Diskussionsbeitrag zur Frage der Arbeiterregierung

Liebe Genossinnen und Genossen,

es wurde zum Konzept der Arbeiterregierung in unserem Programm die folgende Frage aufgeworfen, und zwar zum "Abschnitt "Für eine Arbeiterregierung!":

Ist die Arbeiterregierung (also eine Regierung von z.T. reformistischen Arbeiterparteien im Rahmen des Parlamentarismus) tatsächlich eine notwendige Vorstufe zur Rätemacht?"

Natürlich nicht! In der Komintern-Terminologie der zwanziger Jahre wurde der Begriff "Arbeiterregierung" immer auch als Synonym für eine Regierung benutzt, die den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im eigentlichen Sinne organisiert, d.h. letztlich als Synonym für die politische Diktatur des Proletariats, die durch die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur sozialen Klassenherrschaft wird.

In diesem Sinne handelt es sich um die klassischste aller Übergangslosungen. Sie steht logisch im Zentrum eines Übergangsprogramms. Ohne den Willen zur Machteroberung und ohne den kollektiven Willen der Arbeiterklasse zur Machtausübung kann es keinen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus geben. Sie durfte daher auch in unserem Aktionsprogramm nicht fehlen - auch, wenn sie auf absehbare Zeit nur propagandistische Bedeutung hat. Aber ohne diese Losung fehlt die strategische Zielführung, stehen Übergangslosungen nur unsystematisch nebeneinander. Eine solche Regierung muß nicht nur aus Kommunisten bestehen.

Eine solche Arbeiterregierung kann, wie im Falle Rußlands 1917 mit den linken Sozialrevolutionären, auch eine Koalitionsregierung mit kleinbürgerlichen oder zentristischen Parteien sein, muß aber natürlich nicht.

In der trotzkistischen Debatte wurde dieser Begriff z.T. auch angewandt auf nicht-revolutionär-marxistische Parteien, die trotz ihrer ideologischen Beschränktheiten im Verlauf von Klassenauseinandersetzungen mit der Bourgeoisie brachen, sich an die Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse heranwagten und sich im Verlauf dieser Umwälzung selbst ideologisch veränderten. Wichtigstes Beispiel hierfür: Kuba...

Wie in Deutschland eine Arbeiterregierung im o.g. Sinne zustandekommen kann, läßt sich beim gegenwärtigen Klassenkampfniveau nicht bestimmen. Aber die propagandistische Verwendung des Konzepts der Arbeiterregierung ist m.E. unverzichtbar, damit sich die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse ihrer zentralen politischen Aufgabenstellung bewußt werden.

Bis hierhin hätte übrigens auch die (sinowjewistische) Linke der KPD um Ruth Fischer und Hugo Urbahns mitgespielt, die den Begriff der Arbeiterregierung immer nur in diesem beschriebenen Sinne akzeptiert hat - aber jede Art der Konkretisierung abgelehnt hat. Im oben beschriebenen Sinne, der der Formulierung im Programmentwurf zugrundeliegt, hat es in der Komintern bis zum Vierten Weltkongreß überhaupt keine Differenz gegeben. Die Konkretisierung auf der taktischen Ebene war das Problem. Konsequenterweise hat die sinowjewistische KPD-Linke die entsprechenden konkreten Beschlüsse der Komintern immer abgelehnt, was Lenin und Trotzki veranlaßte, sich als "Rechte" zu bekennen. Im Kern leugnete die KPD-Linke, die enge Verbundenheit von Einheitsfrontpolitik und dem Konzept der Arbeiterregierung. Die Losung der Arbeiterregierung sollte nur ein populärer Ausdruck für die Diktatur des Proletariats sein. Sie ist aber grundsätzlich mehr.

Das Konzept kann natürlich nicht in jeder Lage taktisch konkretisiert werden, sondern nur in zugespitzten Klassenkampfsituationen, in denen zentristische und manchmal selbst sozialdemokratische, notorisch opportunistische Parteien von Sozialismus oder Revolution zu reden pflegen (wie z.B. in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg) und entsprechende Illusionen verbreitet sind. Heute wäre z.B. die Forderung nach einer rot-roten Koalition oder einer Regierung "links von der Mitte" offener Verrat am Sozialismus, Unterstützung für das Projekt der neoliberale Parteirechten der Linkspartei/PDS und die sozialdemokratischen Führungsbürokraten der WASG, die von einer Erneuerung der Sozialdemokratie besserer Tage träumen. Wir werden deren illusorischen Konzepte politisch weder unterstützen, sondern bekämpfen. Eine Form dieses Kampfes kann die Gegenüberstellung zwischen dem Programm einer solchen Koalition und dem Programm einer (wünschenswerten) Arbeiterregierung sein. Es spricht auch nichts dagegen, von diesen Regierungen wenigstens die Durchführung solcher Reformen zu fordern, die die Massen tatsächlich von ihnen erwarten oder die sie selbst versprochen haben.

Solche (bürgerlichen) Koalitionsregierungen sind überhaupt keine notwendige Zwischenetappe zum Sozialismus. Sie kommen ohne unser zutun zustande. Unsere Aufgabe besteht dann darin, den Prozeß der von solchen Regierungen betriebenen "Entzauberung" ihrer Koalitionsparteien aktiv zu unterstützen. Es gilt für uns dabei das gar nicht bescheidene Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen. Mit weniger als diesem Ziel geben wir uns nicht zufrieden.

Die Einheitsfrontpolitik ist auch eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Räten. Wenn Räte als Massenorganisationen und nicht als Karikatur auf Räte entstehen sollen, d.h. wenn sie die große Masse des Proletariats umfassen sollen, müssen an ihnen bewußtseinsmäßig ganz unterschiedliche Strömungen der Arbeiterklasse teilnehmen. Räte sind insofern immer auch der organisatorische Ausdruck der Einheitsfront (=Klassenfront des Proletariats). Sie müssen keineswegs von Anfang an mit einer revolutionären Mehrheit gesegnet sein. Und wenn es den Marxisten in den Räten nicht gelingt, dort zur Mehrheit zu werden, gehen die Räte notwendig zugrunde und es siegt die Konterrevolution.

Räte können bereits vor der Bildung von (scheinbaren oder revolutionären) Arbeiterregierungen entstehen. Es kann neben aktiven Räten auch gleichzeitig Koalitionsregierungen von zentristischen und opportunistischen, scheinbaren Arbeiterparteien geben, die die Konterrevolution gegen die Räte betreiben. In solchen Fällen könnte von einer notwendigen Etappe gar keine Rede sein. Denkbar wäre jedoch auch, daß eine solche Regierung auf Druck zunächst einer Mehrheit in Räten gebildet wird. Schließlich könnte eine solche Regierung (muß aber nicht) in einer schweren Krise der bürgerlichen Gesellschaft (mit Streiks und Massendemonstrationen) zustandekommen, ohne daß sich zuvor Räte herausbilden, weil die Reformisten alles tun werden, um die Entstehung von Räten zu sabotieren. Alle Varianten sind möglich. Wir werden uns also vor jedem strategischen Schematismus hüten müssen und unsere Köpfe anstrengen müssen..

Zurück zum Programmentwurf. Er beschränkt sich auf die die Benennung unseres strategischen Ziels der Schaffung einer Arbeiterregierung und er benennt das wichtigste strategisch-taktische Mittel auf dem Weg zu dieser Regierung, die Einheitsfrontpolitik (nicht zu verwechseln mit Einheit um jeden Preis und schon gar nicht mit Dauereinheitsgefasel). Angesichts des noch immer unterentwickelten Klassenkampfs erscheint das zur Zeit angemessen. Aufgabe des Programms ist es nicht, science fiction zu betreiben. Aber der strategische Ansatz wird durch das eigentliche Aktionsprogramm inhaltlich untersetzt und dynamisiert.

Dieter Elken, Strausberg, 15.12.05

Anhang:

Thesen über die Taktik der Komintern (Auszug)[1]:

7. Die Lage innerhalb der Arbeiterbewegung.

In der gleichen Zeit, in der infolge der Offensive des Kapitals die Arbeiterklasse in eine Defensivstellung getrieben wird, vollzieht sich die Annäherung und schließlich die Verschmelzung der Parteien des Zentrums (Unabhängige) mit den offenen Sozialverrätern (Sozialdemokraten). In der Zeit des revolutionären Aufstieges erklärten sich unter dem Druck der Massenstimmung selbst die Zentristen für die Diktatur des Proletariats und suchten den Weg zur 3. Internationale. Mit der absteigenden Welle der Revolution, die aber nur vorübergehend ist, fallen diese Zentristen wieder in das Lager der Sozialdemokraten zurück, von dem sie sich innerlich nie gelöst hatten. Sie, die in den Zeiten revolutionärer Massenkämpfe stets eine zögernde und schwankende Haltung einnahmen, versagen jetzt in den Abwehrkämpfen und kehren in das Lager der 2. Internationale zurück, die immer bewußt antirevolutioriär war. Die zentristischen Parteien und die ganze zentristische Internationale 21/2 sind im Zerfall begriffen. Der beste Teil der revolutionären Arbeiter, der vorübergehend im Lager des Zentrismus stand, wird mit der Zeit zur Kommunistischen Internationale übergehen. Hier und da hat dieser übergang bereits begonnen (Italien). Die überwiegende Mehrheit der zentristischen Führer, die sich jetzt mit Noske, Mussolini usw. verbinden, werden dagegen zu erbitterten Konterrevolutionären werden.

Objektiv kann die Verschmelzung der Partei der 2. und 2 ½ Internationale für die revolutionäre Arbeiterbewegung nur von Nutzen sein. Die Fiktion einer zweiten, außerhalb des kommunistischen Lagers stehenden revolutionären Partei verschwindet. In der Arbeiterklasse werden nur noch zwei Gruppierungen miteinander um die Mehrheit der Arbeiter ringen: die 2. Internationale, die den Einfluß der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterschaft darstellt, und die 3. Internationale, die das Banner der sozialistischen Revolution und der Diktatur des ‚ Proletariats erhoben hat.

8. Die Spaltung der Gewerkschaften und die Vorbereitung des weißen Terrors gegen die Kommunisten.

Die Vereinigung der Parteien der 2. und 2 ½ Interntionale hat zweifellos zur Aufgabe, eine “günstige Atmosphäre” für den systematischen Feldzug gegen die Kommunisten vorzubereiten. Ein Teil dieses Feldzuges ist die planmäßige Spaltung der Gewerkschaften durch die Führer der Amsterdamer Internationale. Die Amsterdamer schrecken vor jedem Kampfe gegen die Offensive des Kapitals zurück und setzen vielmehr ihre arbeitsgemeinschaftliche Politik mit den Unternehmern fort. Um nicht von den Kommunisten in diesem Bündnis mit dem Unternehmertum gestört zu werden, versuchten sie, den Einfluß der Kommunisten in den Gewerkschalten planmäßig auszuschalten. Da die Kommunisten trotzdem in vielen Lindern bereits die Mehrheit in den Gewerkschaften erobert haben oder zu erobern im Begriff sind, schrecken die Amlterdamer weder vor Ausschlüssen, noch vor formellen Spaltungen der Gewerkschaften zurück. Nichts schwächt die Kräfte des proletarischen Widerstandes gegen die Offensive des Kapitals, wie die Spaltung der Gewerkschaften. Das wissen auch die reformistischen Führer der Gewerkschaften. Da sie aber merken, daß sie den Boden unter den Füßen verlieren und daß ihr Bankrott unvermeidlich und nahe ist, beeilen sie sich, die Gewerkschaften, dieses unersetzliche Werkzeug des proletarischen Klassenkampfes, zu spalten, damit die Kommunisten als Erbteil nur noch die Scherben und Splitter der alten Gewerkschaftsorganisationen übernehmen können. Einen schlimmeren Verrat hat die Arbeilerklasse seit dem August 1914 nicht gesehen.

9. Die Aufgaben der Eroberung der Mehrheit.

Unter diesen Umständen bleibt die grundlegende Anweisung des 3. Weltkongresses, einen kommunistischen Einfluß unter der Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen und den entscheidenden Teil dieser Klasse in den Kampf zu führen”, voll bestehen.

Noch mehr als zur Zeit des dritten Kongresses hat heute die Auffassung Gültigkeit, daß bei dem jetzigen labilen Gleichgewicht der bürgerlichen Gesellschaft ganz plötzlich die schärfste Krise ausgelöst werden kann infolge eines großen Streiks, eines Kolonialaufstandes, eines neuen Krieges oder selbst einer Parlamentskrise. Aber gerade deshalb gewinnt der “subjektive” Faktor ungeheure Bedeutung, d. h. der Grad des Selbstbewußtseins, des Kampfeswillens und der Organisation der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde.

Die Mehrheit der Arbeiterklasse Amerikas und Europas zu ge- winnen, das ist nach wie vor die Kardinalaufgabe der Komintern.

In den kolonialen und halbkolonialen Ländern hat die Komintern zweierlei Aufgaben: 1. einen Kern von kommunistischen Parteien zu schaffen, die die Gesamtinteressen des Proletariats vertreten, und 2. mit allen Kräften die national-revolutionäre Bewegung zu unterstützen, die sich gegen den Imperialismus richtet, zur Avantgarde dieser Bewegung zu werden und innerhalb der nationalen Bewegung die soziale Bewegung hervorzuheben und zu steigern.

10. Taktik der Einheitsfront.

Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit der Taktik der Einheltsfront. Die Losung des 3. Kongresses “zu den Massen” hat jetzt mehr denn je Gültigkeit. Erst jetzt beginnt der Kampf um die Bildung der proletarischen Einheitsfront in einer gröBeren Zahl von Ländern. Erst jetzt beginnt man auch die Schwierigkeiten der Taktik der Einheitsfront zu überwinden. Als bestes Beispiel kann Frankreich dienen, wo der Gang der Ereignisse auch diejenigen, die noch vor kurzem prinzipielle Gegner dieser Taktik waren, von der Notwendigkeit der Anwendung dieser Taktik überzeugte. Die Komintern fordert, daß alle kommunistischen Parteien und Gruppen die Taktik der Einheitsfront auf das Strengste durchführen, weil sie allein in der gegenwärtigen Periode den Kommunisten den sicheren Weg zur Eroberung der Mehrheit der Werktätigen weist.

Die Reformisten brauchen jetzt die Spaltung. Die Kommunisten sind an der Zusammenfassung aller Kräfte der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus interessiert.

Die Taktik der Einheitsfront bedeutet das Vorangehen der kommunistischen Avantgarde in den täglichen Kämpfen der breiten Arbeitermassen um ihre notwendigsten Lebensinteressen. In diesem Kampfe sind die Kommunisten sogar bereit, mit den verräterischen Führern der Sozialdemokraten und der Amsterdamer zu unterhandeln. Die Versuche der 2. Internationale, die Einheitsfront als organisatorische Verschmelzung aller “Arbeiterparteien” hinzustellen, sind selbstverständlich auf das Entschiedenste zurückzuweisen. Die Versuche der 2. Internationale, unter dem Deckmantel der Einheitsfront die weiter linksstehenden Arbeiterorganisationen aufzusaugen (Vereinigung der S. P. und U. S. P. in Deutschland), bedeuten in der Tat nichts anderes, als die Möglichkeit für die sozialdemokratischen Führer, neue Teile der Arbeitermassen an die Bourgeoisie auszuliefern.

Die Existenz selbständiger kommunistischer Parteien und deren vollständige Aktionsfreiheit gegen die Bourgeoisie und gegen die konterrevolutionäre Sozialdemokratie Ist die wichtigste historische Errungenschaft des Proletariats, auf die die Kommunisten unter keinen Umständen verzichten werden. Die kommunistischen Parteien allein verfechten die Interessen des gesamten Proletariats.

Die Taktik der Einheitsfront bedeutet auch keinesfalls sogenannte “Wahlkombinationen” der Spitzen, die diese oder jene parlamentarischen Zwecke verfolgen. Die Taktik der Einheitsfront ist das Angebot des gemeinsamen Kampfes der Kommunisten mit allen Arbeitern, die anderen Parteien oder Gruppen angehören, und mit allen parteilosen Arbeitern zwecks Verteidigung der elementarsten Lebensinteressen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Jeder Kampf um die kleinste Tagesforderung bildet eine Quelle revolutionärer Schulung, denn die Erfahrungen des Kampfes werden die Werktätigen von der Unvermeidlichkeit der Revolution und der Bedeutung des Kommunismus überzeugen.

Eine besonders wichtige Aufgabe bei der Durchführung der Einheitsfront ist die Erreichung nicht nur agitatorischer, sondern auch organisatorischer Resultate. Keine einzige Gelegenheit darf verpaßt werden, um in der Arbeitermasse selbst organisatorische Stützpunkte (Betriebsräte, Kontrollkommissionen aus Arbeitern aller Parteien und Parteilosen, Aktionskomitees usw. zu schaffen.

Das Wichtigste in der Taktik der Einheitsfront ist und bleibt die agitatorische und organisatorische Zusammenfassung der Arbeitermassen. Der wirkliche Erfolg der EInheitsfronttaktik erwächst von “unten”, aus den Tiefen der Arbeitermaaae selbst. Die Kommunisten können dabei aber nicht darauf verzichten, unter gewissen Umständen auch mit den Spitzen der gegnerischen Arbeiterparteien zu unterhandeln. Über den Gang dieser Unterhandlungen müssen die Massen jedoch dauernd und vollkommen unterrichtet sein. Die Selbständigkeit der Agitation der Kommunistischen Partei darf auch während der Verhandlungen mit den Spitzen keinesfalls eIngeschränkt werden.

Es versteht sich von selbst, daß je nach den konkreten Bedingungen die Taktik der Einheitsfront in den verschiedenen Ländern in verschiedener Form anzuwenden ist. Aber dort, wo in den wichtigsten kapitalistischen Ländern die objektiven Verhältnisse für die sozialistische Umwälzung reif sind und wo - von konterrevolutionären Führern geleitet -die sozialdemokratischen Parteien bewußt auf die Spaltung der Arbeiterschaft hinarbeiten, wird die Taktik der Einheitsfront für eine neue Epoche maßgebend sein.

11. Die Arbeiterregierung.

Als allgemeine propagandistische Parole ist die Arbeiterregierung (evtl. Arbeiter- und Bauernregierung) fast überall zu gebrauchen. Als aktuelle politische Losung aber hat die Arbeiterregierung die größte Bedeutung in denjenigen Ländern, wo die Lage der bürgerlichen Gesellschaft besonders unsicher ist, wo das Kräfteverhältnis zwischen den Arbeiterparteien und der Bourgeoisie die Entscheidung der Regierungsfrage als praktische Notwendigkeit auf die Tagesordnung setzt. In diesen Ländern ergibt sich die Losung der Arbeiterregierung als unvermeidliche Schlußfolgerung aus der ganzen Taktik der Einheitsfront.

Die Parteien der 2. Internationale versuchen, in diesen Ländern die Lage dadurch zu “retten”, daß sie eine Koalition der Bürgerlichen und der Sozialdemokraten propagieren und verwirklichen. Die neuesten Versuche einiger Parteien der 2. Internationale (z. B. in Deutschland), eine offene Teilnahme an einer solchen Koalitionsregierung abzulehnen und sie gleichzeitig in versteckter Form durchzuführen, bedeuten nichts anderes, als ein Beschwichtigungsmanöver gegenüber den protestierenden Massen, als einen raffinierten Betrug der Arbeitermassen. Einer offenen oder maskierten bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition stellen die Kommunisten die Einheitsfront aller Arbeiter und eine Koalition aller Arbeiterparteien auf ökonomischem und politischem Gebiete zum Kampfe gegen die bürgerliche Macht und zu ihrem schließlichen Sturz gegenüber. Im vereinten Kampfe aller Arbeiter gegen die Bourgeoisie soll der ganze Staatsapparat in die Hände der Arbeiterregierung gelangen, und dadurch sollen die Machtpositionen der Arbeiterklasse gestärkt werden. Die elementarsten Aufgaben einer Arbeiterregierung müssen darin bestehen, das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Steuern auf die Schultern der Reichen abzuwälzen und den Widerstand der konterrevolutIonaren BourgeoIsie zu brechen.

Eine solche Arbeiterregierung ist nur möglich, wenn sie aus dem Kampfe der Massen selbst geboren wird, sich auf kampffähige Arbeiterorgane stützt, die von den untersten Schichten der unterdrückten Arbeitermassen geschaffen werden. Auch eine Arbeiterregierung, die einer parlamentarischen Konstellation entspringt, die also rein parlamentarischen’ Ursprungs ist, kann den Anlaß zu einer Belebung der revolutionären Arbeiterbewegung geben. Es ist selbstverständlich, daß die Geburt einer wirklichen Arbeiterregierung und die weitere Aufrechterhaltung einer Regierung, die revolutionäre Politik betreibt, zum erbittertsten Kampf, eventuell zum Bürgerkrieg mit der Bourgeoisie führen muß. Schon der Versuch des Proletariats, eine solche Arbeiterregierung zu bilden, wird von vornherein auf den scliärfsten Widerstand der Bourgeoisie stoßen. Die Losung der Arbeiterregierung ist daher geeignet, das Proletariat zusammenzuschließen und revolutionäre Kämpfe auszulösen.

Die Kommunisten müssen sich unter Umständen bereit erklären, zusammen mit nichtkommunistischen Arbeiterparteien und Arbeiterorganisationen eine Arbeiterregierung zu bilden. Sie können das aber nur dann tun, wenn Garantien dafür vorhanden sind, daß die Arbeiterregierung wirklich einen Kampf gegen das Bürgertum im oben angegebenen Sinne führen wird. Dabei bestehen die selbstverständlichen Bedingungen der Teilnahme der Kommunisten an einer solchen Regierung darin, daß:

1. die Teilnahme an einer Arbeiterregierung nur mit Zustimmung der Komintern, erfolgen kann;

2. die kommunistischen Teilnehmer an einer solchen Regierung unter der strengsten Kontrolle ihrer Partei stehen;

3. die betreffenden kommunist.ischen Teilnehmer an dieser Arbeiterregierung In engster Fühlung mit den revolutionaren Organisationen der Massen stehen;

4. die Kommunistische Partei ihr eigenes Gesicht und die volle Selbständigkeit ihrer Agitation unbedingt behält.

Bei allen großen Vorteilen hat die Arbeiterregierungsparole auch ihre Gefahren, ebenso wie die gesamte Taktik der Einheitsfront Gefahren in sich birgt.. Um diesen Gefahren vorzubeugen, müssen die kommunistischen Parteien folgendes ins Auge fassen: Jede bürgerlicbe Regierung ist zugleich eine kapitalistische Regierung. Aber nicht jede Arbeiterregierung ist eine wirklich proletarische, d. h. ein revolutionäres Machtinstrument des Proletariats. Die Kommunistische Internationale muß folgende Möglichkeiten berücksichtigen:

1. liberale Arbeiterregierung: eine solche gab es in Australien, eine solche Regierung wird auch in absehbarer Zeit in England möglich sein,

2. sozialdemokratische Arbeiterregierung (Deutschland),

3. Regierung der Arbeiter und ärmeren Bauern. Eine solche Möglichkeit besteht auf dem Balkan, in der Tschechoslowakei, Polen, usw.,

4. Arbeiterregierung mit Teilnahme der Kommunisten.

5. Wirkliche proletarische Arbeiterregierung, die in reiner Form nur durch die Kommunistische Partei verkörpert werden kann.

Die ersten beiden Typen sind keine revolutionären Arbeiterregierung, sondern in Wirklichkeit verkappte Koalitionsregierungen zwischen Bourgeoisie und antirevolutionären Arbeiterführem. Solche “Arbeiterregierungen” werden in kritischen Zeiten von der geschwächten Bourgeoisie geduldet, um das Proletariat über den wahren Klassencharakter des Staates zu täuschen oder sogar mit Hilfe der korrumpierten Arbeiterführer den revolutionären Ansturm des Proletariats abzuwehren und Zeit zu gewinnen. Die Kommunisten können sich an einer solchen Regierung nicht beteiligen. Sie müssen im Gegenteil den wahren Charakter dieser “falschen” Arbeiterregierung unerbittlich vor den Massen entlarven. In der gegebenen Niedergangsperiode des Kapitalismus, wo die wichtigste Aufgabe darin besteht, die Mehrheit des Proletariats für die proletarische Revolution zu gewinnen, können aber auch diese Regierungen objektiv dazu beitragen, den Zersetzungsprozeß der bürgerlichen Gewalt zu beschleunigen.

Die Kommunisten sind bereit, auch mit jenen Arbeitern zu marschieren, die die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats noch nicht erkannt haben, mit sozialdemokratischen, christlichen, parteilosen, syndikalistischen usw. Die Kommunisten sind also auch bereit, unter gewissen Garantien eine nichtkommunistische Arbeiterregierung zu unterstützen.. Die Kommunisten erklären aber der Arbeiterschaft unter allen Umständen offen, daß nur die Diktatur des Proletariats der Arbeiterklasse die wirkliche Befreiung sichert.

Die zwei weiteren Typen der Arbeiterregierung (Ziffer 3 und 4), an denen die Kommunisten teilnehmen können, bedeuten noch nicht die Diktatur des Proletariats, sie sind nicht einmal eine geschichtlich unvermeidliche Übergangsform der Diktatur, aber sie können dort, wo sie zustandekommen, einen Ausgangspunkt zur Erkämpfung dieser Diktatur bilden. Die vollendete Diktatur des Proletariats ist nur diejenige wirkliche Arbeiterregierung (Ziffer 5). die aus Kommunisten besteht.

13. Betriebsrätebewegung.

Keine kommunistische Partei kann als ernsthafte und solide organisierte kommunistische Massenpartei betrachtet werden, wenn sie keine festen kommunistischen Zellen in den Betrieben, Fabriken, Bergwerken, Eisenbahnen usw. hat. Eine Bewegung kann unter den jetzigen Verhältnissen nicht als planmäßig organisierte prolriarische Massenbewegung betrachtet werden, wenn es der Arbeiterklasse und ihren Organisationen nicht gelingt, Betriebsausschüsse als Rückgrat dieser Bewegung zu schaffen. Insbesondere ist der Kampf gegen die Offensive des Kapitals und für die Kontrolle der Produktion aussichtslos, wenn die Kommunisten nicht über feste Stützpunkte in allen Betrieben verfügen und wenn die Arbeiterschaft sich nicht ihre eigenen proletarischen Kampforgane in den Betrieben (Betriebsräteausschüsse, Arbeiterräte) geschaffen hat.

Der Kongreß betrachtet es daher all eine der Hauptaufgabe aller kommunistischen Parteien, sich mehr als bisher in den Betrieben zu verankern und die Betriebsrätebewegung zu unterstützen oder die Initiative zur Bildung dieser Bewegung zu ergreifen.


[1]Quelle: Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Moskau vom 5. November bis 5. Dezember 1922), Herausgegeben vom Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, 1923, S. 6 ff