Anmerkungen zu Egbert Scheunemanns Gegenkritik mit dem Titel “Irrt sich Hochschild? Ja!” zu meiner Kritik “Irrte sich Einstein — wirklich???

Warum Scheunemann kein Materialist ist

oder: Probleme im Umgang mit physikalischen Experimenten

Vorwort:

Der Hauptgrund, warum ich den ganzen Mailverkehr und sowohl meine als auch Herrn Scheunemanns Artikel zum Thema der Relativitätstheorie Einsteins auf einer marxistischen Webseite so umfangreich zur Verfügung stelle, ist der, das aus marxistischer Sicht interessante Verhältnis zwischen dem philosophischen Materialismus (als einem Grundpfeiler dex Marxismus) und den Naturwissenschaften darzulegen. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß sich Einsteins Relativitätstheorie hervorragend mit dem marxistisch-materialistischen Weltbild verträgt und vor allem, daß am Umgang mit Albert Einstein gut gezeigt werden kann, wie wir gezwungen sind, unsere althergebrachten Vorstellungen von Raum und Zeit anhand der experimentellen Resultate zu überdenken. Es geht also hier darum, die Theorie der Praxis anzupassen, nicht umgekehrt.

Es ist zwar erfreulich, von Herrn Scheunemann zu hören, daß er zumindest formal die vorliegenden experimentellen Resultate nicht leugnen oder abstreiten will. Diesbezüglich habe ich in meiner Kritik “Irrte sich Einstein — wirklich???” ausdrücklich ein entsprechendes Zitat auch erwähnt. Nur, Scheunemann mag sich hundertmal für einen Materialisten halten. Entscheidend ist vielmehr, was passiert, wenn sich Theorie und Praxis unterscheiden. Dann erst geschieht die eigentliche Nagelprobe zu entscheiden, ist es Pech für die Theorie oder Pech für die Praxis? Konkret geht es hier um die “Theorie”[1] von der absoluten Zeit, die Scheunemann vehement verteidigt, die offenkundig im Widerspruch zur Relativitätstheorie steht und selbstverständlich experimentell zu überprüfen ist (auch wenn Scheunemann das vielleicht für unnötig hält).

Genauso verhält es sich mit dem Marxismus. Es ist vollkommen irrelevant, ob jemand 40 MEW-Ausgaben im Bücherregal hinter sich stehen hat oder nicht. Für die Bewertung, ob jemand ein Marxist ist, ist vielmehr die praktische Auseinandersetzung mit dem Marxismus wichtig wie überhaupt eine marxistische Praxis selbst. Wenigstens ist Herr Scheunemann so ehrlich, sich nur in Anführungszeichen als Marxisten zu bezeichnen (weil er bereits den Hegels in Marx komplett und offen ablehnt, siehe auch seinen zweiten Brief vom 26.3.2010[2]). Im übrigen geht es natürlich nicht um eine Verehrung von “Säulenheiligen”. Marx hat sich zeit seines Lebens ständig selbst korrigiert, und ich habe mir z.B. in einem früheren Artikel mit dem Titel “Was ist Materialismus im Lichte der spez. Relativitätstheorie?” (eine Kritik an Peter Marquardt!, auf den sich Herr Scheunemann stark stützt) erlaubt, sogar den großen Lenin dafür zu kritisieren, daß er nicht auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Debatte seiner Zeit war, was meine Wertschätzung für Lenins große politische Verdienste nicht schmälert.

Ich habe Herrn Scheunemanns ersten Brief übrigens schon richtig verstanden, als er den Wunsch äußerte, seine Gegenkritik auf einer fremden Homepage veröffentlichen zu lassen. Das kann er auch. Aber einen Anspruch auf eine Endlosdebatte oder ein letztes Wort auf einer fremden Homepage mit einem politischen statt naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat er sicherlich nicht. Wenn er das will, soll er am besten seine eigene Homepage entsprechend ergänzen. Nichts anderes habe ich in meinem ersten Brief vom 26.3. gesagt.

Es fällt immer wieder auf, daß Scheunemann zumindest rhetorisch den Eindruck zu erwecken versucht, er würde mit seinen Argumenten irgendeinen nennenswerten Teil der Physikerszene beeindrucken. So schreibt er z.B. in seinem zweiten Brief vom 26.03. etwas hochtrabend von seinen “Publikationen” in der Zeitschrift “Spektrum der Wissenschaft”. Tatsächlich sind es bisher nur sechs kleine Leserbriefe. Die von ihm angekündigte Rezension mag etwas mehr sein, ist aber auch kein eigenständiger Beitrag zur physikalischen Debatte, sondern nur eine Bezugnahme auf einen anderen Physiker, der seine Skepsis zu anderen teilweise hochspekulativen Gebieten der modernen Physik äußert, die thematisch mit der Relativitätstheorie nichts zu tun haben (z.B. String-Theorie, Urknalltheorie etc.). “Spektrum der Wissenschaft” druckt übrigens auch Stellungnahmen bzw. Leserbriefe von anderen gegenüber der modernen Physik skeptisch eingestellten Menschen.

Für Verschwörungstheorien wie “abweichende Physikverständnisse werden zensiert” oder nur eine behauptete Ignoranz gegenüber Einstein-Kritikern gibt es somit keinen Anlaß.[2a] Herr Scheunemann bringt dazu selbst in Form von zwei PDF-Dokumenten auf seiner Homepage einen Briefwechsel mit zwei Physikern, die sich ganz offensichtlich nicht zu schade waren, ohne akademische Arroganz mit einem Nicht-Physiker eine kleine Debatte zu führen. Scheunemann versucht auch, allein aufgrund der Aussage, daß er “seit langen Jahren” in “engstem Kontakt” mit vielen Physikern und Mathematikern stünde[3], den Eindruck zu erwecken, er könne auf diesem Gebiet etwas von der ‚fachlichen Kompetenz’ der Physiker (die ihn kritisieren!) mitnehmen, nur weil er mit ihnen verkehrt. Er hätte angeblich auch keine ernsthaften Gegenargumente von ihnen vernommen. Die von ihm zitierten Physiker sehen das indes völlig anders. Hier eine Kostprobe aus dem von Scheunemann veröffentlichten Korrespondenzwechsel mit Professor YYY[4]:

Sie werden nicht erwarten, dass ich Ihren Ausführungen zur Relativitätstheorie zustimme. Es ist schon merkwürdig, dass sich immer wieder Außenstehende dazu berufen fühlen, den Physikern die Physik zu erklären. Ich bekomme ziemlich regelmäßig Zuschriften ähnlicher Attitüde und beantworte diese im Allgemeinen nicht mehr. In Ihrem Fall mache ich eine Ausnahme, weil Sie wenigstens in vernünftigem Deutsch formulieren können und sich offensichtlich einige Mühe gemacht haben.

Ist Ihnen eigentlich klar, welche Konsequenzen es haben würde, wenn Sie recht hätten? Es würde bedeuten, dass eine immense Geldverschwendung stattfindet, nicht nur in Deutschland, sondern international. Viele Hochschulprofessoren einschließlich meiner Person würden dafür bezahlt, dass sie Nonsens verbreiten, und viele der Gelder, die an Forschungseinrichtungen wie DESY oder CERN vergeben werden, wären hinausgeworfenes Geld. Konsequenterweise müssten Sie sich öffentlich dafür engagieren, dass eine riesige Verschwendung von Steuergeldern gestoppt wird.

Wie bei allen anderen Anti-Relativisten sind die Denkfehler in Ihrer Argumentation jedoch leicht aufzufinden.

Warum versucht er sich in deren Kompetenzaura zu sonnen? Mit welchen Physikern erzielt also Herr Scheunemann Übereinstimmung in der Einschätzung der Relativitätstheorie??? Doch nur mit einem extrem kleinen Teil der Physikerszene (nicht einmal im Promillebereich). Ich meine, die leichte Aufschneiderei hilft Scheunemann nicht wirklich, bei allem Verständnis für die Vermarktung seines Buchs “Irrte Einstein?”. Übrigens habe ich mir dieses Buch jetzt auch gekauft und somit seine Tantiemen gesteigert, schon um seinem Argument den Wind aus den Segeln zu nehmen, seine Kritiker würden sich nicht mit seinem Buch auseinandersetzen. Die folgenden Abschnitte beziehen sich daher sowohl auf sein Buch wie auf seine Gegenkritik mit dem Titel “Irrt sich Hochschild? Ja!”. Ich bitte den Leser vorab um Verständnis, daß ich aus Platz- und Zeitgründen nicht auf jeden Aspekt eingehen kann. Wenn also ein bestimmter Aspekt nicht behandelt wird, so bedeutet das nicht, daß ich dem automatisch zustimme.

Zur “Symmetrie” im Zwillingsparadoxon

In seiner Gegenkritik sagt Scheunemann:

“Im Kern geht es um die Frage, ob es so etwas wie eine absolute Zeit gibt — oder nicht. Das Zwillingsparadoxon (ZP) ist nur ein quasi didaktischer Versuch, die dahinter stehende Theorie, die besagt, dass es so etwas wie eine absolute Zeit nicht gibt, zu verdeutlichen und anschaulich zu machen.”

Soweit gebe ich ihm recht. Nichts anderes habe ich in meinem Artikel mit dem Hinweis gemeint, daß es sich dabei nur um ein Gedankenexperiment handelt, dem somit nur begrenzte Beweiskraft zukommt. Unglücklicherweise scheint Scheunemann nicht auf die Idee zu kommen, daß umgekehrt auch seinen Ausführungen über die behauptete absolute Zeit ohne eine experimentelle Bestätigung nicht mehr Beweiskraft zusteht. Immerhin sieht Scheunemann auch den folgenden Sachverhalt noch formal richtig:

“Hiermit sei also schon mal ein Hinweis darauf gegeben, dass die ganze Sache mit ihren materiell-energetischen Grundlagen (ohne Energieverbrauch keine Be- oder Entschleunigung und keine Linearbewegung) steht und fällt.”

Ich habe aber klar in meinem Artikel darauf hingewiesen, daß gerade, wenn man die materiell-energetischen Grundlagen in die Symmetrie-Überlegungen einbezieht, das Zwillingsparadoxon aufhört, symmetrisch zu sein. Für beide Zwillinge ist eindeutig und ohne gegenseitige Kommunikation klar, wer von ihnen sich bewegt und Energie aufwenden muß. Nur Scheunemann ist das nicht klar. Er behauptet weiterhin eine Symmetrie selbst bei Berücksichtigung des Impulserhaltungssatzes. Auch Professor YYY hat auf diesen Denkfehler Scheunemanns hingewiesen. Spätestens wenn die Rakete des reisenden Zwillings außerhalb der Erdatmosphäre weiter beschleunigt, ist der Rückstoß auf der Erde exakt Null. Es darf und muß daher die Erde in guter Näherung als ruhendes Bezugs- und Inertialsystem angesehen werden, im Unterschied zum bewegten Bezugssystem des reisenden Zwillings. Und was antwortet Scheunemann? Er zaubert zur allgemeinen Verblüffung weg, was ihn stört:

“...Herr YYY! Nur seien Sie sich bitte der Konsequenzen dieser (letztlich nur vermeintlichen: Treibstoff von der Erde!) vollkommenen energetischen Entkoppelung der Zwillinge bewusst! Z1 ist nämlich dadurch letztlich aus dem Experiment vollkommen verschwunden!”

Also, ich zweifle nach wie vor nicht an der Existenz des auf der Erde zurückgebliebenen Zwillings Z1. Und selbstverständlich ist er weiterhin als ruhendes Vergleichssystem im Zwillingsparadoxon geeignet, auch wenn er “energetisch entkoppelt” ist. Nach diesem rhetorischen Taschenspielertrick fällt Scheunemann dann nichts mehr ein, als im Briefwechsel mit YYY festzustellen:

“Nun, lieber Herr YYY, dann wären wir wieder bei meinem Argument (dem Sie schon zugestimmt hatten), dass ALLES im Universum, da permanent gegen ALLES ANDERE im Universum bewegt, relativ zu ALLEM ANDEREN zeitdilatiert längenkontrahiert) ERSCHEINT — und deswegen, so meine These, letztlich NICHTS zeitdilatiert (längenkontrahiert) IST.”

Oder in seiner Gegenkritik:

“Wenn ALLES ‚langsamer’ geht oder ‚kürzer’ oder ‚massereicher’ ist relativ zu ALLEM anderen, geht NICHTS ‚langsamer’, ist NICHTS ‚kürzer’ und NICHTS ‚massereicher’!”

Sicher ist alles relativ zu allem anderen zeitdilatiert, wenn sich alles relativ zu allem anderen bewegt. Darin stimmen ich, YYY und der Rest der Physiker überein. Nur, was soll diese triviale Feststellung? Taugt sie als Gegenargument gegen die Asymmetrie im Zwillingsparadoxon??? Nein, alles ist asymmetrisch zueinander, na und? Selbstverständlich kann der reisende Zwilling Z2 sogar eine Zeitdilatation gegenüber jedem beliebigen Punkt im Universum erfahren, sofern er nur genügend schnell ist bzw. beschleunigt und abbremst. Scheunemanns seltsamer Schluß, deswegen sei letztlich NICHTS zeitdilatiert, ist mir schon formal logisch nicht verständlich. Mich beschleicht nicht erst an dieser Stelle nur der Verdacht, daß er sich nicht von seinem Dogma der absoluten Zeit befreien kann und nicht die nötige geistige Flexibilität aufbringt zu überlegen, wie ein asymmetrisches Universum[5] aussehen kann, in dem es eben nicht egal ist, wer sich wo relativ zu wem bewegt[6].

Ohne nähere Begründung versucht Scheunemann auch, wiederholt den Eindruck zu erwecken, es sei gleichbedeutend (auch im Hinblick auf den jeweiligen Energieaufwand), ob Z1 und Z2 in einer Röhre BEIDE starten und zurückkommen oder ob Z1 ruht und Z2 alleine startet und zurückkommt. Ich stelle nur mit purer formaler Logik fest, die erstgenannte Situation ist symmetrisch, die zweite nicht.

Außerdem versucht Scheunemann, mit seinem Zeitbegriff das Zwillingsparadoxon so zu stützen:

“Wenn ich dann aber Zeit definiere als, wie gesagt, Daseinsweise der immer und überall sich bewegenden Materieenergie, dann unterliegt die Zeit den absolut gleichen Erhaltungssätzen wie die Energiematerie selbst, dann ist Zeit so absolut wie das Dasein der Energiematerie selbst als ‚Sein schlechthin’.”

Die Formulierung der Zeit als der Daseinsweise der immer und überall sich bewegenden Materieenergie ist mir zu schwammig und physikalisch unklar. Spontan würde ich sogar sagen, darauf basierend ist die Annahme einer relativen Eigenzeit, die der Materie anhaftet, plausibler als eine Zeit, die überall unabhängig von der Materie und deren Bewegungszustand gleich ist. Scheunemann versucht mit einem Kunstgriff dennoch, eine absolute Zeit abzuleiten: Er führt allen Ernstes einen neuen Erhaltungssatz in die Physik ein, nämlich einen für die Zeit, die eigentlich nicht viel mehr als eine Koordinate einer geometrischen Beschreibung der Raumzeit ist. Es gibt in der Physik anerkanntermaßen Erhaltungssätze für die Energie, den Impuls und den Drehimpuls, aber für die Zeit??? Ich habe als Physiker davon noch nie gehört. Und den Beweis für diesen neuartigen revolutionären Erhaltungssatz bleibt Scheunemann auch schuldig. Nun, konsequenterweise müßte er auch Erhaltungssätze für beliebige euklidische Räume vorschlagen... Letztlich läuft das Ganze auf eine tautologische von der experimentellen Praxis abgekoppelte Beweisführung hinaus.

Beispiel: Michelson-Morley-Experiment

Ich hatte in meinem Artikel “Irrte Einstein — wirklich???” meine Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, daß Scheunemann online leider keine Silbe zum berühmten Michelson-Morley-Experiment verliert. Wenn er wenigstens grundsätzlich recht hätte, würde er sicherlich mit online verfügbaren Referenzen auf dieses Experiment mehr Eindruck in der Debatte machen, schließlich kann er nicht erwarten, daß jeder sein Buch liest (und ich habe inzwischen das Buch gelesen!!!). Wenigstens habe ich ihn soweit aus der Reserve locken können, daß er jetzt erstmals auch online in seiner Gegenkritik “Irrt sich Hochschild? Ja!” auf das besagte Experiment eingeht.

Kapitel II seines Buchs (“Als der Äther sich in Luft auflöste...”) enthält allerdings zu meiner Überraschung kaum Gegenargumente, sondern beschränkt sich weitgehend auf beschreibende Charakterisierungen des Michelson-Morley-Experiments. Teilweise geschieht das aus einer spöttelnden und ungläubigen Perspektive, wenn er etwa Einstein zitiert:

“’...Dass wir aus den Transformationsgleichungen etwas über das physikalische Verhalten von Maßstäben und Uhren erfahren müssen, liegt a priori auf der Hand.’ ...(Einstein behauptet also expressis verbis, dass wir aus einer geometrisch-mathematischen Symboltransformation ... etwas über die Physis der Dinge erfahren müssen. Das ist erst mal beachtlich — wenn nicht (sprach-)idealistisch.”[7]

Hier übersieht er die wichtige Tatsache, daß die “Symboltransformation” auf physikalische Gleichungen angewandt wird, die unzähligen Praxistests ausgesetzt sind. Somit handelt es sich nicht um eine idealistische Konstruktion. Besonders meinte Einstein die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik, die bekanntlich Lorentz-invariant sind. Darauf geht Scheunemann überhaupt nicht ein[8]. Mit einem Bruchteil der Mühe, die er sonst für seinen Kreuzzug gegen Einstein aufbringt, hätte er herausfinden können, welch große Bedeutung die Elektrodynamik und die Lorentz-Invarianz der Maxwell-Gleichungen in der Debatte des Michelson-Morley-Experiments hatte und hat. Auch eine Diskussion des Relativitätsprinzips vermisse ich. Somit taugt das zweite Buchkapitel nicht einmal als umfassende populärwissenschaftliche Beschreibung des Experiments und seiner Hintergründe.

Im dritten Kapitel (“Vom Universum als letztem Bezugssystem...”) verläßt Egbert Scheunemann erst mal das Michelson-Morley-Experiment und stellt seine theoretischen Behauptungen und Betrachtungen über das Wesen der Zeit und die Wahl von Inertialsystemen an. So entscheidet sich E.S., willkürlich ‚das’ Universum als absolutes Bezugssystem zu wählen. Ihm bleibt mit diesem sprachlichen Kunstgriff noch nicht erspart, wie z.B. der Nullpunkt des so definierten Koordinatensystem namens Universum festzulegen sei, abgesehen von gewissen anderen Kleinigkeiten wie der Schwierigkeit, eine Durchschnittsgeschwindigkeit, -energie etc. zu bestimmen. Scheunemann scheint mit einem Zitat des Außenseiters Peter Marquardt den Massenschwerpunkt des Universums vorzuschlagen. Das Problem ist nur, auch diese Wahl ist willkürlich und zeichnet kein absolutes Bezugssystem aus, das gegenüber anderen bevorzugt ist. So könnte man per einfacher Koordinatentranslation die Erde relativ zum Massenschwerpunkt-Bezugssystem auch zum absoluten Bezugssystem erklären. Im 19. Jahrhundert haben die Physiker im Hinblick auf die Erklärung von optischen Phänomenen dazu auch “Äther” gesagt. Scheunemanns praxisferne Diskussionen um die richtige Wahl von Bezugssystemen führen nicht weiter. Es müssen aus materialistischer Sicht Experimente ausgeführt werden, um zu entscheiden, ob es überhaupt Sinn macht, ein absolutes Bezugssystem bzw. einen Äther einzuführen, ob spezielle elektrodynamisch/optische Effekte beobachtbar sind, aus denen z.B. eine Relativbewegung der Erde bzw. des Labors zum Äther gefolgert werden kann. Denn ohne solche Effekte ist die Annahme eines (ruhenden) Äthers vollkommen sinnlos, weil nicht beobachtbar. Diese Experimente wurden ausgeführt und kulminierten — im Michelson-Morley-Experiment.

Sei es drum, erst im vierten Kapitel und nun auch — erstmals - online in der Gegenkritik erfahren wir erst, was E.S. überhaupt an Gegenargumenten zum Michelson-Morley-Experiment anführt.

“Ich diskutiere dort und an vielen anderen Stellen meines Buches das Michelson-Morley-Experiment in allen nur möglichen Details — und übrigens mit einem Ergebnis, das Hochschild bestimmt nicht freuen wird: Das Experiment mit einem Interferometer hat nämlich ergeben, dass es in ihm zu keinen Laufzeitunterschieden des Lichtes gekommen ist — obwohl die Erde, auf der das Interferometer ‚ruhte’, sich bekanntlich in mehrfacher Hinsicht durch das Weltall bewegt.”[9]

Wieso mich das Ergebnis des Michelson-Morley-Experiments nicht freuen soll, ist ein Rätsel. Die Geschwindigkeit des Lichts hängt also nicht davon ab, ob sich die Lichtquelle bewegt oder nicht. Es gibt somit keinen Anlaß, überhaupt die Existenz eines ruhenden Äthers anzunehmen. Genau das ist das experimentelle Ergebnis, und genau das hat die klassische Physik in eine schwere Krise gestürzt und zur Entwicklung der Relativitätstheorie geführt. Sehen wir uns also an, wieso Scheunemann verblüffenderweise meint, dieses Resultat zu seinen Gunsten umdeuten zu können.

“...dann hat die Lichtquelle des Interferometers also allem Anschein nach ‚sein’ Licht mitgenommen...”

Das ist sprachlich etwas merkwürdig. Sicherlich wird E.S. nicht gemeint haben, daß eine Lichtquelle das ihr mit definitiv höherer Geschwindigkeit enteilende Licht mitnehmen kann. Oder soll hier ein “Impulsübertrag” auf das emittierte Licht stattgefunden haben? Dann würde es zu Farb- und Frequenzverschiebungen kommen je nach Bewegungsrichtung (denn der Impuls von Lichtquanten ist frequenzabhängig), die ebenfalls nicht beobachtet worden sind. Oder spielt E.S. auf die Theorie des mitgeführten Äthers an? Diese Theorie, die vor allem von Stokes und Hertz vertreten wurde, hat auf anderen Gebieten große Probleme und wurde durch Lorentz in einer Arbeit 1886 widerlegt.

Was bleibt? Scheunemann hat sich den Fresnel-Effekt ausgesucht, um seine Thesen zu retten. Einfach so. Eine Erörterung, warum er diesen Effekt für eine plausible Erklärung hält, obwohl selbst ihm nahestehende Physiker wie Marquardt das ablehnen, findet sich in seinem Buch nicht. Ich bringe die Erörterung hier ganz kurz und skizzenhaft für ihn, obwohl eigentlich Scheunemann selbst in der Bringschuld steht. Der nach dem Physiker Fresnel benannte Effekt aus dem Jahre 1818 beschreibt die Lichtausbreitung in Materie. Im Vakuum kann er nicht funktionieren, daher basiert er (im Vakuum) ersatzweise auf der Annahme eines im wesentlichen ruhenden Äthers, der einen optischen Brechungsindex in Abhängigkeit von seiner Dichte hat. Wenn sich dann das Labor mit dem Michelson-Morley-Interferometer aufgrund der Relativbewegung der Erde zum Äther bewegt, so müßte der Äther in dieser Richtung zusammengedrückt werden, so daß sich der Brechungsindex ändert (Mitnahmeeffekt) und somit die veränderte Lichtgeschwindigkeit in dieser Richtung die angenommene Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Quelle kompensiert. Das Problem dabei? Leider führt das ebenfalls zu nicht beobachteten Farbverschiebungen des Lichts, da der Brechungsindex grundsätzlich frequenzabhängig ist, wie Wilhelm Veltmann 1873[10] nachgewiesen hat. Dem Leser sei eine kurze Übersicht der Debatte um den Äther auf Wikipedia[11] empfohlen, die aber schon die Komplexität der Argumente erahnen läßt und in deren Tiefe Scheunemanns Buch nicht annähernd hinabsteigt.

Noch eine abschließende Bemerkung zum Verständnis der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Michelson-Morley-Experiment. Nach Scheunemann[12] könne man nicht gleichzeitig logisch behaupten, daß 1. sich Licht von jeder Lichtquelle isotrop mit c ausbreitet, unabhängig vom Bewegungszustand der Lichtquelle und daß 2. die Geschwindigkeiten von Lichtquelle und Licht sich nicht addieren würden. Also lieber Herr Scheunemann, mit der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist gerade begriffsdefinitorisch gemeint, daß zu ihr nicht die Bewegung der Lichtquelle addiert werden kann. Die erste Aussage impliziert die zweite. Wahrscheinlich meinen Sie etwas ganz anderes, nämlich die weitaus schwächere und banale Aussage, daß das Licht nach Emission seine Geschwindigkeit beibehält. Ich empfehle, die allgemein in der Physik übliche Terminologie zu verwenden, um auch für das physikalisch unbedarfte Publikum noch halbwegs verständlich zu bleiben und hier nicht völliges Begriffschaos ausbrechen zu lassen.

Zu Punkt 5 der Gegenkritik: Welche Wikipedia-Grafik?

In seinen bisherigen Online-Veröffentlichungen hatte Scheunemann (und dafür hatte ich ihn kritisiert) in der Tat eine vereinfachte Wikipedia-Grafik aufgeführt, deren behauptete Spiegelsymmetrie auch dank einer verkürzten Beschreibung überhaupt nicht ersichtlich war. Im Buch bringt er tatsächlich die andere genauere Grafik von Wikipedia und schreibt dazu:

“Die Graphik ist horizontal (auf der Linie von Punkt “5” der Lebenslinie des zurückbleibenden Zwillings zum Umkehrpunkt “B”) völlig spiegelsymmetrisch!”

Freilich, auf dieser Linie ist die Grafik spiegelsymmetrisch, aber daran ist nicht zu spiegeln. Spiegelsymmetrie im Zwillingsparadoxon heißt inhaltlich Vertauschbarkeit der Rollen von reisendem und ruhendem Zwilling. Also ist die Grafik höchstens VERTIKAL an der Zeitachse zu spiegeln, nicht willkürlich mitten drin im halben Abstand zur Wegachse. Jedoch scheitert die vertikale Spiegelung an der unterschiedlichen Skalierung der Weg-Zeit-Kurven (ich wiederhole mich...).

Zu Punkt 6 der Gegenkritik: Verschiedenes

a) In diesem Abschnitt tauchen keine prinzipiell neuen Überlegungen auf. Das Gleichnis vom wandernden Mönch, das Scheunemanns Symmetrie-These im Zwillingsparadoxon stützen soll, habe ich bereits satirisch mit dem Hinweis auf den höheren Energiebedarf des Mönchs im Vergleich zu seinen ruhenden Klosterbrüdern widerlegt.

b) Ob Prof. Hubert Goenners Formulierung von den abrupt springenden Zeitlinien, für die es keine physikalische Erklärung gebe, sprachlich einwandfrei ist, kann ich mangels Kenntnis des Lehrwerks von Goenner nicht beurteilen. Das ist aber auch nicht mein Problem, denn ich bin nicht für die detaillierten Formulierungen anderer Physiker verantwortlich. Außerdem gibt es viele andere gute Darlegungen der speziellen Relativitätstheorie, wo ich nichts von fehlenden physikalischen Erklärungen gelesen habe. Was aber durchaus vorkommt, ist die Einführung von Zwangskräften in ein Modell, wenn vereinfachte Annahmen gemacht werden, ohne die physikalischen Ursachen von Zwangskräften zu beleuchten oder zu erklären. Vielleicht hat Goenner das gemeint[13]. Das ist zulässig, wenn mit den Ergebnissen gearbeitet werden kann. Man vergleiche dazu z.B. die analoge Behandlung von Zwangskräften in der Bauphysik, um nicht physikalisch erklären zu müssen, warum ein Mauerstein trotz der Gravitation nicht nach unten in den festen Boden hineinfallen kann (im atomaren Bereich sorgen elektrostatische Abstoßungskräfte für diese triviale Unmöglichkeit). Die Bauphysik funktioniert trotz unerklärter Zwangskräfte, also trotz physikfreier Räume in deren Theorie sehr erfolgreich. Ebenso können SRT und ART (spezielle und allgemeine Relativitätstheorie) nebeneinander bestehen, auch wenn die SRT Vereinfachungen und Annahmen analog zu Zwangskräften einführt, um relativistische Vorgänge zu beschreiben.

c) Ich wiederhole noch einmal bis zum Umfallen, daß ich nie gesagt habe, der biologische Alterungsprozess im Zwillingsparadoxon würde überhaupt so existieren bzw. sei von der Geschwindigkeit abhängig. Das genaue Gegenteil ist der Fall, siehe auch die Diskussion der Frage der Metaphysik im nächsten Kapitel.

d) Scheunemanns Frage “Warum sollte sich der (meines Erachtens: reine) Beobachtungseffekt namens ‚Längenkontraktion’ mit der Rückreise von Z2 peu à peu zurückbilden — der (meines Erachtens: reine) Beobachtungseffekt namens ‚Zeitdilatation’ aber nicht?” kommt einer Scherzfrage gleich. Erstens bringt E.S. eine falsche Anwendung der Mathematik der Lorentz-Transformation, indem er von der Zeitdilatationsformel zur Längenkontraktionsformel lediglich durch Austausch von Buchstaben in den Transformationsformeln kommen will (er übersieht ein Vorzeichen in einem Exponenten). Vor allem aber ist ganz ohne Relativität schon klar, daß sich Zeiten addieren (sowohl für den ruhenden wie den bewegten Zwilling). Maßstabslängen hingegen gelten jeweils zu einer bestimmten Zeit, damit momentan. Somit steht fest, daß der zurückgereiste Zwilling Z2 wieder die ursprüngliche Längenausdehnung hat (hier Leibesdicke), denn die (momentane) Relativgeschwindigkeit beim Wiedersehen mit Z1 ist dann null. Scheunemann kann leider zuwenig Physik und verblüfft vor allem sich selbst. Selbst absolute Laien haben eigentlich ein Gefühl dafür, daß die Zeit immer weiter fortschreitet, sich also aufaddiert, Längen aber (letztlich) bleiben resp. je gegebenen Augenblick fixiert sind.

Eine Antwort auf eine “neckische” Frage

In seiner Gegenkritik führt Scheunemann ein Uhrenexperiment als Gedankenexperiment in Abwandlung des Experiments von Keating[14] an und stellt die Frage, warum die gependelte Uhr U2 langsamer gehen sollte als die im gleichen Raum (Zimmer) befindliche ruhende Uhr U1. Er beantwortet die Frage selbst so:

“Ist...damit bewiesen, dass die Zeit selbst nicht absolut ist — oder ist damit nicht vielmehr bewiesen, dass Chronometer auf physikalische Experimente und Einwirkungen (die permanente Be- und Entschleunigung durch die Pendelbewegung) reagieren?”

Ich sage: Ja, U2 zeigt nach der Relativitätstheorie eine frühere Zeit an als U1. Die Zeit ist relativ, nämlich pro Uhr. Und nebenbei bemerkt, die “neckische” Frage, wie spät es im Raum sei, ist sehr leicht so zu beantworten: Der Raum (genauer: jeder Punkt des Raums mit Ausnahme von U2) hat sich relativ zu U1 nicht bewegt, so daß die Zeit des Raums die von U1 ist. Eine ganz einfache Erklärung ohne Mysterien oder Widersprüche.

Die Behauptung, man könne auch sagen, die Chronometer (hier U2) reagieren auf “Einwirkungen” von außen, ist tatsächlich in voller Analogie zur Aussage, im Zwillingsparadoxon würde der reisende Zwilling biologisch langsamer altern.[15] Nein, Naturgesetze hängen NICHT vom Bewegungszustand ab, so wie es im Relativitätsprinzip formuliert ist. Atomuhren basieren z.B. auf Schwingungen von Cäsium-Atomen, die allenfalls temperaturabhängig sind, aber abhängig von mechanischen Bewegungen??? Noch klarer wird das, wenn wir Uhren etwa auf der Basis des radioaktiven Zerfalls konstruieren. Warum sollte der radioaktive Zerfallsmechanismus selbst davon abhängen, ob die zugehörige Uhr in Pendelbewegungen versetzt wird oder nicht? Wo ist die physikalische Erklärung?

Scheunemann wirft mir Metaphysik vor, wenn ich hier von der relativen Zeit spreche. Als Linguist wird er sicherlich wissen, was der aus dem Griechischen stammende Begriff bedeutet: meta = danach, hinter, jenseits und physis = Natur, Physik. Metaphysik geht ursprünglich auf Schriften von Aristoteles zurück und versucht, jenseits der erfahrbaren Natur eine angeblich “tiefere” oder “letzte” Wahrheit zu finden. Was ist in Scheunemanns Gedankenexperiment oder in den realen Uhrenexperimenten von Keating, Maryland, bei den GPS-Satelliten[16] etc. die erfahrbare Wirklichkeit? Offensichtlich direkt die unterschiedlich schnell gehenden Uhren und gemessenen Zeiten! Etwas Handgreiflicheres kann man sich erfahrungs- und erkenntnistechnisch nicht vorstellen. Aber Scheunemann passt das nicht, denn sein (unbewiesenes) Dogma lautet einfach: Relative Zeit DARF es nicht geben. Also sucht er krampfhaft nach anderen Erklärungsmustern. Hier sollen mysteriöse mechanische Einwirkungen den Gang von Atomuhren beeinflussen, wie das physikalisch genau gehen soll, sagt Scheunemann leider nicht, auch wenn er dem Ganzen ein halbes Buchkapitel widmet[17]. Ich fürchte, der Vorwurf der Metaphysik fällt auf ihn selbst zurück.

Wiedersehen der Zwillinge im Zwillingsparadoxon

Ganz metaphysisch versucht Scheunemann auch, die tatsächlich erfahrbaren experimentell gemessenen Sachverhalte ins Reich des Virtuellen (als nicht wirklich vorhanden) zu verlegen, indem er beständig von “Beobachtungseffekten” spricht (außer beim Zwillingsparadoxon?!). Ich habe bereits in meinem ersten Artikel “Irrte Einstein — wirklich???” eine zentrale Kritik daran geäußert, nämlich an Abschnitt 1 seiner online verfügbaren Zusammenfassung seines Buchs, wo er ausgerechnet die Anwendung der Relativitätstheorie!!! selbst vorschlägt, um die relativistischen “Beobachtungseffekte” herauszurechnen, obwohl die theoretische Basis der Relativitätstheorie das Relativitätsprinzip und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (und damit die Relativität der Zeit) sind. E.S. spricht ausdrücklich von einer Fehlerkorrektur, als ob die gemessenen Werte a priori falsch sein müssen. Ähnlich formuliert er in seinem Buch[18] so:

“Anstatt diese Verzerrungen einfach zu korrigieren (und dazu eignet sich der ‚Rechenapparat’ namens SRT ... ganz hervorragend) und dieserart auf das Wirkliche, das Eigentliche, das Unverfälschte, also die Zeit selbst zu schließen — wird die Zeit selbst ‚korrigiert’!”

Hier wird die Suche des Metaphysikers Scheunemann nach der wahren unverfälschten Zeit (Metazeit oder absolute Zeit) hinter der erfahrbaren Zeit (experimentell gemessenen Zeit) besonders plastisch.

Konsequent tut E.S. auch die in Teilchenbeschleunigern (siehe auch die Argumente von Professor YYY!) vorgefundenen relativistisch erhöhten Massen als “Beobachtungseffekt” ab, obwohl es natürlich ein wenig schwierig ist, den damit verbundenen erhöhten Strombedarf des CERN oder des DESY auch als “Beobachtungseffekt” zu deuten. Diese Institutionen merken es schon ganz real an ihrer Stromrechnung.

Die Sache mit den “Beobachtungseffekten” hat noch eine Inkonsistenz. In der Diskussion des Zwillingsparadoxons geht E.S. aus Symmetriegründen offensichtlich davon aus, daß dort überhaupt keine Zeitdehnung auch nur beobachtbar sei bzw. daß der zurückgereiste Zwilling Z2 genauso alt ist wie sein Bruder. Anscheinend führt er nur dann “Beobachtungseffekte” als letzte Ausrede ein, wenn er direkt mit realen Messergebnissen konfrontiert wird. Im Zwillingsparadoxon braucht er das nicht zu machen, weil ja noch keine fast lichtschnelle Rakete konstruiert worden ist. Aber ein Widerspruch ist es trotzdem.

Eigentlich schon überflüssig, explizit zu erwähnen, daß sich Metaphysik und Materialismus gegenseitig ausschließen, und ich könnte hier bereits mit meiner Kritik an Scheunemanns Gegenkritik aufhören, da der Titel meines kleinen Aufsatzes lautet: Warum Scheunemann kein Materialist ist. Aber ich möchte dem Leser noch zwei ausgewählte Kapitel aus dem Buch “Irrte Einstein?” nicht vorenthalten. Sie sprechen Bände, wie Scheunemann mit zweifelhaften Meldungen über Einstein-Widerlegungen umgeht und was sein Verhältnis zur physikalischen erfahrbaren Realität angeht.

Überlichtgeschwindigkeiten als physisches Faktum?

Diese kühne Behauptung stellt Egbert Scheunemann in einer Überschrift zum 8. Kapitel seines Buchs auf. Kühn deshalb, weil eine derartige Entdeckung die größte Wissenschaftssensation seit Kopernikus wäre und für die Menschheit gleichsam das Tor zu einer neuen Welt öffnete. Aber gemach, gemach. Interessanterweise hat noch niemand den fälligen Physiknobelpreis für so eine gewaltige Entdeckung verliehen bekommen. Ist es doch nicht so weit her mit der Behauptung von Scheunemann?

Nun, Egbert Scheunemann ist ein emsiger Quellensammler, der begierig alles sammelt, was er für gegen die Relativitätstheorie zu verwerten brauchbar hält. So greift er den Disput zwischen Einstein und den Quantenmechanikern auf, indem er versucht, das von Einstein, Podolsky und Rosen formulierte EPR-Paradoxon zu Lasten der Relativitätstheorie auszulegen. Und Scheunemann ist natürlich nicht entgangen, daß es in letzterer Zeit einige quantenmechanische Versuche mit sogenannten verschränkten Lichtteilchen oder superluminarem Tunneln gegeben hat, die in den sensationsgierigen Massenmedien schnell als Beleg für Überlichtgeschwindigkeiten galten. Auf diese beiden ‚Belege’ stützt er sich also.

Exkurs: Nun muß ich leider einige quantenmechanische Betrachtungen anstellen, die viele Leser möglicherweise überfordern wird, denn die Quantenmechanik ist für Laien noch viel schwerer als die Relativitätstheorie (zumindest die spezielle) zu verstehen oder gar anschaulich zu begreifen. Ich versuche, das Wesentlichste so einfach wie möglich zu formulieren, um dann Scheunemanns ‚Beweise’ zu hinterfragen.

Worum geht es beim EPR-Paradoxon? Hintergrund ist die Tatsache, daß die Quantenmechanik eine nicht-lokale Theorie darstellt im Gegensatz zur Relativitätstheorie, die das Lokalitätsprinzip streng beachtet. Mit anderen Worten, in der Relativitätstheorie werden Ereignisse und Wirkungen lokal vermittelt und maximal mit der Lichtgeschwindigkeit gesendet. In der Quantenmechanik hingegen kommen instantane (sofort wirksame) Fernwirkungen vor. Einstein hatte sich mit dieser Eigenart der Quantenmechanik nie abfinden können und sah deshalb die Quantenmechanik nur als vorläufige Arbeitshypothese an. Speziell wandte er ein, daß auch im Bereich der Quantenmechanik Ereignisse und Wirkungen nicht instantan per spukhafter sofortiger Fernwirkung übertragen werden, sondern eine gewisse Zeit benötigen. Dazu ersann er ein Gedankenexperiment, das so benannte EPR-Paradoxon. Es wurde aber z.B. 1982 experimentell zugunsten der Quantenmechanik entschieden und bestätigte die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, die schon 1935 von Niels Bohr und Werner Heisenberg formuliert wurde.[19] Danach gibt es also spukhafte ‚Fernwirkungen’ (nicht zu verwechseln mit Signalübertragung!). Aber von hier zu den von E.S. behaupteten Überlichtgeschwindigkeiten ist es ein tiefer Graben, wie wir noch sehen werden. Das EPR-Experiment hat nur die Quantenmechanik bestätigt und einen Einwand Einsteins entkräftet, aber es sagt noch nichts über die Gültigkeit der Relativitätstheorie selbst aus, denn das war und ist schlicht nicht das Thema des Experiments gewesen.

Ein neben dem Lokalitätsprinzip zweiter extrem wichtiger Unterschied (den Scheunemann nur ungenügend, wenn überhaupt zur Kenntnis nimmt), ist der probabilistische Charakter der Quantenmechanik. Das bedeutet, daß die Quantenmechanik wesentlich eine statistische Theorie ist. Das hat tiefgreifende Konsequenzen für die Deutung der von der Quantenmechanik vorhergesagten Phänomene. Mathematisch werden sowohl Teilchen wie auch Wellen (und anschaulich nicht mehr begreifbare Zwischenzustände) durch sogenannte Schrödinger’sche Wellenfunktionen dargestellt. Der Witz ist: Diese Wellenfunktionen sind selbst NICHT physikalisch real, sondern nur deren Betragsquadrat, und das wiederum auch nur als statistische Wahrscheinlichkeitsgröße. Hier kommt wieder die schon erwähnte Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik ins Spiel. Sie formuliert zwei wichtige Aspekte:

  • 1. Messungen der Wellenfunktionen (eigentlich ihres Betragsquadrats) haben also statistischen Charakter und stellen Wahrscheinlichkeitsaussagen dar, die instantan überall gleichzeitig im Raum gelten. Erst eine Vielzahl von Messungen ermöglicht gewisse statistisch relevante Korrelationen, also Aussagen über Beziehungen zwischen zwei Messgrößen.
  • 2. Messungen beeinflussen das Messergebnis, so daß es keinen a priori vorbestimmten quantenmechanischen Zustand des zu messenden Objekts gibt. Erst im Augenblick der Messung gibt es einen Zustand, vorher ist er vollkommen undefiniert. Die sonst in der klassischen Physik übliche Annahme der strengen Kausalität, nämlich die klare Trennung zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Subjekt und Objekt, ist in der Quantenmechanik de facto aufgehoben. Für marxistisch interessierte Leser: Hier ist die Quantenmechanik meines Erachtens überraschend indeterministisch (von mir nicht als Kritik gemeint!) und vor allem dialektisch.

Eine gute Analogie zum EPR-Paradoxon als Eselsbrücke wäre für den Laien der Vergleich mit zwei Würfeln, die so konstruiert sind, daß sie, wenn sie geworfen werden, stets die gleichen Augenzahlen anzeigen. Werden die Würfel nach ihrer Präparation an zwei verschiedenen Orten geworfen, so dürfte auch dem Laien sofort klar sein, daß kein Signaltransport zur Übertragung der Augenzahl zwischen den Würfeln stattgefunden hat. Lediglich kann z.B. eine Art Scheingeschwindigkeit konstruiert werden, indem der Wegunterschied zwischen den Würfeln durch die Zeitspanne zwischen den Würfelversuchen geteilt wird (und dabei kann durchaus eine scheinbare Überlichtgeschwindigkeit auftreten!). Es wurden in jüngster Zeit ähnliche Experimente mit sogenannten verschränkten Photonen ausgeführt, vergleichbar dem EPR-Experiment von Alain Aspect. Solche quantenmechanischen Gebilde werden übrigens durch EINE Wellenfunktion beschrieben, so daß die scheinbar räumlich getrennten Photonen in der mathematischen Beschreibung der Quantenmechanik lediglich als EIN ausgedehntes Objekt gelten, so daß gar kein Signalaustausch (zwischen verschiedenen Objekten) stattfindet, denn EIN Objekt ‚kommuniziert’ notwendig instantan nur mit sich selbst.[20]

Scheunemann schreibt nun zur Ausnutzung dieses Effekts von verschränkten Photonen[21]:

“Verändere ich dann den Spin des einen Photons, dann ist diese Information instantan,... — insofern der Mensch am anderen Ende weiß, wie er die Umkehrung des Spins ‚seines’ Photons zu interpretieren hat. Die Übertragung dieses Interpretationswissens kann natürlich erst mal nur mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden — aber dies ist eben nur einmal notwendig. Danach kann jede beliebige neue Information instantan übertragen werden.”

Leider hat Egbert Scheunemann den statistischen und zufälligen Charakter der Quantenmechanik nicht wirklich verstanden. Der Spin des einen Photons kann nicht deterministisch verändert werden, um so ein Signal von außen auf das Photon zu übertragen und dann zu hoffen, daß es instantan zu Photon B per spukhafter Fernwirkung ‚übertragen’ wird. Nein, der Spin wird nur gemessen und steht erst danach fest — ganz zufällig in einer Einzelmessung! Das angeblich nur einmal zu übertragende Interpretationswissen (zum Abgleich der Informationen zwischen den Spins beider Photonen) nützt somit nichts. Scheunemann übersieht einen zentralen Punkt der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik (siehe Punkt 2 oben). Selbstverständlich möchte ich noch betonen, daß dieser Aspekt nicht nur ein Deutungsproblem ist, sondern in unzähligen quantenmechanischen Experimenten glänzend bestätigt ist. Ein Spin läßt sich nicht einfach von außen setzen bzw. vorgeben. Es wird stattdessen jedes Mal neu gewürfelt. Somit ist eine Signalübertragung, die ja an der Quelle das gezielte Setzen einer Information notwendig macht, nicht möglich, schon gar nicht instantan. Wohlgemerkt, dies ist eine rein quantenmechanische Argumentation ohne Rückgriff auf die Relativitätstheorie!!! Und wie geht Scheunemann mit solchen Einwänden um? Er schreibt[22]:

“Es scheint inzwischen zum Understatement des Wissenschaftsbetriebes zu gehören, in physisch-empirischen Kontexten, die der grundlegenden Prämisse der SRT (dass c nämlich absolut sei) schreiend widersprechen, irgendwann einen kurzen Kotau vor dieser Theorie und dem großen Meister zu machen — um davor und danach einfach weiter zu argumentieren, wie wenn es eben diese grundlegende Prämisse gar nicht gäbe. Um ein Beispiel zu nennen: Nielsen gründet seine Überlegung über die Möglichkeiten eines Quantencomputers auf das quantenphysikalische Faktum der Verschränkung von Elementarteilchen, also ihrer instantanen Reaktion aufeinander auch dann, wenn diese Teilchen weit voneinander entfernt sind. Urplötzlich liest man dann in seinen Ausführungen: ‚Das verleitet manchmal zu der irrtümlichen Idee, man könnte mittels Verschränkung Signale mit Überlichtgeschwindigkeit senden und auf diese Weise Einsteins Spezielle Relativitätstheorie verletzen; doch das probabilistische Wesen der Quantenmechanik verurteilt solche Versuche zum Scheitern.’ ... Warum und weshalb die Probabilistik zum Scheitern solcher Versuche führen soll, erfahren wir zwar nicht. Aber der Kotau ist vollzogen... Wie gesagt: Wie muss dieses Genie Einstein lasten!”

Natürlich war Nielsens[23] Hinweis auf den probabilistischen[24] Charakter nur sehr kurz, offensichtlich zu kurz und unverständlich für Scheunemann, da nur an ein spezielles Fachpublikum gerichtet. Vielleicht helfen ihm meine obigen Erklärungen ein wenig, obgleich ich Zweifel im Hinblick auf seine Einsichtsfähigkeit hege. So aber sieht es aus, als ob er mit einer ignoranten Oberflächlichkeit den Quantenphysikern (die sich ja nur vor mutwilligen Missinterpretationen schützen wollen) einen Kotau vor Einstein unterstellt. Ich möchte Scheunemann hier wenigstens zugute halten, daß die Quantenmechanik meines Erachtens noch wesentlich schwieriger als die Relativitätstheorie zu begreifen ist und daher Fehltritte bei Laien relativ normal sind. Aber etwas mehr Bescheidenheit und weniger Selbstüberschätzung würden E.S. definitiv besser stehen.

Der zweite von Scheunemann vorgebrachte ‚Beweis’ betrifft die Experimente des Kölner Physikers Günter Nimtz zum superluminaren Tunneln von Photonen durch eine Barriere (hier Wellenleiter). Nimtz verwendete mit Mozart-Melodien (werbewirksam!) modulierte Mikrowellenphotonen und maß, wie die getunnelten Photonen schließlich eine gewisse Wegstrecke zurücklegten. Er veröffentlichte 1994 eine angeblich 4,7-fache Lichtgeschwindigkeit. Gewiß, manche Physiker haben einen Drang nach Medienwirksamkeit, und Nimtz hat dann auch seinen Fernsehauftritt bekommen, in dem er aber teilweise zurückruderte und ausdrücklich feststellte, daß er keineswegs Einstein widerlegt habe. Stattdessen zieht er sich darauf zurück, daß die SRT nur im Vakuum gelte, aber nicht in quantenmechanischen Tunnelwellenleitern. Scheunemann sieht darin wohl nur einen Kotau[25]. Aber Nimtz hat gute Gründe, etwas vorsichtiger als z.B. Galeczki[26] und Marquardt zu sein, nicht weil sich der Wissenschaftsbetrieb gegen Anti-Relativisten verschworen habe und Einsteins Theorien als tabu ansehen würde, sondern vielmehr, weil es sehr starke Argumente gibt, warum die im Nimtz-Experiment beobachteten Überlichtgeschwindigkeiten höchstwahrscheinlich nur Scheingeschwindigkeiten, aber keine Signalgeschwindigkeiten sind.

Auch hier möchte ich dem physikalisch nicht vorgebildeten Leser mit einer bildlichen Analogie als Eselsbrücke helfen. Man nehme eine Schere, die extrem lange Schenkel habe und mit fast Lichtgeschwindigkeit geschlossen wird. Dann ist klar, daß sich der Schenkelpunkt (wo sich die Schenkel trennen) sogar mit Überlichtgeschwindigkeit zu den Scherenenden hin bewegen kann. Aber natürlich ist das nur eine Scheingeschwindigkeit, denn die reale ist die, mit der die Schere geschlossen wird.

Ein ähnliches Phänomen kann mit getunnelten Photonen vorkommen. Die Lichtimpulse werden beim Tunneln stark geschwächt und vor allem so verformt, daß sich das Pulsmaximum innerhalb des Wellenzugs nach vorne verschiebt. Wenn also die Geschwindigkeitsmessung auf das Pulsmaximum bezogen wird, kann dabei eine Überlichtgeschwindigkeit im Vergleich mit einer nicht verformten Referenzwelle auftreten, deren Pulsmaximum weiter hinten liegt, aber die Signalgeschwindigkeit ist nicht einfach auf den Punkt des Maximums im Wellenzug zu beziehen, sondern eher auf den Anfang des Wellenzugs. Eine entsprechende Argumentation liefert z.B. Wallenborn[27], wobei er auch noch die Frage erörtert, wie die verwendeten Detektoren auf Lichtpulse ansprechen (Ansprechverhalten, Schwellwert etc.).

Von all diesen Feinheiten erfahren die Leser von Scheunemanns Buch nichts. Eine ernsthafte wissenschaftliche Erörterung mit Pro und Contra findet nicht statt. Durch die Medien wabernde Sensationsmeldungen über Überlichtgeschwindigkeiten reichen Scheunemann schon als Beweis für ein feststehendes “physisches Faktum”. Dazu bezieht er sich fast nur auf Außenseiter wie Nimtz, Galeczki und Marquardt und erörtert selten und ohne Tiefgang die Gegenargumente anderer Physiker. Wissenschaftliche Seriosität sieht anders aus.

Beispiel: Der Myonen-Zerfall

Und was hat Herr Scheunemann mit seinem Buch gegen einen der stärksten auch für Laien einleuchtenden experimentellen Beweise für die Relativitätstheorie aufzubieten?[28]

“Und genau genommen: Ein noch nicht zerfallenes Myon ist eigentlich keine Uhr (maximal eine, die steht): Es gibt in diesem Zustand quasi noch keinen ‚Zeiger’ (wohl das ‚Ziffernblatt’, nämlich das Myon selbst). [...] — nach dem Zerfall ist es ja weg. Das Myon ist so betrachtet also gar keine Uhr: Vor dem Zerfall fehlt der Zeiger, danach das Ziffernblatt. Was folgt? Genau — nichts. Mit einer Uhr, die bei genauer Betrachtung keine Uhr ist, kann man nichts messen.”

Setzen! Am besten sollte Scheunemann noch einmal zur Universität zurückgehen und erst statistische Physik lernen. Dann kann er hoffentlich zwischen Einzelmessungen und statistischen Messreihen unterscheiden. Selbstverständlich geht es bei der im Ruhesystem beobachteten mittleren Zerfallszeit von 2,2 Mikrosekunden nicht um einzelne Myonen, sondern um die statistische Auswertung von Myonenschauern. Wir wissen nichts über Details des inneren Zerfallsmechanismus von Myonen, weil wir die innere Struktur eines Myons nicht kennen (wird beim gegenwärtigen Erkenntnisstand der Physik als strukturlos behandelt), aber wir wissen, daß sich dieser Mechanismus nach außen als eine mittlere Zerfallszeit manifestiert, die für Myonen charakteristisch ist (also nicht beliebig oder zufällig), nicht von außen manipulierbar ist (schon gar nicht durch “Be- und Entschleunigung”) und — wegen der großen Zahl der Myonen in einem Schauer — auch sehr genau festgelegt ist. Dies ist in völliger Analogie zur ebenfalls statistischen Zerfallszeit von radioaktiven Atomkernen.

Wenn nun Scheunemann so grobe handwerkliche Fehler unterlaufen, sobald er versucht, selber physikalisch zu argumentieren, so bleibt die Frage, ob er sich wenigstens auf “seriös” wirkende Quellen stützen kann. Als fleißiger Quellensammer wird er natürlich fündig, schließlich ist der Wissenschaftsbetrieb nicht homogen, sondern hat immer Platz für Außenseiter. Auch werden ständig in Forschungsarbeiten ungeklärte Fragen aufgeworfen, Spekulationen angestellt und später in Folgeexperimenten überprüft. Das ist nichts Besonderes. So erwähnt Scheunemann kurz einen Versuch von Rossi im Jahre 1940, der inzwischen längst durch Folgeexperimente neu und erfolgreich interpretiert worden ist (nach Analyse der komplizierten Zerfallsprozesse), wo es um die Details des Myonenzerfalls bzw. Mesonenzerfalls[29] in der Atmosphäre geht.[30] E.S. reicht es schon, wenn in irgendeiner älteren Forschungsarbeit mal eine Unklarheit aufgetaucht ist:

“Es ist nach diesen Untersuchungen zu bezweifeln, dass die auf der Erde gefundenen Mesonen tatsächlich in großer Höhe entstanden sind. Wahrscheinlich beruht die ganze Mesonengeschichte auf einem Irrtum.”

Und dann bleibt Scheunemann nur noch der Rückgriff auf die Außenseiter Galeczki und Marquardt, die überhaupt seine Hauptstütze sind[31]:

“’Hingegen ist in Teilchenbeschleunigern beobachtet worden, dass andere Mesonen bei sehr hoher Geschwindigkeit tatsächlich bis zu 26 Millionstelsekunden länger existieren als in Ruhe. Statt gleich ‚Zeitdehnung’ zu rufen, sollte man besser nach physikalischen Ursachen für die Verlangsamung des Zerfalls suchen’ (zitiert nach Galeczki/Marquardt 1997, S.120)”

Da mag an dieser Stelle der unbedarfte Leser denken, na ja, was sind schon die paar Millionstelsekunden (= Mikrosekunden). Und vielleicht will Scheunemann das dem Leser auch so suggerieren, da er die Zahl nicht in den richtigen Zusammenhang stellt. Diese Zeit muß nämlich mit der in Ruhe verglichen werden (zur Erinnerung: 2,2 Mikrosekunden). Das ist also eine kolossale Abweichung von mehr als Tausend Prozent (Zeitdehnungsfaktor 11,81). Messfehler oder statistische Unsicherheiten sind dafür ganz sicher nicht verantwortlich. Auch sind in Teilchenbeschleunigern Myonenquellen und der ganze Versuchsaufbau (räumliche Anordnung, Messung von Myonengeschwindigkeiten und —wegen) wohldefiniert. Die experimentellen Widrigkeiten der Atmosphärenforschung fallen ja weg, auch die Unsicherheiten bezüglich der kosmischen Strahlung. Ideale Laborbedingungen also.

Die Schlußfolgerung von Galeczki und Marquardt im obigen Zitat spricht ebenfalls Bände über die Qualität der Argumentation. Tatsächlich sagen sie damit nur:

a) Zeitdehnung kann nicht in Betracht kommen, da sie nicht sein DARF.

b) Sie wissen nicht, wie die beobachtete massive Zeitdehnung physikalisch erklärt werden kann. Es wird keine Alternative angeboten (nicht einmal ein Hauch davon).

c) Aber es muß irgendwie eine physikalische Ursache da sein, ganz mysteriös/metaphysisch im Reich der (noch nicht angestellten) Spekulation.

Peter Marquardt ist mir persönlich einmal begegnet und antwortete ganz in diesem Sinne sich extrem windend, man könne das Myonen-Experiment im CERN-Teilchenbeschleuniger in Genf zwar mit Zeitdehnung erklären, müsse das aber nicht tun (“Das kann man machen, muss man aber nicht...”).

Worauf stützt sich also Egbert Scheunemann noch mit seinen skeptischen Betrachtungen zum Myonenzerfall? Auf buchstäblich NICHTS.

Schlußbemerkung

Egbert Scheunemann beklagt sich in seiner Gegenkritik am Ende tatsächlich über meinen Tonfall. Das verwundert, wo er selber kräftig nicht nur gegen mich, sondern vorher schon gegen Einstein und nahezu die gesamte Physikszene ohne irgendwelche Rücksichtnahmen austeilt. So könnte ich auch etliche Zitate von Scheunemann anführen als Beweis für verbale Aggressivität. Aber ich halte diese Debatte für fruchtlos. Wenn ich seiner Meinung nach unhöflich geworden sein sollte, so möge er das vielmehr als Bitte betrachten, seinen Irrweg noch einmal gründlich zu überdenken. Schon der alte Marx war rhetorisch wenig zimperlich im Umgang mit politischen Gegnern. Was soll’s? Wir können uns ruhig alle ein dickeres Fell zulegen.

Im übrigen habe ich keineswegs nur kritische Worte für Herrn Scheunemanns Schriften gefunden. So war z.B. meine Bemerkung über seine recht amüsant zu lesende Chronik des neoliberalen Irrsinns ganz ohne Ironie gemeint. Ich finde so ein Vorhaben prinzipiell gut, auch wenn ich hier noch ein Haar in der Suppe finden mag, indem mir die Reduktion des Kapitalismus auf neoliberale Auswüchse zu verkürzt vorkommt (z.B. ist meines Erachtens der militärische Keynesianismus unter den US-Regierungen Bush und Obama mindestens genauso schlimm). Leider hat die Marxistische Initiative momentan nicht die personellen Ressourcen, auch so eine Chronik des kapitalistischen Irrsinns herauszubringen. Also führen Sie, Herr Scheunemann, Ihre Chronik ruhig weiter. Als fleißiger Quellensammler haben Sie Ihre größten Stärken.

Und wie war das noch mal mit Buxtehude und dem Orinoco... Dazu und zu Scheunemanns Anti-Relativismus fällt mir ein Zitat von Heinz Erhardt ein:

“Manche Menschen wollen immer nur glänzen, obwohl sie keinen Schimmer haben.”

[1]hier eigentlich eher eine These, denn eine ausgereifte Theorie als Ersatz für die Relativitätstheorie Einsteins mit dem zugehörigen mathematischen Rüstzeug kann Scheunemann natürlich nicht präsentieren, auch nicht in seinem Buch “Irrte Einstein?”, Books on Demand GmbH Norderstedt, 1. Auflage 2008, www.bod.de
[2]Ebenfalls auf www.marxismus-online.eu als Teil eines Briefwechsels veröffentlicht
[2a]Nachtrag vom 22. Mai und notwendige Klarstellung, um mutwilligen Fehlinterpretationen vorzubeugen: Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, daß Scheunemann selbst eine solche Verschwörungstheorie in die Welt setze, im Gegenteil. Wenigstens das hebt ihn positiv hervor.
[3]siehe ersten Brief vom 26.03. Offensichtlich schreibt er die meisten Physiker zuerst an mit der Bitte, Stellung zu seinen Einwänden gegen die Relativitätstheorie zu beziehen, ein enger Kontakt außerhalb des privaten Freundeskreis sieht im allgemeinen anders aus.
[4]Die Anonymisierung wird durch Scheunemann prahlerisch damit begründet, den Ruf der anonymisierten Physikprofessoren nicht gefährden zu wollen, als ob die betroffenen Physiker sich nicht argumentativ verteidigen könnten. Das ist schade, hätte so mancher Leser doch gerne gewußt, welche Publikationen die erwähnten Professoren sonst noch geschrieben haben. So ist eine Debatte auf wissenschaftlich seriösem Niveau mit Quellenrecherche nicht ernsthaft möglich.
[5]Eine geometrische (asymmetrische) Analogie wäre eine Ebene, die in sich Berge enthält. Manche bewegen sich nur in der Ebene, manche gehen ständig die Berge rauf und runter, der asymmetrische Unterschied springt dann sofort ins Auge. Nur ein kleiner Tipp: Die Berge lösen sich nicht im NICHTS auf, sondern existieren weiterhin...
[6]vgl. das Lokalitätsprinzip der Relativitätstheorie, nach dem instantane Fernwirkungen auszuschließen sind.
[7]Buch “Irrte Einstein?, S.34
[8]Wenn ich eine entsprechende Stelle übersehen haben sollte, so möge E.S. gerne mich darüber aufklären.
[9]Gegenkritik, Abschnitt 3
[10]vgl. auch http://www.wundersamessammelsurium.info/optisches/1stein_fizeau/index.html
[11]http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84ther_%28Physik%29
[12]Buch “Irrte Einstein?”, S. 54
[13]Hier nur spekulativ angenommen, da ich Goenners Lehrwerk nicht gelesen habe, E.S. hat ohnehin auch an anderen Stellen so seine Mühen mit dem Konzept von Zwangskräften oder der parallelen Existenz verschiedener Theorien, die jeweils das gleiche Phänomen beschreiben können.
[14]vgl. http://www.relativitaetsprinzip.info/experimente/hafele-keating.html, Anti-Relativisten weisen hier zwar auf statistische Ungenauigkeiten und Messfehler hin, aber dieser Widerlegungsversuch ist erstens fragwürdig, da sehr wohl die Verwendung mehrerer miteinander fortlaufend synchronisierter Atomuhren die Messgenauigkeit erhöht (Anwendung der Fehlerrechnung, die Physiker schon im Grundstudium lernen!) und zweitens obsolet, weil inzwischen genauere Messdaten vorliegen (z.B. im Maryland-Experiment oder bei GPS-Satelliten).
[15]Im Zwillingsparadoxon bestreitet Scheunemann das natürlich. Ein weiteres Beispiel für Widersprüche.
[16]In seinem Buch behauptet E.S., die GPS-Satelliten würden die absolute Zeit beweisen, indem er die Anwendung der Relativitätstheorie als “Herausrechnen” von “Beobachtungseffekten” (nämlich die relativistisch langsamere Zeit an Bord der GPS-Satelliten) und Zurückführen auf eine absolute Zeit interpretiert. Die so definierte absolute Zeit wäre tatsächlich die der Menschen auf der Erdoberfläche. Neckische Gegenfrage: Will E.S. das ptolemäische Weltbild vor Kopernikus wieder einführen, also die Erde als Mittelpunkt der Welt?
[17]“Irrte Einstein?”, S. 84-91, seitenlang bemüht E.S. nur das fragwürdige Gleichnis vom Ziffernblatt, bleibt stets phänomenologisch an der Oberfläche und behauptet letztlich eine Uhrenmanipulation irgendwie durch einen mysteriösen Energieübertrag. Bis zur These der Uhrenmanipulation durch Handauflegen ist es nicht mehr weit.
[18]“Irrte Einstein?”, S. 122
[19]Zum Experiment 1982 siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Alain_Aspect, eine allgemeine Kurzeinführung bietet Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/EPR-Effekt#Das_EPR-Experiment_als_Paradoxon
[20]Eine sehr schöne Darstellung findet sich unter: http://www.weltderphysik.de/de/1517.php
[21]“Irrte Einstein?”, S. 123
[22]“Irrte Einstein?”, S. 127, Fußnote
[23]Nielsen ist ein australischer Physiker, der an Quantencomputern arbeitet
[24]probability = Wahrscheinlichkeit
[25]“Irrte Einstein?”, S. 126-127, Fußnote 5
[26]eine kritische Charakterisierung des Physikers Galeczki findet sich unter: http://www.relativ-kritisch.net/blog/kritiker/georg-galeczki, interessanterweise haben sowohl Nimtz wie auch Galeczki und Marquardt einst zusammengearbeitet, allerdings distanziert sich Nimtz von seinen ehemaligen Schülern
[27]http://theory.gsi.de/~vanhees/faq/nimtz/nimtz.html
[28]“Irrte Einstein?”, S. 92-93
[29]Mesonen sind eine Oberklasse von Myonen in der Elementarteilchenphysik.
[30]vgl. http://iktp.tu-dresden.de/IKTP/Seminare/HS2006_7/anders.pdf
[31]“Irrte Einstein?”, S. 93