnt wird, ist die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in allen Bezugssystemen (genauer gesagt: Inertialsystem). Diese ergibt sich direkt aus den Lorentz-Transformationen. Allerdings, ohne einen Knoten im Gehirn zu bekommen, die Aussage des zweiten Postulats ist ebenfalls nicht beobachterbezogen, nämlich die Unabhängigkeit der gemessenen Lichtgeschwindigkeit vom subjektiven Beobachter.

Als Alternative zur Einsteins Relativitätstheorie bietet Peter Marquardt die Einführung eines absoluten Bezugssystems an.

“Alle Geschehnisse in der Natur ereignen sich in einem System (‚Universum’ ist die treffendste Namensgebung[...]”

Er schlägt also nicht weniger als die Wiedereinführung der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts vor. Das ist kühn, nun denn, lassen wir ihn erst mal gewähren und hören uns an, wie er seine Kritik an der SRT (spezielle Relativitätstheorie) begründet.

Dazu führt er zunächst das sogenannte “Zwillingsparadoxon” an und erklärt es aus Symmetriegründen für absurd:

“In einem Zweikörpersystem ist es in der Tat einerlei, ob sich der eine oder der andere ‚bewegt’. Wenn sich der Abstand zwischen beiden mit der Zeit ändert, sprechen wir von ‚Relativ-Bewegung’. Dies ist ein rein kinematischer Begriff. In diesem (stark vereinfachenden) Sinne ist ‚Relativ-Bewegung’ zwingend symmetrisch. Damit ist das gern und viel diskutierte ‚Zwillingsparadoxon’ [...] ad absurdum geführt.”

Tatsächlich? Marquardt übersieht, daß er von einer völlig falschen Voraussetzung ausgeht. Das “Zwillingsparadoxon” ist nämlich überhaupt nicht symmetrisch! Um was geht es? Nehmen wir zwei Zwillinge, die wir Paul und Peter nennen wollen und die zum gleichen Zeitpunkt geboren sind. Paul fliegt als Kosmonaut nahezu mit Lichtgeschwindigkeit los und kehrt später zu seinem wesentlich stärker gealterten Bruder Peter zurück. Marquardt sagt de facto, von Pauls Standpunkt hätte sich Peter bewegt und müßte daher deutlich jünger als Paul sein. Weil nun Peter nicht zugleich älter und jünger als Paul sein kann, seien beide gleich alt geblieben. Aber wo ist hier die Symmetrie? Symmetrie kann nur bedeuten, daß weder für Paul noch für Peter klar ist, wer von beiden sich relativ zum anderen bewegt. Das ist jedoch für beide vollkommen klar. Peter bleibt die ganze Zeit über auf der Erde. Und Paul bemerkt während seiner Reise ungewöhnliche Vorkommnisse wie z. B., daß er Beschleunigungen erfährt usw. Wenn er zurückkommt, kann er auch mit Peter sich über seine Reiseerlebnisse austauschen. Hier bewegt sich nur Paul und nicht Peter! Eine schöne Abhandlung dazu findet sich beim amerikanischen Physiker R. Feynman.[18]

Spielen wir im übrigen den Fall durch, daß, nachdem Paul abgereist ist, Peter ihm in einem anderen Raumschiff nachfolgt. Sofern dies mit der gleichen Geschwindigkeit erfolgt, liegt tatsächlich eine symmetrische Situation vor, und auch die Relativitätstheorie kommt zum Ergebnis, daß nach dem Treffen von Paul und Peter beide gleich alt sind. Es gibt somit kein Paradoxon in der Relativitätstheorie.

Zum relativistischen Phänomen der Zeitdilatation sei noch anzumerken, daß es sich beim “Zwillingsparadoxon” keineswegs nur um ein akademisches Gedankenexperiment ohne irgendwelchen Praxisbezug handelt. Es ist auch experimentell z. B. beim Zerfall von kosmischen Partikeln in der Atmosphäre nachgewiesen worden. Gemessen wurde hier die Intensität der Partikel in großer Höhe und mit der Intensität am Erdboden verglichen. Aufgrund der bekannten Halbwertszeit (Zerfallsrate) der Partikel hätte am Erdboden eigentlich nichts mehr gemessen werden können, jedoch ist das Gegenteil der Fall. In der SRT wird dies mit der Dehnung der Eigenzeit der Partikel auf ihrem Weg zum Erdboden erklärt, so daß sie trotz der hohen Zerfallsrate noch in genügend meßbarer Intensität dort auftreffen. Peter Marquardt hat in seinem Referat (in der mündlichen Fassung) zwar eingeräumt, daß man das mit Hilfe der Zeitdilatation erklären könne, aber das sei nicht notwendig; eine alternative Erklärung bestünde in der Annahme, daß sich der innere Zerfallsmechanismus der Partikel aufgrund ihres Bewegungszustands ändere. Aha, unbewußt führt Marquardt doch den subjektiven Beobachter ein, nämlich indem er das Naturgesetz der konstanten Zerfallsrate der Partikel plötzlich variiert.

Nun muß P. Marquardt auch Stellung zum Nullresultat des Michelson-Morley-Experiments nehmen, wenn er glaubhaft seine Kritik an der SRT untermauern will. Hier begegnet dem fachkundigen Zuhörer ein wüstes Gemengelage von richtigen, halb richtigen und auch falschen Thesen. Der normale Leser sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Zunächst behauptet Marquardt:

“Das Prinzip ist bei Schall und Licht gleich: Es gibt für beide ein PS (privilegiertes Bezugssystem) und nur in diesem ist die Phasengeschwindigkeit definiert und hat den konstanten Wert c — keinesfalls in Bezug auf den bewegten Beobachter, dieser kommt mit seinem mitbewegten Maßstab bei einer Ein-Weg-Messung zwangsläufig zu dem Resultat c - vB.”

Nun, Michelson und Morley machten ja die hier zugrundeliegende Annahme, daß es ein privilegiertes System gäbe, nämlich das des Äthers. Die Autoren N. Feist und J.P. Wesley, auf die sich Marquardt aufgrund privater Mitteilungen beruft, versuchen allerdings mit nicht nachvollziehbaren (das liegt nicht am Leser) Berechnungen, das Nullresultat des Experiments als klassischen Dopplereffekt zu erklären. Insbesondere sprechen sie nur von Phasengeschwindigkeiten (obwohl sich der Dopplereffekt zunächst mal auf die Frequenz bezieht![19]) und nicht von Laufzeitunterschieden der auseinander- und dann wieder zusammenlaufenden Lichtwellen aufgrund der Bewegung des Laborsystems durch den Äther (die Wege der Lichtwellen sind ja für den im Äther angesiedelten Beobachter verschieden lang). De facto argumentieren sie so, daß die Phasengeschwindigkeiten beider Wellen gleich seien (stillschweigend keine Laufzeitunterschiede beachtend), um dann triumphierend zur Behauptung zu kommen, das Michelson-Morley-Experiment könne deshalb sowieso keine Phasendifferenzen aufgrund der Verschiebung des Laborsystems im Äther nachweisen und hätte daher keine Aussagekraft. Bezeichnenderweise haben N. Feist und J.P. Wesley ihre Arbeit offenbar nicht vollständig und en detail einer größeren naturwissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzustellen gewagt.

Wenn schon die Ätherhypothese angenommen wird, muß sie auch konsequent angewandt und durchgerechnet werden, wie das Michelson und Morley getan haben. Umgekehrt müßte ein experimenteller Gegenbeweis folgen. Wie stellt Marquardt folgerichtig fest: “’die Lichtgeschwindigkeit ist konstant c für jeden Beobachter’ nicht gerechtfertigt. Er wird durch kein Experiment bestätigt. Alle, die sich dem [...] Postulat von der beobachterbezogenen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verschrieben haben [...]”. Welches Experiment hat denn nun das Gegenteil bewiesen, daß die Lichtgeschwindigkeit variabel vom Beobachterbezugssystem abhängt??? Marquardt hält krampfhaft daran fest, nur ein “übergeordnetes” Bezugssystem zur Beschreibung und Erklärung der objektiven Realität zu verwenden. Allerdings können wir uns nun nicht ernstlich außerhalb der Realität stellen, wir sind selbst Teil derselben. Das “übergeordnete” absolute oder in Marquardts Worten “privilegierte” Bezugssystem ist eine Fata Morgana, letztlich eine idealistische Fiktion.

Schlußbemerkung

Die althergebrachte Verwendung des euklidischen Raumbegriffs als objektive Realität ist vom materialistischen Standpunkt aus und im Lichte der Erkenntnisse der modernen Physik gesehen schwerlich haltbar. Marquardt zitiert hierzu Wolfgang Harich:

“Quatsch! Blödsinn! Die räumlichen Formen der Dinge ändern sich in der Zeit, aber doch nicht Raum und Zeit selbst.”

Irgendwie gehören hier Raum und Zeit nicht zu den Dingen selbst. J. Sander[20] hat in seiner Schrift “Relativitätstheorie und Materialismus”, die auch sonst als populärwissenschaftliche Zusammenfassung der Einstein’schen Theorien und Lebensleistungen lesenswert ist, folgende Zitate parat:

“Denn die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit. und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb des Raumes.” (Friedrich Engels)

“Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben noch Raum und Zeit übrig. Nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Raum und Zeit mit den Dingen.” (Albert Einstein)

Hamburg, 7. April 2004


[1]De Luis, Caroline [1996]: Ein Streiter für Deutschland. Auseinandersetzung mit Wolfgang Harich, S. 166 (Herausgeber: Siegfried Prokop) Edition Ost, ISBN 3-929161-54-0
[2]Harich, Wolfgang [1973]: Aus meinen philosophischen Knast-Notizen in: Der Mensch Subjekt und Objekt, Festschrift für Adam Schaff (Herausgeber: Tasso Borbé) S. 145-172, Europaverlag Wien
[3]Thiessen, Dieter [>1999?]: “Kritik der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie (als Anhang zu ‚Materialismus und Empiriokritizismus’ von W.I.Lenin)”; diese Schrift ist eigentlich nicht weiter erwähnenswert außer, daß hier selbstgerecht von einem naiven schulmathematischen Standpunkt die Wegbereiter der Relativitätstheorie dafür kritisiert werden, sie könnten nicht ordentlich rechnen. In Wahrheit ist der Autor mit höherer Mathematik auf universitärem Niveau restlos überfordert.
[4]Zu finden z.B. in: Alonso/Finn, Physik, 1977, Addison-Wesley-Verlag, S. 472
[5]Eine sehr gute Beschreibung des Michelson-Morley-Experiments findet sich bei R. Feynman, Vorlesungen über Physik, 1987, Oldenbourg-Verlag München, S. 220-223
[6]J.Robert Oppenheimer, Drei Krisen der Physiker, Walter-Verlag Freiburg 1966, S. 24
[7]vgl. auch Wolf Göhring, Mach und Lenin — Welchen Raum nimmt Lenins Auffassung von Raum und Zeit in unserer Zeit ein, http://www.ais.fraunhofer.de/~goehring/MachL.pdf, 1994 ersch. in Marx.Blätter
[8]Ernst Mach, “Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt”, 3. Auflage, Leipzig 1897, S. 473
[9]W.I.Lenin, “Materialismus und Empiriokritizismus”, Dietz-Verlag Berlin 1970, S. 34-35
[10]W.I.Lenin, eben da, S. 171
[11]W.I.Lenin, eben da, S. 257
[12]W.I.:Lenin, eben da, S. 171
[13]W.I.Lenin, eben da, S. 175-176
[14]W.I.Lenin, eben da, S. 304
[15]R. Oppenheimer, eben da, S. 14
[16]Albert Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie, 4. Auflage, Vieweg, Braunschweig 1965, S. 20
[17]R. Oppenheimer, eben da, S. 15
[18]R. Feynman, Vorlesungen über Physik, 1987, Oldenbourg-Verlag München, S. 235
[19]Eine saubere Herleitung des Dopplereffekts findet sich z.B. bei Alonso/Finn: eben da, S. 552
[20]Jochen Sander, Relativitätstheorie und Materialismus, http://www.nrw.vvn-bda.de/relativ.pdf