Programmdebatte:

Ist heute ein Übergangsprogramm machbar

und was sind seine Voraussetzungen?

Eine Antwort auf eine Kritik türkischer Genossen

am Aktionsprogramm der Marxistischen Initiative.

Die Kritik[1] der Genossen der türkischen "Bewegung proletarisch permanente Revolution" am Aktionsprogramm der Marxistischen Initiative ist uns willkommen. Wir hoffen, daß ihr Papier "Eine Kritik der Marxistischen Initiative" zum Ausgangspunkt einer fruchtbaren und solidarischen Debatte wird.

Die Kritik beleuchtet aber auch eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten bezüglich wichtiger Fragen marxistischer Politik, nämlich der Haltung zu den Organisationen der internationalen trotzkistischen Bewegung und anderen Strömungen der Arbeiterbewegung, der Organisationsfrage sowie den Fragen danach, was ein Übergangsprogramm ist und welche Rolle ein solches Übergangsprogramm einnehmen soll. Ohne Kritik der programmatischen Grundlagen, der Organisationen und der Praxis der diversen trotzkistischen Bewegungen, so die These der Genossen, könne ein Neuanfang nicht gemacht werden. Die Genossen sind zudem der Ansicht, daß die Marxistische Initiative die "Problematik des Programms nicht im Kontext der dialektischen Beziehung zwischen Organisation/Bewegung und Praxis" behandelt. Sie bemängeln schließlich, daß das Programm nicht aufzeigt, worin es sich von anderen Programmen unterscheidet.

Ich gehe davon aus, daß diese Kritik teils auf Mißverständnissen beruht, teils auf einer falschen Konzeption hinsichtlich der Voraussetzungen der Erarbeitung eines Programms, bezüglich der Rolle eines Programms im Klassenkampf und beim Organisations- bzw. Parteiaufbau. Die Genossen führen nicht einmal ansatzweise aus, worin denn ihrer Ansicht nach die dialektische Beziehung zwischen Programm, Organisation, Bewegung und Praxis bestehen und wie sie sich entwickeln soll. Sie erklären auch nicht, was derartige Ausführungen in einem Aktionsprogramm zu suchen hätten. Sie mystifizieren die Probleme des Parteiaufbaus anstatt sich ihnen zu stellen.

Wie entsteht ein marxistisches Programm?

Marxistische Programme sind zunächst das Resultat der Analyse des Kapitalismus, seiner Entwicklung einschließlich der Entwicklung seiner Widersprüche und der Entwicklung der Klassenkämpfe. Sie sind das u. a. das Ergebnis solcher Analysen bzw. Einschätzungen, müssen diese Einschätzungen aber nicht oder nur in Andeutungen oder allenfalls in Kurzform enthalten.

Sie ziehen - davon ausgehend - die zentralen Schlußfolgerungen aus einer solchen Analyse, nämlich daß die Arbeiterklasse das kapitalistische System schnellstmöglich stürzen muß, um damit ihre eigene Befreiung als Voraussetzung der Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu verwirklichen. Und unter Berücksichtigung der Analyse auch der Erfahrungen des weltweiten Klassenkampfs werden in marxistischen Programmen die unmittelbaren Bedürfnisse und strategisch wichtigen Kampfziele der Arbeiterklasse sowie gegebenenfalls weiterer unterdrückter und ausgebeuteter Klassen formuliert, die es der Arbeiterklasse und eventuellen Bündnispartnern ermöglichen, ihre Selbstbefreiung schnellstmöglich durchzusetzen.

Marxistische Programme sind insofern dem Anspruch nach das Produkt wissenschaftlicher Analysen. Nicht nur das Ergenis von Analysen der jeweiligen unmittelbaren Autoren, sondern zuvor der Analysen und der wissenschaftlichen Arbeit der großen Theoretiker der marxistischen Arbeiterbewegung. Diese analytische Arbeit wird ständig fortgeschrieben und ist daher niemals "fertig", geschweige denn auch nur annähernd "vollständig".

Gleichwohl ist die Betonung des wissenschaftlichen Charakters marxistischer Programme wichtig, weil diese Analysen nicht das spontane Resultat des von den kapitalistischen Verhältnissen geprägten Bewußtseins der Arbeiterklasse und schon gar nicht des Bewußtseins anderer Klassen sein können, auch nicht das Resultat von Bewegungen. Sie sind, aber nur, wenn sie auf im wesentlichen richtigen Analysen beruhen, Ausdruck der objektiven Bedrüfnisse des proletarischen Klassenkampfs.

Der Zusammenhang der marxistischen Programme mit der Arbeiterbewegung und/oder politischen Bewegungen ist demzufolge niemals so, daß diese Programme von irgendwelchen Bewegungen direkt formuliert werden könnten, sondern daß diese Programme auf der subjektiven Ebene immer nur das politische Bewußtsein von Teilen der diversen politischen Bewegungen repräsentieren können. Sie tun das aktiv nur vermittelst der politischen Praxis derjenigen Kräfte, die sich dieses Programm zu eigen gemacht haben, die es propagieren, die für die in ihm formulierten Ziel kämpfen, und für sie werben, sie erläutern und gegebenenfalls dem Bewußtsein der jeweiligen Lage entsprechend umformulieren können.

Mit anderen Worten: Marxistische Programme sind zunächst und in allererster Linie die Programme der Marxisten selbst. Sie sind Leitschnur ihres Handelns. Zum subjektiven Programm der Arbeiterklasse oder relevanten Teilen der Arbeiterklasse müssen sie erst gemacht werden. Dritten gegenüber geben sie Auskunft darüber, welche Ziele die Marxisten verfolgen. Mehr nicht.

Schließlich sollten marxistische Programme in Grundzügen enthalten, mit welchen Mitteln die marxistische Organisation ihr Programm verwirklichen will. Dazu enthält unser Aktionsprogramm klare strategische Aussagen (Parteiaufbau, Aktionseinheiten, Einheitsfrontpolitik, Mitwirkung an der Schaffung demokratische selbstorganisierter Massenbewegungen, Kampf um die politische Führung der Gewerkschaften, Schaffung von Räten, Kampf für eine revolutionäre Arbeiterregierung). Diese Perspektiven sind nicht neu, aber bessere gibt es nicht.

Hierzu kann es nützlich sein, in das Programm eine Auseinandersetzung mit anderen Strömungen aufzunehmen, auch mit trotzkistischen Organisationen. In der BRD, in der die bürgerliche Presse und die Massenmedien jetzt erstmals im Zusammenhang mit der WASG in Berlin von der trotzkistischen Bewegung Notiz nehmen und wo große Teile der Arbeiterklasse und selbst der Linken die internationale trotzkistische Bewegung überhaupt nicht kennen, halten wir dies in einem Aktionsprogramm für entbehrlich. Das bedeutet aber nicht, daß wir nicht bereit sind, diese Auseinandersetzung zu führen, wenn es sich aus der Praxis heraus ergibt. Einige Mitglieder der Marxistischen Initiative können auf diesem Feld auf intensive Erfahrungen zurückblicken. Wir halten es in der BRD aber für vordringlich, uns mit den Neuformierungsprozessen zu befassen, die hierzulande stattfinden. Diese gehen weit über die trotzkistische Szenerie hinaus.

Programm und Praxis

Wir geben Euch recht, wenn ihr sagt, daß nicht allein die programmatischen Grundlagen die Qualität einer Organisation bestimmen, sondern ebenso ihre Organisation und ihre Praxis. Das rechtfertigt aber natürlich nicht einen Verzicht auf die theoretische Solidität der programmatischen Grundlagen. Für uns sind sie der Ausgangspunkt unserer Arbeit (und der Bewertung anderer politischer Strömungen). Wir sind davon überzeugt, daß unser Aktionsprogramm ein wohlfundiertes marxistisches Programm ist, das auch als Programm einer größeren Arbeiterpartei Bestand hätte.

Wir sind aber nicht so weltfremd, daß wir deshalb glauben würden, wir seien schon eine Partei. Das sind wir leider nicht. Wir sind nur ein kleiner propagandistischer Zirkel. Das ist auch nach der Fusion zwischen dem Arbeitskreis Marxistische Theorie und Politik in Berlin mit der Münchener Marxistischen Initiative nicht anders geworden.

Wo sich örtlich und aufgrund unserer sehr begrenzten personellen Möglichkeiten die Gelegenheit bietet, praktische Arbeit zu leisten, tun wir das. Aber wir sind derzeit weder in der Lage, eine umfassende Praxis auch nur in den wichtigsten Kernbereichen des Klassenkampfs zu entfalten, noch beanspruchen wir, zu deren Detailfragen immer fertige oder gar endgültige Antworten parat zu haben. Das liegt teils am nach wie vor niedrigen Entwicklungsstand der Klassenkämpfe, teils daran, daß wir auf einer Reihe von Gebieten nicht ausreichend mit den konkreten Gegebenheiten vertraut sind. Aber meistens daran, daß wir uns bewußt darauf beschränkt haben, zu den wichtigsten Problemen des Klassenkampfs Antworten zu entwickeln, um die Achsen einer aktuellen marxistischen Politik zu bestimmen.

Wir sind der Überzeugung, daß in der Arbeiterklasse das Bedürfnis nach einer neuen Partei wächst, die tatsächlich für die Interessen der Arbeiterklasse kämpft. Dieses Bedürfnis findet in den aktuell stattfindenden Auseinandersetzungen um den Kurs der Linken seinen Ausdruck. Wir sehen dabei übrigens keinen Grund, trotzkistische Gruppen zu "privilegieren". Umgruppierungsprozesse pflegen nicht entlang der Diskussion historischer Fragen zu verlaufen, sondern finden um aktuelle politische Frontlinien statt. Alte programmatische Grundsätze sind dabei immer aus Analysen der aktuellen Situation theoretisch neu zu entwickeln. Jede politische Generation muß sich den Marxismus in all seinen Facetten anhand ihrer eigenen Erfahrungen neu erarbeiten und ihn weiterentwickeln. Darüber erschließt sich dann in aller Regel auch ein erneuertes Verständnis der großen historischen Debatten der Arbeiterbewegung.

Wir wollen an diesen aktuell laufenden Auseinandersetzungen teilnehmen, und wir glauben, daß wir in diese Auseinandersetzungen etwas einzubringen haben: Die Grundzüge einer soliden marxistischen Einschätzung der internationalen Lage, der Entwicklung des Imperialismus und der Lage des Klassenkampfs, sowie die wichtigsten Lehren aus diesen Einschätzungen - einschließlich der Fähigkeit zur fundierten Kritik des modernen Reformismus. Nicht zuletzt vertreten wir die Perspektive der historischen Aktualität der Revolution in der imperialistischen Epoche, der aktuellen Notwendigkeit des Kampfes für den Sozialismus und auf dem Weg dahin des Kampfes für ein Übergangsprogramm. Wir haben mit unserem Aktionsprogramm ein für die jetzige Lage des Klassenkampfs in der BRD konkretisiertes Übergangsprogramm formuliert. Dieses Programm ermöglicht es uns für eine revolutionäre Perspektive zu kämpfen ohne uns in sektiererischen Abstraktionen zu verlieren und den Kontakt mit der Realität aufzugeben.

Natürlich wünschten wir uns, daß wir dabei mehr leisten könnten - aber ohne die Unterstützung durch neue Mitglieder und Sympathisanten können wir nicht mehr leisten. Aber gemessen an unseren geringen Kräften können sich - bei aller Bescheidenheit - unsere bisherigen Beiträge durchaus sehen lassen.

Was ist ein Übergangsprogramm?

Ihr haltet unser Aktionsprogramm für in mehrfacher Hinsicht "problematisch" und haltet uns das bekannte Zitat Trotzkis aus dem Übergangsprogramm entgegen, in dem dieser erklärt, man müsse den Massen helfen, im Verlauf ihrer täglichen Kämpfe die Brücke zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem sozialistischen Programm der Revolution zu finden. Diese Brücke bestehe aus einem System von Forderungen, die von den heutigen objektiven Bedingungen und dem aktuellen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und stets zum selben Schluß führen, der Machteroberung des Proletariats.

Ihr werft dem Aktionsprogramm der marxistischen Initiative sodann vor, es beinhalte nicht nur Übergangsforderungen, sondern auch Minimalforderungen und Maximalforderungen. Es beschreibe dabei nicht einmal den jeweiligen Kontext der Forderungen und erkläre außerdem nicht einmal die Bedeutung dieser Forderungen.

Stimmt. Doch was ist daran verkehrt? Nichts!

Eurer Kritik liegt bedauerlicherweise ein völliges Unverständnis dafür zugrunde, daß ein Übergangsprogramm keineswegs auf Übergangsforderungen beschränkt ist.

Das ist auch im Gründungsprogramm der Vierten Internationale von 1938 nicht der Fall. Dort heißt es: "Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten "Minimal"-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften. Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d.h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen "Minimal"-Forderungen der Massen auf zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen - und das geschieht auf Schritt und Tritt -, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf..."[2]. An anderer Stelle heißt es in diesem Programm, daß die IV. Internationale demokratische Losungen (als Mittel zur Mobilisierung der Massen gegen den Faschismus) "selbstverständlich nicht" verwirft. Trotzki stellt fest: "Im Gegenteil, sie können in gewissen Augenblicken eine gewaltige Rolle spielen. Aber die Formeln der Demokratie (Koalitions-, Pressefreiheit u.s.w.) sind für uns nur vorübergehende oder episodische Losungen in der unabhängigen Bewegung des Proletariats."[3] Schließlich enthält das Übergangsprogramm Maximalforderungen, die ihr als nach der Revolution, d.h. der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, zu verwirklichende Forderungen definiert habt, die jedoch dennoch Übergangsforderungen sind - wenn auch für eine spätere Etappe des Klassenkampfs.

Das Übergangsprogramm besteht mithin aus Tagesforderungen, Übergangsforderungen und "Maximal"-Forderungen. Das System von Übergangsforderungen ist der strategische Kern des Programms. Demokratische Losungen und Minimalforderungen, die noch nicht diskreditiert sind und ihre Mobilisierungskraft bewahrt haben, spielen, besonders in noch relativ ruhigen Phasen des Klassenkampfs, wenn er sich noch auf niedrigem Niveau bewegt, im Rahmen einer revolutionären Gesamtperspektive naturgemäß eine wichtige Rolle. Revolutionäre, die die Tagesinteressen des Proletariats und seiner Bündnispartner gering schätzen, werden immer von der Masse des Proletariats isoliert bleiben. Solche Revolutionäre haben das ABC des Kommunismus nicht verstanden. Die Verankerung der Marxisten bzw. Kommunisten in den Tageskämpfen der Gewerkschaften und den diversen politischen Bewegungen der Arbeiterklasse ist die Grundlage der marxistischen Strategie und Taktik im Rahmen der Einheitsfrontpolitik.

Übergangsprogramm und Etappenkonzeption der Revolution

Eure Interpretation, daß die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm der Konzeption der Revolution in Etappen entspricht, ist nur sehr bedingt richtig. Als allgemeine Feststellung ist sie falsch.

Trotzki kritisiert im Übergangsprogramm von 1938 die klassische Sozialdemokratie, die sich mit ihrem Minimalprogramm "auf Reformen im Kapitalismus beschränkte, und das Maximalprogramm, das für eine unbestimmte Zukunft die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus versprach"[4], nur für Sonntagsreden parat hatte. Wenn Ihr betont, daß das Minimalprogramm bis zur Revolution verwirklicht werden soll und Probleme enthält, die innerhalb des bürgerlich-demokratischen Rahmens gelöst werden können, während das Maximalprogramm nach der Revolution verwirklicht werden soll, dann hat das so gut nichts mit Trotzkis Kritik und schon gar nichts mit der klassischen Sozialdemokratie zu tun.

Die klassische Sozialdemokratie hatte in Deutschland keine Etappenkonzeption der Revolution. Sie war hier nicht der Ansicht, daß erst eine bürgerliche Revolution durchgeführt werden müsse und irgendwann später eine sozialistische Revolution. Trotzki kritisierte im Gegenteil zu recht, daß die klassische Sozialdemokratie überhaupt keine revolutionäre Perspektive mehr verfolgte, daß ihr Maximalprogramm vielmehr nur noch ein gelegentliches Lippenbekenntnis ohne jede praktische Relevanz für ihre Tagespraxis war. Die Ablehnung der Dichotomie von Minimal- und Maximalprogramm und die Integration von Minimal- und Maximalprogramm in ein System von Übergangsforderungen, d.h. deren Integration in ein Übergangsprogramm, hat nichts damit zu tun, die Forderungen von Minimal- und Maximalprogramm beiseite zu lassen und sie allesamt durch Übergangsforderungen zu ersetzen. Sie erlaubt es vielmehr, alle Forderungen im Rahmen einer revolutionären Gesamtstrategie zu verbinden und sie dem Ziel der Revolution nutzbar zu machen.

Minimimalforderungen und Übergangsperspektive:

Auf den Zusammenhang kommt es an!

Inwiefern verändert sich der Stellenwert einer Minimalforderung im Zusammenhang eines Übergangsprogramms? Wir wissen alle, daß insbesonders in Krisenperioden des Kapitalismus die Bereitschaft der bürgerlichen Klasse zu Zugeständnissen an die Arbeiterklasse nicht nur sinkt, sondern sie im Gegenteil bemüht ist, ihre Krise durch offensive Umverteilungspolitik von unten nach oben wenigstens vorübergehend zu lösen. Der Kampf für die Tagesinteressen wird unter diesen Umständen viel schwieriger als in den Schönwetterperioden des Kapitalismus. Selbst sporadische Erfolge können nur durch energische und hart geführte Kämpfe errungen werden. Und sogar einfache Lohnforderungen werden zum Problem.

Führer mit Illusionen in den "good will" der Kapitalisten müssen in diesen Kämpfen versagen. Taktische Flexibilität und die Bereitschaft zu überraschenden Initiativen sind jetzt gefragt.

Wenn die Kapitalisten im Rahmen von Verhandlungen über ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten jammern, beantworten Marxisten die reaktionäre Propaganda, daß keine Spielräume vorhanden sind, daß es angesichts der Globalisierung keine Alternativen gibt, mit Forderungen nach der Offenlegung der Geschäftsbücher, nach der Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses - ohne Rücksicht auf das, was der normale kapitalistische Geschäftsbetrieb mit seinen Grundsätzen für vereinbar hält. Gleichzeitig machen sie Propaganda für die Arbeiterkontrolle der Produktion. Auf diese Weise kann jeder Kampf um Tagesinteressen zum Ausgangspunkt von Angriffen auf die Akzeptanz der Normalität kapitalistischer Verhöltnisse werden. Damit wird der Arbeiterklasse geholfen, die Einsicht zu entwickeln, daß die Tagesinteressen dauerhaft nur durch den Kampf für die soziale Revolution durchgesetzt werden können. Denjenigen, die sich dieser Einsicht nähern, weisen wir als Perspektive einerseits den Kampf für eine Arbeiterregierung und andererseits die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes der Anhänger aller politischen Strömungen der Arbeiterklasse um konkrete Ziele - unabhängig von Meinungsverschiedenheiten über strategische Zielsetzungen.

Wir gehen davon aus, daß jetzt wieder die Bedingungen heranreifen, die einen erfolgreichen Kampf von Marxisten um Masseneinfluß ermöglichen. Reformisten bekommen immer größere Probleme, ihren Einfluß aufrechtzuerhalten, weil sie sie in immer offeneren Gegensatz zu ihrer Basis geraten. Immer deutlicher wird, daß die Arbeiterklasse ohne die Einbettung in eine Übergangsstrategie der bürgerlichen Offensive nichts entgegenhalten kann. Wer den kapitalistischen Rahmen akzeptiert, kann dem Zwang des Marktes, d.h. den Zwängen des sogenanten imperialistischen Freihandels, auch Globalisierung genannt, ideologisch nichts entgegensetzen. Die Reformisten gehen deshalb zunehmend dazu über, den Kampf für Tagesinteressen und für Verbesserungen im kapitalistischen System durch Rückzugskämpfe im Namen des kleineren Übels zu ersetzen. In der Praxis hat das die Minimalisierung der praktischen Erfolgsbilanzen zur Folge. Dies läßt sich in der BRD anhand der Entwicklung der Grünen und der Linkspartei/PDS wie im Zeitraffer studieren. Die angeblich immer noch möglichen Verbesserungen im System als Fernziel (irgendwann - wenn es denn finanzierbar sein sollte...) ersetzen dann bei ihnen das Maximalprogramm der klassischen Sozialdemokratie.

Minimal-, Übergangs- und Maximalforderungen nebeneinander

- strategisches Chaos? Chaos in den Köpfen? Oder was?

Daß es nicht nur möglich sondern unumgänglich ist, eine Arbeiterklasse, die die kapitalistischen Rahmenbedingungen in ihrer überwältigenden Mehrheit ideologisch akzeptiert, mit Aktionseinheiten um Minimalforderungen breitestmöglich zu mobilisieren und damit überhaupt erst einmal punktuell in die Konfrontation mit der bürgerlichen Klasse zu führen, scheint ihr nicht zu sehen. Wir schließen daraus, daß Euch die Lehren der Komintern bezüglich der Gewinnung von Masseneinfluß durch Einheitsfrontpolitik nicht bekannt sind. Sie sind aber die konzeptionelle Grundlage der Übergangsstrategie.

Der "Clou" der Übergangsforderungen liegt nicht darin begründet, daß sie, wie ihr schreibt, die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft an die proletarische Revolution anbinden. Entscheidend ist vielmehr, daß mit der Propagierung eines Systems von der jeweiligen Klassenkampfsituation angepaßten Übergangsforderungen ein Weg gefunden ist, die jeweils aktuellen Kämpfe in optimaler Weise über sich selbst hinauszutreiben. Die kämpfenden Teile der Arbeiterklasse werden so in die Lage versetzt, Lehren aus ihren eigenen Erfahrungen zu ziehen, ihre Kämpfe in den Gesamtzusammenhang der Klassenkämpfe einordnen zu können und sich neue, weitergehende Ziele zu setzen.

Das von Euch beklagte Chaos des Nebeneinanders von verschiedenartigen Forderungen löst sich deshalb auf in die wohldurchdachte Gleichzeitigkeit der Agitation bezüglich konjunktureller Agitation und von Propaganda, die eng an das Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse angepaßt ist und daran anknüpft. Diese Propaganda wird gleichzeitig ergänzt durch "maximalistische" Propaganda, die den Eigentumsfetisch angreifen soll (z.B. Verstaatlichungsforderungen, Propaganda für einen Rätestaat als Zukunftsvision, für sozialistische außenpolitische Grundsätze etc.). Ich mache in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß Totzkis Übergangsprogramm von 1938 u.a. die Enteignung bestimmter Gruppen von Kapitalisten schon vor der Revolution forderte: "Das sozialistische Programm der Enteignung - d.h. des politischen Sturzes der Bourgeoisie und der Beseitigung ihrer wirtschaftlichen Herrschaft - darf uns auf keinen Fall in der gegenwärtigen Übergangsperiode, wenn die Gelegenheit sich bietet, davon abhalten zu fordern, daß bestimmte Industriezweige, die für die nationale Existenz am wichtigsten sind, oder bestimmte Gruppen der Bourgeoisie, die am parasitärsten sind, enteignet werden."[5]

Wir haben in unserem Aktionsprogramm nichts anderes getan.

Wenn ihr schreibt, daß das Nebeneinander verschiedener Typen von Forderungen "problematisch" und geeignet ist, "in den Köpfen der ArbeiterInnen und der Unterdrückten Verwirrungen" zu stiften, fürchte ich, daß die Verwirrung eher bei Euch besteht. So schreibt ihr: "Entsprechend dieser Konstellation müßten die ArbeiterInnen, während sie für die Enteignung von Kapitalisten kämpfen, zugleich von ihnen einen Mindestlohn fordern. Auch, wenn man mit der hier aufgestellten Forderung nach Enteignung nur auf bestimmte Untenehmen abzielt, so ist für uns die "einzelne" Enteignung bestimmter Unternehmen trotzdem problematisch."

Wo ist das Problem, wenn die Arbeiterklasse für Massendemonstrationen für das Ziel eines gesetzlichen Mindestlohnes mobilisiert wird und beispielsweise eine marxistische Partei sich zugleich in Wahlkämpfen nicht nur gegen die Privatisierung der Bahn, sondern auch offensiv für die Sozialisierung der Pharmakonzerne unter Arbeiterkontrolle (vgl. Art. 15 Grundgesetz) ausspricht und u.a. auch noch die Sozialisierung der Banken fordert, um einer Arbeiterregierung das notwendige Instrumentarium zu verschaffen, die Arbeiterkontrolle der Produktion durchzusetzen?

Eure Probleme mit unserem Aktionsprogramm beruhen offenkundig darauf, daß ihr zu glauben scheint, daß der Begriff Aktionsprogramm" bedeutet, daß wir jede Forderung unterschiedlos für die Agitation verwenden wollen, gewissermaßen unabhängig von Zeit und Raum. Dem ist aber nicht so. Die Existenz eines Aktionsprogramms entbindet eine Organisation nicht von der Aufgabe, die Entwicklung des Klassenkampfs fortlaufend einzuschätzen, das Programm mit jeweils der aktuellen Lage angepaßten agitatorischen und propagandistischen Schwerpunkten anzupassen. Es ist keine Fibel für alle Lebenslagen, die den Marxisten auf absehbare Zeit das eigene Denken erspart.

Darüberhinaus unterstellt ihr uns, wir würden die isolierte Duchsetzung einzelner Enteignungsforderungen für möglich halten oder solchen Enteignungen einen besonderen Stellenwert beimessen. Eure rhetorische Frage, "was eine Enteignung bestimmter Unternehmen im Angesicht der Situation in Deutschland für Erfolge verspricht?" läßt sich nicht anders deuten. Aber die rhetorische Spitze läßt sich umdrehen: Seid Ihr wirklich nicht in der Lage zu erkennen, was es für die Entwicklung des Selbstvertrauens in die eigene Kraft der Arbeiterklasse bedeuten würde, wenn beispielsweise die Pharmaindustrie aufgrund von Massen-mobilisierungen der Arbeiterklasse verstaatlicht würde, weil die Bourgeoisie anderenfalls befürchten müßte, daß es kurzfristig zu noch breiteren und zunehmend offen revolutionären Mobilisierungen käme?

Eure Kritik, die "Aneinanderreihung von diesen Forderungen" spiegele nicht die Perspektive des Übergangsprogramms und offenbart, dass das Programm nicht ein Resultat der Aktionen in den unterschiedlichen Bereichen ist", belegt, daß ihr den fundamentalen Gegensatz zwischen einem marxistischen Programm, das ausgehend von einer wissenschaftlichen Globalanalyse des kapitalistischen Systems Antworten auf die objektiven Probleme des Klassenkampfs gibt und einem halbspontaneistischen Bewegungsprogramm nicht verstanden habt. Wenn Ihr Euch die Mühe machtet, das faktische Übergangsprogramm der Bolschewiki von 1917[6] oder das Trotzkis von 1938 oder das Aktionsprogramm der französischen Trotzkisten von 1934[7] zu studieren, würdet ihr feststellen, daß auch diese Euren Anforderungen nicht gerecht wurden, Ausdruck der Praxis "in den unterschiedlichen Bereichen" zu sein. Die konkrete Lage in gesellschaftlichen Teilbereichen kann immer nur die Taktik bestimmen, niemals die grundlegenden Ziele kommunistischer Politik.

Ich fürchte dabei, Ihr seid einer Verständnisfalle aufgesessen, in die vor Euch schon viele jüngere Trotzkisten getappt sind, die sich doktrinär an Trotzkis Formulierung vom System der Übergangsforderungen als einer "Brücke zum Programm der sozialistischen Revolution" festgehalten haben.

Trotzki geht dabei nicht von einer linearen Entwicklung der Klassenkämpfe im Sinne einer stetigen Verallgmeinerung bis hin zur Revolution aus. Er betonte im Gegenteil immer wieder, daß sich der Klassenkampf in der imperialistischen Epoche sprunghaft entwickelt, daß die Arbeiterklasse neben kleinen Siegen immer wieder auch Niederlagen und Rückschläge erleidet, daß punktuelle Bewegungen anschwellen und wieder zurückfluten. Auch das durchschnittliche Bewußtsein der Klasse und ihrer verschiedenen Teile kann sich progressiv und regressiv entwickeln.

Die beharrliche Propagierung der Übergangsperspektive in all ihren Facetten erleichtert die Gewinnung der Avantgarde der Klasse für das Programm der sozialistischen Revolution. Er schreibt deshalb daß das System der Übergangsforderungen eine Brücke zum Programm der sozialistischen Revolution ist, nicht zur sozialistischen Revolution selbst. Erst wenn sich die Masse der Arbeiterklasse dieses Programm zu eigen macht, ist die Revolution möglich.

Wer mit der Erstellung eines Programms warten wollte, bis die Revolution alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft erfaßt hat, wird die Revolution verpassen. Es gilt aber heute (bevor es so weit ist), ein revolutionäres Aktionsprogramm zu formulieren - mit Kaffeesatzleserei bezüglich der richtigen Reihenfolge von Forderungen die in Itzenbüttel und unterhalb des Watzmann bei der ersten Protestkundgebung gegen Hartz IV aufzustellen sind, bis hin zum Hissen der Roten Fahne über dem Reichstag hat das nichts zu tun. Wir wissen, daß wir bis zur Durchsetzung unserer wesentlichen Ziele noch viele taktische Wendungen machen werden. Aber wir glauben nicht, daß wir die grundlegenden strategischen Achsen unseres Programms werden ändern müssen. Dies schlicht deshalb, weil die meisten unserer Forderungen auf Grundprobleme der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Niedergangsperiode antworten, nicht auf episodischen Pipifax.

Ihr seid stattdessen der Auffassung, daß ein Programm Schritt für Schritt mit dem Organisationsaufbau mitwächst: "Es ist notwendig, das Programm, das wir brauchen, mit einer Übergangsperspektive zu verwirklichen und Schritt für Schritt aufzubauen"[8]. Ihr verzichtet damit auf die von Anfang an notwendige elementare Grundlage eines marxistischen Programms, nämlich auf die Globaleinschätzung der objektiven Lage der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr proklamiert stattdessen ein Bekenntnis zum programmatischen Eklektizismus. Die mehr oder weniger zufällige Entwicklung partikularer Programme, deren Stellenwert in einem nicht vorhandenen Übergangsprogramm der Arbeiterklasse nicht bestimmt wird und die Ersetzung dieser Bestimmung durch abstrakte Bekenntnisse zum Prinzip eines Übergangsprogramms ersetzt werden, hat mit einer Übergangsstrategie wenig zu tun. Dieses Konzept ähnelt vielmehr den Programmentwicklungskonzepten der Bunten Listen aus der Entstehungszeit der Grünen in der Alt-BRD. Damals wurden viele Teilforderungen zusammengeworfen - ohne daß jemals eine politische Strategie sichtbar geworden wäre. Ein solches Konzept konnte nur im reformistischen Sumpf (der Grünen) stecken bleiben.

Bemerkenswerterweise habt Ihr trotz Eures Bekenntnisses zum Übergangsprogramm Trotzkis von 1938 nicht einmal dessen wesentliche Inhalte realisiert. So kritisiert ihr unser Aktionsprogramm ausgerechnet dort, wo wir mit Trotzki und den kommunistischen Programmen nahezu aller Länder übereinstimmen, nämlich bei unseren Forderungen nach Enteignungen bzw. der Sozialisierung bestimmter Gruppen von Kapitalisten.

Wir befinden uns in einer Epoche des welthistorischen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und gleichzeitig in einer Phase relativer konjunktureller Ruhe des Klassenkampfs bei ansatzweise erschütterter Stabilität. Angesichts der gegebenen Schwäche revolutionärer Kräfte sind wir noch weit davon entfernt, Enteignungen praktisch durchsetzen zu können. Aber wenn wir so weit sein werden, werden derartige Maßnahmen nicht allein stehen. Wir haben deshalb kein Verständnis für Einwände, wie den, daß eine isolierte Enteignung noch keinen Übergang, geschweige denn den Sozialismus macht. Wir haben große Ziele, sind aber nicht realitätsblind. Sozialisierungsforderungen halten wir schon heute für notwendig, um die Eigentumsfrage als Zentralfrage marxistischer Politik wieder zu popularisieren.

Wir wissen dabei, daß unser Aktionsprogramm zunächst einmal nur die Achsen unserer eigenen propagandistischen Aktivität bestimmt. Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und der Organisierung. Damit wir für diese Arbeit über einen Kompaß verfügen, haben wir uns ein Aktionsprogramm erarbeitet. Wir wissen aber auch, daß die große Masse des Proletariats ohne vorbereitende Propaganda heute weder morgen noch übermorgen die Hauptforderungen des Aktionsprogramms zu eigen machen kann.

Dieses Programm ist sicher nicht in allen Einzelheiten das letzte Wort. Aber wir halten es zur Zeit für das beste Programm irgendeiner linken Organisation in Deutschland.

Gleichheit, bürgerliches Recht und kommunistische Bewegung

Die negative Fixierung auf Übergangsforderungen und die Mißachtung von Minimalforderungen und demokratischen Kosungen wird in Eurer Kritik und auch in Eurer Grundlagenbroschüre weder aus einer Analyse der objektiven Lage noch aus einer Gesamtanalyse des Standes der Klassenkämpfe abgeleitet, sondern doktrinär aus der Ablehnung der Etapenkonzeption der Revolution.

Damit hat Konzept der Übergangsforderungen seiner Natur nach nichts zu tun.

Von der Etappenkonzeption der Revolution zu sprechen, ist a priori selbst vordergründig nur dort sinnvoll, wo die wesentlichen Aufgaben der bürgerlichen bzw. demokratischen Revolution noch ungelöst sind.

Dort haben die zentralen Forderungen der demokratischen Revolution noch einen (revolutionären) Übergangscharakter. Antiimperialistische Forderungen, nationale Forderungen oder die ungelöste Agrarfrage in solchen Ländern im Namen der Proletarität der künftigen Revolution zu ignorieren, wäre töricht. Umgekehrt wäre die Beschränkung auf Losungen der bürgerlichen Demokratie zur Demobilisierung der Arbeiterklasse und damit die demokratische Revolution in die Sackgasse führen. Niederlagen der demokratisch-revolutionären Bewegung wären die Folge, weil die schwachen nationalen Bourgeoisien in diesen Ländern nicht in der Lage sind, einen konsequenten Kampf gegen vor- oder halbkapitalistische Strukturen im Innern zu führen und ebenso nicht zu ernsthaften Kampf gegen die Abhängigkeit vom Imperialismus willens und fähig sind. Besonders dann nicht, wenn die Arbeiterklasse anstalten macht, sich als unabhängige Kraft zu formieren.

Deshalb können die Aufgaben der demokratischen Revolution nur unter der Führung der Arbeiterklasse insgesamt und dauerhaft gelöst werden. Die Ablehnung der Trennung des revolutionären Prozesses in zwei voneinander getrennten Etappen kann jedoch nicht den Verzicht auf den Kampf für die Aufgaben der demokratischen Revolution durch eine marxistische Arbeiterpartei bedeuten. Die marxistische Partei kann auch nicht darauf verzichten, den Kampf um die politische Führung von sozialen Bündnispartnern der Arbeiterklasse zu führen.

Besonders in den vorgenannten Ländern sind für die letztgenannte Aufgabe demokratische Losungen unverzichtbar. Sie behalten dort auch heute noch weiter gewaltige Sprengkraft. Das ist nicht zuletzt dort der Fall, wo es unterdrückte bzw. benachteiligte nationale Minderheiten gibt. Dort können demokratische Losungen unmittelbar Übergangscharakter haben.

In den imperialistischen Ländern sind demokratische Losungen ebenfalls unverzichtbar. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich der reaktionäre Charakter des Imperialismus selbst in seinen reichsten und immer noch demokratisch verfaßten Metropolen dahingehend Bahn bricht, daß demokratische Rechte immer mehr ausgehöhlt, immer dreister beschnitten oder gar durch ständige Notstandsregime beseitigt werden. Hinzu kommt, daß nationalen Minderheiten und Immigranten häufig a priori die elementarsten demokratischen Freiheiten verweigert werden.

Parallel dazu gehen die reformistischen Bürokratien in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse immer dreister gegen oppositionelle klassenkämpferische Minderheiten vor, um jede potentielle Opposition gegen die Politik der Unterordnung unter sogenannte Sachzwänge auszuschalten.

Es ist deshalb von zentraler Bedeutung für den Erfolg revolutionärer Politik, daß sich das Proletariat selbst zum Vorkämpfer für die politischen Rechte von Minderheiten macht, daß es die demokratischen Freiheiten aller seiner Teile verteidigt und sowohl in der bürgerlichen gesellschaft wie in seinen Massenorganisationen energisch gegen antidemokratische Machenschaften kämpft. Nur ein Proletariat, das gelernt hat, seine demokratischen Rechte zu verteidigen, ist übrigens auch nach der Revolution die beste Garantie gegen bürokratische Verselbständigungstendenzen.

Wir halten deshalb Lenins Schriften zur Notwendigkeit des konsequentesten Demokratismus[9][10] einer proletarischen Partei nach wie vor für einen unverzichtbaren Teil des theoretischen Erbes der marxistischen Bewegung.

Eurer Mißachtung der Notwendigkeit demokratischer Losungen als Bestandteil von Übergangsprogrammen entpricht Eure Haltung zur Frage der Gleichheit. Eure Ausführungen zu diesem Problem sind schwerlich nachvollziehbar. Ihr scheint Euch keine Rechenschaft darüber abzulegen, daß die Idee der Geichheit und der Brüderlichkeit schon in der bürgerlichen Revolution weit über die Bourgeoisie hinaus die Volksmassen mobilisierte, zum Kampfruf auch des radikalen Flügels der Jacobiner und der Sansculottes wurde und später immer der Kampfruf der revolutionären Arbeiterbewegung blieb. Zu recht; denn die klassenlose Gesellschaft ist bekanntlich das Ziel der marxistischen Arbeiterbewegung.

Die Ablehnung des Konzepts der Gleichheit bricht mit allen proletarischen Traditionen. Wenn Ihr in Eurer Broschüre verkündet: "Außer der Forderung nach Arbeit für alle haben wir keine Forderung, die alle umfaßt", so ist das die Proklamation eines pseudoprinzipiellen Sektierertums, das auch mit trotzkistischen Traditionen völlig unvereinbar ist. So forderte Trotzki 1934 im von ihm geschriebenen "Aktionsprogramm für Frankreich": "Sozialleistungen für alle" und betonte den Kampf für "wahre soziale Dienstleistungen". Und bezüglich der Verteidigung demokratischer Freiheiten geht er so weit zu schreiben: " Solange die Mehrheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie verbleibt, sind wir bereit, diese mit allen unseren Mitteln gegen die heftigen Angriffe der bonapartistischen und faschistischen Bourgeoisie zu verteidigen".[11]

Eure Ablehnung des Konzepts der Gleichheit beruht auf einem grundlegenden Unverständnis des Konzepts der Gleichheit im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Die von Euch zitierte Aussage aus Eurer Grundlagenbroschüre: "Die Verteidiger der Revolution in Etappen handeln nach der Auffassung einer formalen Gleichheit. Doch die Erwartung eines gleichen Rechts zwischen den Individuen ist unter den Bedingungen der Klassengesellschaft eine leere Illusion" ist schlicht konfus. Ebenso die Schlußfolgerung, die Ihr zieht: "Wir bringen Forderungen hervor, die zugunsten der Unterdrückten und Ausgebeuteten eine Ungleichheit beinhalten. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, das bürgerliche Recht zu legitimieren., sondern es durch das Aufzeigen all der Widersprüche faktisch zu verurteilen und aufzuheben."

Nicht nur Anhänger der Etappenkonzeption der Revolution gehen von "formaler Gleichheit" aus. Die formelle Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz ist auch keine "leere Illusion". Sie hat einen ganz realen gesellschaftlichen Inhalt, ist gesellschaftliche Realität und als Konzept kennzeichnend für das bürgerliche Recht.

Die Rechtsgleichheit läßt sich jedoch nicht unter Hinweis auf die sozialökonomische Ungleichheit der Klassengesellschaft hinwegdiskutieren. Der Fehler des bürgerlichenFreiheitskonzepts liegt nicht darin, daß es allen Bürgern abstrakt die gleichen Rechte garantiert, sondern darin, die soziale Ungleichheit weitestgehend auszublenden und zu ignoreren.

Ideologisch legitimiert die allgemeine Geltung des bürgerlichen Rechts und seine formelle Gleichstellung der bürgerlichen Rechtssubjekte natürlich die bürgerliche Herrschaft. Umgekehrt delegitimiert das Gleichheitsprinzip aber auch real existierende rechtliche und soziale Ungleichheiten. Die bürgerlichen Ideologen haben deshalb schon lange aufgehört, das Gleichheitsprinzip ins Zentrum ihrer Weltanschauung zu stellen. Sie betonen das Prinzip der individuellen Freiheit. Die reformistischen Modernetheoretiker versuchen den ideologischen Spagat zwischen Freiheit und Gleichheit, indem sie den Gleichheitsgedanken als Konzept der sozialen Chancengleichheit mit dem Freiheitsgedanken versöhnen wollen. Faktisch lösen sie ihn im bürgerlichen Konzept der individuellen Freiheit auf und werden zu Apologeten der imperialistischen Moderne. Wer heute von Chancengleichheit faselt, landet bei Rechtfertigung kapitalistischer Ungleichheit. Der Erfolglose hat dann selbst schuld, weil er seine Chancen nicht wahrgenommen hat.

Was bedeutet das praktisch?

Wenn die Bourgeosie Immigranten (unter Verstoß gegen das bürgerliche Konzept der Gleichheit aller Menschen) grundlegende staatsbürgerliche Rechte verweigert, dann fordern wir die Respektierung des Gleichheitsgrundsatzen und die Gewährung sämtlicher bürgerlicher Freiheitsrechte auch für Immigranten. Also gleiches Recht für alle. Was sonst? Sollen wir Eurer Konzeption der "Ungleichheit zugunsten der Unterdrückten und Ausgebeuteten" folgen und demokratische Freiheiten nur für Immigranten fordern? Oder sollen wir, weil Ihr (fälschlicherweise!) davon ausgeht, daß die rechtliche Gleichstellung nur in der klassenlosen Gesellschaft möglich ist, die Immigranten auf eine künftige kommunistische Gesellschaft vertrösten, die bekanntlich im Anschluß an eine proletarischen Diktatur während der Übergangsgesellschaft und erst als zweite Phase des Sozialismus verwirklicht sein wird?

Die Masse der Immigranten wird solange nicht warten wollen. Immigranten werden heute diskriminiert. Immigranten und Teile der deutschen Arbeiterklasse sind schon heute bereit, gegen diese Diskriminierung und für gleiche Rechte zu kämpfen - auch ohne entwickeltes Klassenbewußtsein. Eine Organisation, die erklärt, Immigranten und deutsche Arbeiter sollen sich aus diesem Kampf heraushalten, solange sie nicht gleichzeitig bereit sind, für die soziale Revolution zu kämpfen, spaltet den realen Emanzipationskampf der Arbeiterklasse. Wir sind bereit, jeden realen Kampf für die rechtliche Gleichstellung schon heute zu unterstützen und werden die Forderung zum Sofortprogramm einer Arbeiterregierung machen. Wir werden uns aber dabei nicht auf den Kampf für gleiche Rechte beschränken, sondern betten ihn ein in eine revolutionäre Gesamtstrategie, d.h. weitergehend auch in den Kampf für soziale Gleichheit[12].

Ihr sprecht stattdessen davon, das bürgerliche Recht "durch das Aufzeigen all der Widersprüche zu verurteilen und aufzuheben". Das wird weder die Bourgeoisie noch die bürgerliche Justiz beindrucken. Sie wissen, daß das bürgerliche Recht weder durch seine ideologische Entlarvung und Anprangerung aufgehoben wird, sondern nur durch die reale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Diese Veränderung wird durch reale Mobilisierungen für ein Ende der Diskriminierung von Immigranten und anderen Minderheiten besser gefördert als durch sektiererische Schulmeistereien. Der Konflikt mit der reaktionären und chauvinistischen realen Bourgeosie fördert die Entwicklung des Klassenbewußtseins. Jeder erkämpfte demokratische Fortschritt erschwert der Bourgeoisie den Rückgriff auf repressive Mittel im Klassenkampf und erleichtert es der Arbeiterklasse das Bewußtsein für die Notwendigkeit zu entwickeln, den Kampf für soziale Gleichheit zu führen, der über die vom Kapital gesetzten Grenzen hinausführt.

Wir beteiligen uns deshalb nicht an Spekulationen darüber, ob es gelingen kann, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen schon vor einer Revolution massiv zugunsten der Arbeiterklasse zu verschieben oder nicht. Wir formulieren, wo immer wir dazu praktisch in der Lage sind, Lösungen für die aktuellen Probleme der Arbeiterklasse - ohne Rücksicht darauf, was Kapitalisten bereit sind, freiwillig zuzugestehen.

Selbstbeschränkung und die Anerkennung von vorgeblichen Sachzwängen lehnen wir ab und überlassen das den Reformisten, die der Arbeiterklasse Zurückhaltung predigen, um kleine und kleinste Erfolge nicht zu gefährden und dies mit dem utopischen Charakter von Forderungen begründen, die angeblich erst nach einer Revolution verwirklicht werden können. In der letzteren Frage können sich übrigens bürgerliche Reformer und Sektierer durchaus die Hand reichen. Auch letztere sind nur zu gern bereit, die Unmöglichkeit der Durchsetzung von Forderungen damit beweisen zu wollen, daß sie auf deren logische Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Rationalität verweisen. Der Klassenkampf duldet jedoch keine Unterordnung unter abstrakte Gedankenkonstruktionen.

Der Klassenkampf ist selbst auf elementarem Niveau, auch in kleinsten Tagesfragen und im Bereich nahezu selbstverständlicher demokratischer Rechte immer mit der Frage der Macht und damit zunächst mit Kräfteverhältnissen verbunden. Sie entscheiden darüber, ob die Bourgeoisie Zugeständnisse macht. Wer von Übergangsprogrammen redet, ohne über die Verschiebung von Kräfteverhältnissen, ohne über Kampfperspektiven und Mobilisierungen einerseits und ohne von politischer Macht andererseits zu sprechen, braucht von einer Übergangsperspektive überhaupt nicht zu reden. Wir wundern uns deshalb darüber, daß Ihr viel von der ideologischen Delegitimation des bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsbegriffs sprecht, aber gar nicht über politische Machtverhältnisse und über faßbare, konkrete Übergangsperspektiven überhaupt nicht redet.

Wir fürchten, daß auch Ihr nicht begriffen habt, daß die zentrale Voraussetzung für die Mobilisierung der großen Masse der Arbeiterklasse für Tages-, demokratische und Übergangsforderungen die ist, daß die Arbeiterklasse die mit diesen Forderungen ausgedrückten Ziele unmittelbar verwirklichen will und daß sie glaubt, daß sie sie verwirklichen kann. Leistet die Bourgeoisie Widerstand gegen die Verwirklichung der Ziele, kann das zur Bereitschaft führen, "Waffenstillstände" im Klassenkampf zu schließen, Rückzüge anzutreten etc. Es kann aber gleichzeitig die Einsicht befördern, sich neue, größere Ziele setzen zu müssen. Die Regierungsfrage als ein Ausdruck der Frage nach der Staatsmacht bzw. der Durchsetzungsmacht steht bereits in nichtrevolutionären Phasen des Klassenkampfs immer wieder im Zentrum der Auseinandersetzungen und damit notwendig auch im Zentrum eines Übergangsprogramms. Propaganda für eine andere, sozialistische Art der Regierung, gegen die reformistische Verwaltung der kapitalistischen Krise, ist ein wichtiges Mittel der Vorbereitung künftiger praktischer Auseinandersetzungen.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch zuallererst, daß sich das Bewußtsein der Arbeiterklasse für das eigene Kampfpotential entwickelt. Jeder Fortschritt auf diesem Gebiet macht den Weg für den Kampf um eine revolutionäre Arbeiterregierung ein Stück breiter und leichter begehbar. Deshalb sind alle Forderungen, die geeignet sind, den Klassenkampf zu entfalten und die ihm Impulse geben, immer Bestandteil eines Übergangsprogramms. Wir wollen am Aufbau einer Partei mitwirken, die sich diese Ziele setzt. Das ist der nächste Schritt.

Vom Sektierertum ins Reich politischer Absurditäten

Es ist bemerkenswert, daß Ihr in Eurer Kritik an ausgewählten Programmabschnitten (Bildung und Migration), denen ihr vorwerft, kein "dialektisches Werk der revolutionären Theorie und Praxis" zu sein, selbst nicht einmal ansatzweise entwickelt, wie denn Eurer Ansicht nach ein solches "dialektisches Werk" aussehen sollte. Ihr könnt erst recht auf kein historisches Beispiel für diese Art "dialektischer Werke" verweisen.

Das ist auch kein Wunder. Weder Jugendliche in der Ausbildung noch Immigranten können isoliert über eine eigene Übergangsperspektive zum Sozialismus verfügen. Zu fragen ist vielmehr erstens danach, welches Interesse die Arbeiterklasse insgesamt am Ausbildungssektor hat, wie sie ihn in ihrem Interesse gestaltet sehen will und in wie weit Auszubildende dafür mobilisiert werden können - was voraussetzt, daß es da Interessenkongruenzen gibt. Zweitens ist bezüglich der Immgranten die Frage zu stellen, wie sie zur Arbeiterklasse insgesamt stehen, für welche Forderungen sich die Arbeiterklasse insgesamt und wofür die Migranten bzw. insbesonders ihr proletarischer Teil (d.h. die überwältigende Mehrheit der Migranten) sich einsetzen sollten.

Eure Kritik läßt aber auch jedes Verständnis für die Einbettung der Teilprogramme in eine Gesamtstrategie vermissen. Hier rächt sich Euer verfehlter methodischer Ansatz in der Programmfrage. Eure Kritik verliert sich in einer Kombination aus sektiererischem Großsprechertum, hilflosem Detailminimalismus und reformerischen Forderungen.

Migration

Im Hinblick auf die Immigration kritisiert Ihr, daß wir sowohl die gesellschaftliche Integration der Migranten befürworten wie auch die Förderung des kulturellen Lebens von nationalen Minderheiten. Ihr bemängelt, daß diese Ziele nicht näher bestimmt sind bzw. nicht erläutert werden. Die Kritik, daß unser Aktionsprogramm keinen Kommentar zu sich selbst enthält, können wir in faktischer Hinsicht akzeptieren. Allerdings hat ein Kommentar dort auch nichts zu suchen.

Als Kommentar hier nur so viel: Soziale Integration bedeutet für uns im Aktionsprogramm zunächst einmal explizit die völlige rechtliche Gleichstellung der Migranten, die Schaffung besonderer Bildungsangebote, kulturelle Freiheit und vor allem der gemeinsame Kampf zur Durchsetzung dieser und anderer Forderungen. Wir richten die Forderung nicht an die Migranten, sondern an den deutschen Staat. Integration bedeutet nicht die Unterordnung unter die deutsche Leitkultur - wohl aber die gebotene Möglichkeit, das kulturelle Erbe der Deutschen kennenzulernen. Mit irgendeiner Form von Multikulti, die wir als bürgerlich-demokratische Form von Apartheid ansehen, hat das ganze nichts zu tun. Wir akzeptieren keine Gruppenselbstbestimmung, die Minderheitsgruppen das Recht zugesteht, ihrerseits unter Berufung auf eine kulturelle Autonomie individuelle Rechte zu beschneiden.

Natürlich wissen wir, daß unter kapitalistisch-imperialistischen Verhältnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit keine, jedenfalls keine vollständige rechtliche Gleichstellung der Arbeitsmigranten mit der deutschen Arbeiterklasse zu erreichen ist. Das gilt erst recht für die soziale und ökonomische Gleichstellung, die wahrscheinlich erst nach der Revolution in größerem Umfang durchgesetzt werden wird.

Aber der Kampf dafür muß heute beginnen. Die von Euch propagierte "Einheit aller Unterdrückten, d.h. die Einheit der migrantischen und einheimischen Unterdrückten" wird nicht dadurch erreicht oder auch nur gefördert, daß die Marxisten den Unterdrückten erklären, deren demokratische Forderungen seien erst in einer Gesellschaft "ohne Unterdrückungsverhältnisse" zu verwirklichen. Es gilt stattdessen, für diese Einheit dadurch kämpfen, daß den politisch besonders Unterdrückten und Entrechten im Kampf für die rechtliche Gleichstellung die Solidarität und Unterstützung der privilegierteren Teile der Arbeiterklasse zu Teil wird. Wenn ihr dagegen die Migranten unmittelbar auf den revolutionären Kampf vertrösten wollt ohne Euch praktisch um deren politische Entrechtung zu kümmern und stattdessen nur von den gemeinsamen Klasseninteressen sprecht, ignoriert Ihr deren besondere oder "doppelte" Unterdrückung auf politischem, rechtlichen und sozialen Gebiet. Das ist angesichts des Umstands, daß auch Ihr von den Migranten als dem am schlechtesten bezahlten, prekärsten und minder qualilifiziertesten Teil der Arbeiterklasse sprecht, völlig unverständlich.

Ihr verlegt dem Kampf gegen die Diskriminierung der Migranten auf allen Ebenen in eine unbestimmte, ferne Zukunft und propagiert den Kampf gegen die "bürgerliche Ideologie in ihren nationalistischen, rassistischen und faschistischen Formen". Das ist doppelt erstaunlich, weil diese Varianten der bürgerlichen Ideologie das alte bürgerliche Ideal der Gleichheit ablehnen und die vorgebliche Ungleichheit gerade als ideologische Rechtfertigung für die imperialistische Unterdrückung der Migranten nutzen. Eurem ideologiekritischen Ansatz läßt sich nur noch bescheinigen, daß er in die idealistischen Traditionen der deutschen Romantik paßt. Die Revolution wird in die Köpfe verlegt. Wo hier das von Euch beschworene "dialektische Werk der revolutionären Theorie und Praxis" bleibt, ist ein unauflösbares Rätsel.

Bildung

Für uns beginnt die Bildung/Ausbildung bereits in der frühen Kindheit. Die Fragen, wie Krippen, Kindergärten, Schulen, Berufausbildung und die Hochschulen zu organisieren sind und welche Inhalte dort vermittelt werden, sind für alle Klassen der Gesellschaft von brennendem Interesse. Sozialistische Politik bewegt sich hier immer im Spannungsfeld zwischen dem (proletarischen) Tagesinteresse an einer Ausbildung, die die Auszubildenden in die Lage versetzt, ihre individuellen Fähigkeiten optimal zu entfalten, ihre Arbeitskraft künftig optimal verkaufen zu können und dem Interesse des Kapitals, schon aus Gründen der kapitalistischen Bildungsökonomie dem Nachwuchs der Arbeiterklasse nur die Kenntnisse zu vermitteln, die für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft unbedingt erforderlich sind. Daneben steht, quantitativ unbedeutend, das Luxusinteresse an der Ausbildung des Nachwuchses der herrschenden Klasse.

Die Beschränkung Eurer Kritik auf die Hochschulen (die in unserem Aktionsprogramm tatsächlich etwas stiefmütterlich behandelt werden) erscheint uns daher im Ansatz fragwürdig.

Euer spezieller Ansatz, Forderungen ausgehend von der Klassenlage derjenigen Auszubildenden zu entwickeln, die zur Finanzierung ihres Studiums selbst arbeiten müssen, ist aber methodisch verfehlt. Er zeigt, daß ihr nicht von einem soziologischen Klassenbegriff ausgeht, sondern den Klassenbegriff nur von der Stellung zum unmittelbaren Produktionsprozeß des Kapitals selbst ableitet. Ein Proletarierkind, ein Proletarier, gleichgültig, ob arbeitend oder erwerbslos, und ein Proletarier im Altersruhestand bleiben jedoch in jeder Lebensphase Proletarier. So haben es auch Marx und Engels gesehen und die Klassenlage definiert als abhängig von der Stellung eines Individuums zum Eigentum (an Produktionsmitteln und Land). Alle anderen Bestimmungen blieben sekundär.

Eure Analyse der gesellschaftlichen Stellung der Auszubildenden läßt aber auch so zu wünschen übrig. Bei der Analyse fehlt die Funktion der Ausbildung der Jungbourgeoisie selbst. Diese bleiben übrigens auch als Jobber Bourgeois. Dann vernachlässigt Eure Analyse das Bedürfnis der Bourgeoisie nach fachlich qualifiziertem, aber ideologisch herrschaftskonformem kleinbürgerlichen Führungspersonal. Dabei geht es um mehr als nur um die Produktion und Reproduktion der bürgerlichen Ideologie. Das Bedürfnis der Bourgeosie trifft sich natürlich mit dem Tagesinteresse von Studenten proletarischer Herkunft an einem interessanten Beruf mit guten Aufstiegsmöglichkeiten. Aber selbst hier, in dieser Sphäre einer tendentiellen Interessenkongruenz , entstehen im Spannungsverhältnis von Bildungsökonomie, kapitalistischer Modernisierung und dem Interesse an optimaler Ausbildung der Studierenden immer wieder Konflikte, die über diesen Rahmen hinaustreiben können. Das Tagesinteresse an besseren Studienbedin-gungen muß deshalb unterstützt werden.

Dagegen eine Politik zu setzen, die Studierende nur als Jobber anspricht, die ihr Studium finanzieren müssen, ignoriert, daß studierende Jobber, die ihre regelmäßig minderqualifizierten Jobs nur als Übergangsbeschäftigung sehen, die mit ihrem letztlichen Platz in der Gesellschaft kaum etwas zu tun hat. Dieser wird durch den Ausbildungsabschluß bestimmt. Selbst die richtige Forderung nach der Bezahlung von Praktika ist eine schlichte (aber richtige) Reformforderung ohne jede Übergangsperspektive.

Ihr kombiniert sie mit den Losungen: "Nieder mit dem bürgerlichen Bildungswesen! Für polytechnische Bildungseinrichtungen!" Das klingt radikal, verbindet aber noch lange nicht, wie von Euch gefordert, den aktuellen Tageskampf der Studierenden organisch mit dem Kampf um den Sozialismus. Ohne Verbindung mit der Regierungs- und Machtfrage handelt es sich schlicht um eine weitgehende Reformforderung. Ohne diese Verbindung handelt es sich aber auch um eine typische reformistisch-utopische Großmäuligkeit ohne jeden realen Bezug auf Durchsetzungsabsichten und damit ohne politische Substanz.

Für Universitäten macht die Forderung nach einer polytechnischen Ausbildung darüberhinaus nur bedingt Sinn. In der Grundlagenforschung macht eine enge polytechnische Anbindung an die Bedürfnisse der Produktion z.B. keinen Sinn. Für die Philosophie, Philologie, die Medizin und die Archäologie läßt sich der Sinn ebenso bezweifeln. Hinzu kommt, daß Wissenschaft im Sozialismus frei von unmittelbaren ökonomischen Zwängen betrieben werden können muß. Das spricht für autonome, selbstverwaltete Universitäten. Hier deckt sich das emanzipatorische Interesse der Studierenden mit dem der Wissenschaftler und Lehrenden an einer freien, von den Zwängen der bürgerlichen Bildungsökonomie ungegängelten Wissenschaft.

Der Kampf um Chancengleichheit in der Bildung scheitert in erster Linie an den Vorgaben der bürgerlichen Bildungsökonomie, die nur auf die Ausbildung der unbedingt erforderlichen Arbeitskräfte abzielt. Die autonome Universität scheitert regelmäßig daran, daß hinter den Zwängen der Bildungsökonomie das bürgerliche Desinteresse an kritischer Wissenschaft steckt. Die Bourgeoisie fördert nicht jede Art von Luxuswissenschaft.

Auf der allgemein propagandistischen Ebene bleibt die Forderung nach Chancengleichheit, die schon an der Frage nach Kindergartenplätzen ansetzt, dennoch bzw. gerade deswegen von großer Bedeutung. Die Arbeiterklasse hat ein elementares Tagesinteresse daran, daß ihr Nachwuchs wenigstens eine Ausbildung erhält, die das Leben in Lohnabhängigkeit erträglich macht. Das gilt übrigens in besonderem Maße auch für Migranten. Eine solche Propaganda und, wo möglich, auch Mobilisierungen für Teilziele, ist sowohl im unmittelbaren praktischen Durchsetzungsinteresse wie auch zur Entlarvung des Klassencharakters der bürgerlichen Bildungspolitik erforderlich.

Wir sehen in diesem Zusammenhang nicht, daß wir damit Illusionen in das bürgerliche Konzept der Gleichheit befördern. Bereits der hinhaltende Widerstand der Boourgeoisie gegen jeden Schritt, die Unterprivilegierungen großer Teile der Arbeiterklasse aufzuheben, sorgt dafür, daß der Arbeiterklasse bewußt wird, daß sie allein Erbin der fortschrittlichen Traditionen der bürgerlichen Revolution ist und daß die heutige Bourgeoisie nahezu auf der ganzen Linie nur noch Reaktion ist. Von Illusionsmacherei kann also keine Rede sein. Ganz im Gegenteil. Wir machen zudem deutlich, daß erst eine Arbeiterregierung entschlossen sein wird, die Chancengleichheit aller Kinder zu verwirklichen.

Andererseits ist die Gleichsetzung von Studierenden mit Arbeitslosen sinnlos. Hochschulen kaschieren die Arbeitslosigkeit nicht. Studierende stehen dem Arbeitsmarkt während ihrer Ausbildung nicht zur Verfügung. Jobs bleiben im Verhältnis zur Ausbildung in aller Regel ein Randphänomen. Die Ausbildungsphase ist zur Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse unverzichtbar.

Unverzichtbar sind auch staatlich organisierte Forschung und Lehre, besonders auf Gebieten, die für Einzelunternehmen nicht rentabel zu betreiben sind. Ideologieproduktion und bildungsbürgerliche Luxusforschung sind Aufgaben der Gesamtbourgeoisie und machen unter einzelkapitalistischer Regie wenig Sinn.

Was setzt Ihr dagegen? Ihr wollt die kapitalistische Ungerechtigkeit nur propagandistisch entlarven, erklärt die Ungerechtigkeit im selben Atemzug für im Kapitalismus unüberwindbar und fordert: "Nicht Chancengleichheit, sondern Chancenungleichheit zugunsten der Unterdrückten und Ausgebeuteten unter den Bedingungen des Kapitalismus!"

Glaubt Ihr wirklich, daß die Durchsetzung von derlei Absurditäten leichter und wahrscheinlicher ist als die Forderung nach Chancengleichheit?

Nachdem Ihr so eine propagandistischen Übergangsforderung durch eine sektiererische Utopie ersetzt habt, die allenfalls Kopfschütteln hervorrufen kann, wendet Ihr Euch den eigenen Tagesinteressen und somit dem reformerischen Alltag zu und fordert, wegen der Sprachschwierigkeiten von Migranten das Recht, Prüfungen häufiger wiederholen zu können als deutsche Studierende. Dafür könnten sich auch Reformisten erwärmen. Aber mit einer Übergangsstrategie hat das ganze nichts zu tun.

Dieter Wilhelmi, Berlin, den 15.02.2007


[1]Die Kritik ist unter dem Titel "Eine Kritik der Marxistischen Initiative" von Autoren der "Bewegung proletarisch permanente Revolution" in dieser Rubrik veröffentlicht.
[2]Leo Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, Essen o. Jhg., S.8
[3]ebenda, S. 33
[4]ebenda, S.7
[5]ebenda, S. 15
[6]s. Lenin: "Die Aufgaben der Revolution": Werke Bd. 26, S. 42-51; und:"Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll", Werke Bd. 25, S. 327-377
[7]Anhang zu Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale, Essen. o.Jhg., S. 45 ff
[8]Grundlagenbroschüre der Bewegung proletarisch permanente Revolution, 2004, S. 33
[9]
[10]In Eurer Grundlagenbroschüre aus dem Jahre 2004 erklärt Ihr auf S. 32, eine leninistische Partei würde dafür sorgen, daß der Kampf um demokratische Forderungen beendet würde: " Hier und in aller Welt kämpfen und sterben Revolutionäre für demokratische Forderungen, (...) weil keine Führung geschaffen werden konnte, die sie den Kampf für den Kommunismus lehrt", und: "Diese Situation wird erst mit der Schaffung der leninistischen Weltpartei (...) beendet". Diese Aussage offenbart eine völlige Unkenntnis des Leninschen Werkes. So schrieb Lenin: "Es wäre ein großer Irrtum zu gleuben, daß der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der sozialistischehn Revolution abzulenken oder auch nur diese Revolution in den Hintergrund zu schieben, zu verhüllen und dergleichen. Im Gegenteil, wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten. Nicht weniger falsch wäre es, einen der Punkte des demokratischen Programms, so zum Beispiel das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, fallenzulassen und zwar auf Grund seiner angeblichen 'Undurchführbarkeit' oder seines 'illusorischen Charakters' wegen in der imperialistischen Epoche." (Thesen über: Die Sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungrecht der Nationen, Werke, Bd. 22, S. 144,145). Und, ganz unmißverständlich, erklärte Lenin: "Der Kapitalismus überhaupt und der Imperialismus insbesondere verwandelt die demokratie in eine Illusion - und zugleich erzeugt der Kapitalismus demokratische Bestrebungen in den Massen, schafft er demokratische Einrichtungen, verschärft er den Antagonismus zwischen dem die Demokratie negierenden Imperialismus und den zur Demokratie strebenden Massen. Der Kapitalismus und der Imperialismus können durch keinerlei, auch nicht durch die 'idealsten' demokratischen Umgestaltungen, sondern nur dürch eine ökonomische Umgestaltung beseitigt werden; ein Proletariat aber, das nicht im Kampf dür die Demokratie erzogen wird, ist unfähig, die ökonomische Umwälzung zu vollziehen." (Antwort an P. Kijewski, Werke Bd. 23, S. 11,14).
[11]ebenda, S. 49
[12]vgl. z.B. Lenin: "Unter Gleichheit verstehen die Sozialdemokraten auf politischem Gebiet die Gleichberechtigung und auf ökonomischem Gebiet, wie bereits gesagt, die Abschaffung der Klassen. Die Gleichberechtigung ist die Forderung nach gleichen politischen Rechten für alle Srtaatsbürger, die ein bestimmtes Alter errecht haben und weder an gewöhnlichem noch an liberal-professoralem Schwachsinn leiden. Diese Forderung wurde zuerst durchaus nicht von den Sozialisten erhoben...". ("Ein liberaler Professor über die Gleichheit", in: Werke Bd. 20, 137,138).